Kevin Kühnert, Fensterbauer

Es gibt in der politischen Debatte eines jeden Landes einen bestimmten Bereich, der tabu ist. In Deutschland zum Beispiel ist es tabu, das Existenzrecht Israels zu kritisieren. Oder die rechtliche Gleichberechtigung von Mann und Frau. Allein das Diskutieren dieser Themen stellt den jeweiligen Diskutanten außerhalb des gesellschaftlichen Konsens', markiert ihn oder sie als "extrem" (egal, welche Richtungsangabe noch vor das Adjektiv kommt), als in feiner Gesellschaft effektiv nicht satisfaktionsfähig. Dieser Tabu-Bereich wird durch einen permenanten Diskussionsprozess in der Gesellschaft, durch Provokation und Zurückrudern, durch Austesten von Grenzen und ostentative Ablehnung permanent definiert, geschärft, verwässert und gestestet. Alles, was innerhalb dieses Tabu-Grenzbereichs liegt, nennt man das Overton-Fenster.
Das Overton-Fenster umfasst alle Positionen, die im öffentlichen Bereich als akzeptabel gelten. Der Green New Deal etwa wird von CDU und FDP erbittert abgelehnt, aber sie akzeptieren ihn als legitime politische Forderung. Umgekehrt gilt die Kopfpauschale jedem Progressiven als Todesstoß für die Sozialversicherungen, ist aber eine Position, die im akzeptablen Meinungsrahmen liegt. Beide Positionen liegen innerhalb des Overton-Fensters. Der namensgebende Politikwissenschaftler, Joseph P. Overton, definierte mehrere Stufen, innerhalb deren ein Diskussionsgegenstand liegen könne:
  • undenkbar
  • radikal
  • akzeptabel
  • sinnvoll
  • aktuell
  • Staatspolitik
Ich möchte kurz einige Beispiele bringen, um klar zu machen, wo diese Grenzen verlaufen.
Undenkbar wäre die Einrichtung von Arbeitslagern für Nicht-Deutsche, wie sie jüngst von der AfD Marburg gefordert wurden. Eine solche Position stellt jemanden so weit außerhalb des Mainstreams, dass sich niemand ernsthaft mit der Forderung beschäftigt. Sie wird rundheraus abgeschmettert; der jeweils Fordernde wird als nicht zur pluralistisch-demokratischen Gemeinschaft gehörig gebrandmarkt. Der Verfassungsschutz sollte zumindest mal einen Blick riskieren.
Radikal wäre die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen von 1000 Euro pro Monat und ersatzlose Streichung der anderen Sozialleistungen. Es ist eine Position, die an den Rändern fast aller Parteien (vor allem LINKE, Grüne und FDP) diskutiert wird, die aber bislang keine nennenswerte politische Unterstützung hat.
Akzeptabel ist eine Forderung, die zwar keine Mehrheit findet, aber eine akzeptierte Minderheitenposition innerhalb einer Strömung darstellt. Die eingangs erwähnte Kopfpauschale oder der Green New Deal fallen darunter. Beide sind in ihren jeweiligen Parteien zwar verbreitet, und jedes Parteimitglied könnte damit leben, wenn sie ins Wahlprogramm kämen, aber niemand rechnet aktuell ernsthaft mit der Umsetzung und die Mehrheit setzt sich für das Ziel nicht ein.
Sinnvoll sind jene Maßnahmen, von denen man zwar der Überzeugung ist, dass es schon gut wäre, wenn man es tun würde, aber was noch große Hindernisse zu überwinden hat. Darunter fallen viele Maßnahmen des Klimaschutzes wie etwa eine CO2-Steuer. Grundsätzlich findet sie viele Anhänger, aber unhinterfragter Konsens und Priorität ist sie nicht.
Aktuell sind Themen wie die Homoehe, die breiten Rückhalt genießen und, anders als sinnvolle Themen, mit Macht auf die Agenda drücken. Diese Themen werden üblicherweise spätestens dann umgesetzt, wenn die mit ihnen identifizierte Partei an die Macht kommt und eine gute Gelegenheit sieht.
Staatspolitik sind solche aktuellen Themen, die umgesetzt wurden und zum Mainstream wurden. Die Westbindung und NATO-Integration etwa wurde unter Adenauer rapide von einer sinnvollen zur aktuellen Maßnahme und dann durch das Bad Godesberger Programm zur Staatspolitik.
Was hat das nun alles mit Kevin Kühnert zu tun? Der Vorsitzende der Jungsozialisten ist ein begnadeter Beweger des Overton-Fensters, ein politischer Fensterbauer ersten Ranges. Ob er auch noch über andere Fähigkeiten verfügt, bleibt abzuwarten, aber seine öffentlichen Auftritte polarisieren ungemein, er hat eine ungewöhnlich große Präsenz in den sozialen und traditionellen Medien und schafft es regelmäßig, in die Schlagzeilen vorzudringen und die Medien zur Beschäftigung mit seinen Thesen zu beschäftigen. Einige Beispiele:
Thorsten Riecke schreibt im des Sozialismus eher unverdächtigen Handelsblatt:
Enteignung=Sozialismus=DDR=Weltuntergang – ist das wirklich alles, was der politischen Elite in Berlin zu den Provokationen eines Juso-Chefs einfällt? Dass viele mit einer ordoliberalen Keule auf Kühnert eindreschen, zeigt vor allem, dass es ihnen mehr um Angstmache als um die Ursachen der seit Langem schwelenden Vertrauenskrise des Kapitalismus geht. Wer angesichts der Wohnungsnot in den Großstädten ein Volksbegehren für die Enteignung von Immobilienkonzernen unterstützt, wird als „Eigentumsfeind“ verteufelt. Wer Großstadtbewohnern die Option geben will, ihr Auto abzuschaffen, führt angeblich einen „Kulturkampf“ gegen des Deutschen liebstes Kind. Wer als Schüler freitags gegen den Klimawandel protestiert, wird als unwissender Amateur verniedlicht, der „die globalen Zusammenhänge“ nicht durchblickt. Angesichts dieser Reflexe darf sich niemand wundern, wenn junge Menschen heute lieber auf die Straße gehen als in die Parteien.
Und Florian Gathmann sekundiert im Spiegel:
Ob es dabei helfen würde, BMW zu kollektivieren, Immobilienbesitz zu regulieren und Arbeit maximal zu individualisieren? Man könnte jedenfalls die Gelegenheit nutzen, darüber zu diskutieren, anstatt alles sofort mit Totschlagsargumenten abzubürsten. Was haben denn CDU, CSU und FDP an eigenen Vorschlägen zu bieten, um diese Probleme anzugehen? Wenig bis nichts. Ähnlich ist es übrigens in der Klimaschutz-Debatte. Nahezu alles, was von den Grünen an Vorschlägen kommt, wird als zu radikal abgetan.
Und DIW-Chef Marcel Fratzscher sagt:
Unsere Marktwirtschaft wird missbraucht. Wer Kevin Kühnert vorwirft, er verlasse den demokratischen Diskurs, steht selbst schon halb draußen.
Uff. Natürlich, wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, deswegen finde ich zu den meisten Themen irgendwelche Artikel auch in Mainstreammedien, die meine Meinung stützen. Das ist kein Beweis für irgendwas.
Und doch.
Neben all dem üblichen Gegenwind, den Forderungen von Juso-Vorsitzenden so auszulösen pflegen, zeigen solche Reaktionen doch, dass Kühnert einen Nerv getroffen hat. Nicht mit der spezifischen Thematik von der Enteignung von BMW; das war eh nur eine billige "Gotcha!"-Falle der Zeit-Journalisten, noch mit der Enteignung der Deutsche Wohnen. Die gesellschaftliche Unterstützung für solcherlei Maßnahmen dürfte sich in einem niedrigen Prozentbereich bewegen, und Kühnerts selbstironisch-lockere Art beim Vorbringen dieser Argumente zeigt, dass es ihm auf das Thema selbst gar nicht ankommt. Kühnert trollt. Das Bemerkenswerte ist nicht, dass über Enteignungen von BMW diskutiert wird; das bemerkenswerte ist, dass Kühnert die Diskussion in den Bereich von "klar, BMW enteignen ist extrem, aber..." bewegt.
Kevin Kühnert, Fensterbauer.
Das Verschieben des Overton-Fensters ist natürlich kein Wert an sich. Ob Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn, Donald Trump oder Victor Orban - Politiker, die von den Rändern ihres jeweiligen Spektrums her operieren, haben die Tendenz, das Overton-Fenster zu verschieben. In der Realität ist dieser Effekt oft genug auch zweischneidig und entspricht gar einer Öffnung: so ist es den Rechtspopulisten gelungen, das Overton-Fenster in den letzten Jahren bei vielen Themen dramatisch nach rechts zu verschieben. Gleichzeitig aber hat der unweigerliche Backlash ihre progressiven Gegenspieler auf anderen Gebieten beflügelt, so dass sich in diesen das Overton-Fenster nach links verschob. Und bei solch komplexen Gemengelagen sind "links" und "rechts" ohnehin bestenfalls Krücken.
All diese tollen Verschiebungen nützen aber nichts, wenn man sie nicht zu nutzen in der Lage ist. Und hier kommt ein häufiges Missverständnis ins Spiel, das man aktuell auch bei den amerikanischen Vorwahlen wieder sehen kann. Dass Kandidaten wie Bernie Sanders eine radikale Forderung wie "Medicare for all" in den akzeptablen Bereich verschieben oder dass andere den "Green New Deal" dorthin bringen erreicht erst einmal nichts. Donald Trump kann davon ein Lied singen: zwar wurde der Bau einer Mauer entlang einer Dreitausendkilometergrenze mit einem Schlag von einer radikalen zu einer sinnvollen Lösung geadelt, aber das allein bringt keine Mauer.
Man sollte stattdessen nicht so sehr darauf schauen, ob die nationalen Parteien das durch die Fensterbauer plötzlich diskutabel gewordene Thema direkt umsetzen. Das ist zwar der feuchte Traum eines jeden Aktivisten, aber es ist eine naive Illusion, die noch fast jedes Mal zusammengebrochen ist, und die Male, wo sie umgesetzt wurde, sind nicht gerade als Sternstunden der Menschheit bekannt. Nein, die eigentliche Wirkung entfaltet sich auf tieferen Ebenen. Wir müssen uns dazu nur die Institution ansehen, deren Vorsitzender Kühnert ist.
Die Jusos hatten ihre brisanteste und radikalste Phase in den 1960er und 1970er Jahren, als sie im Gefolge der 68er-Revolution das Overton-Fenster massiv verschoben. Sie brachten zwar ihre Parteiführung - damals das Triumvirat um Brandt, Wehner und Schmidt - dazu, einige Positionen aufzugreifen, aber das geschah in einer Form, die mit den Forderungen der Jusos wenig gemein hatte. "Mehr Demokratie wagen" ist eben nicht ganz "Diktatur des Proletariats". Die damalige SPD war wesentlich cleverer als ihre heutigen Nachfolger. Anstatt markigem Geschwätz à la Olaf Scholz schickte man damals Helmut Schmidt als Vertreter der Parteispitze auf den Juso-Kongress, wo er einen kompletten Tag lang mit der SPD-Jugend diskutierte.
Schmidt hasste jede Minute davon, was jeden, der etwas über ihn weiß, nicht überraschen dürfte. Warum also sandte man den gegenüber den Jusos wesentlich aufgeschlosseneren Brandt? Im Gegensatz zu dem heutigen Gurkenverein war der SPD damals klar, dass die Jusos ein Asset waren, weil die Verschiebung des Overton-Fensters im Interesse der Partei lag. Sie zwang die FDP, progressive Reformen wie das Betriebsverfassungsgesetz oder die Reform der Sozialversicherungen mitzumachen. Schmidt markierte deutlich die Grenzen dieses Prozesses und signalisierte für die Außenwelt die roten Linien der SPD. Es sandte eine mächtige Botschaft, dass man die Lage unter Kontrolle hatte und die Jusos zwar als Jungbrunnen nutzen wollte, aber eben nicht als Bilderstürmer.
Die Partei war damit sehr erfolgreich. Und gleichzeitig taten die Jusos etwas sehr Kluges, das den meisten dieser Fensterbauer leider abgeht: sie entschlossen sich zum berühmten "Marsch durch die Institutionen". Die Akteure dieses Jugendprotests setzten ihre Forderungen nicht sofort um und erhielten nicht sofort irgendwelche mächtigen Positionen. Aber anderthalb Jahrzehnte später saßen die "Enkel" Willy Brandts an den Schaltzentralen der wichtigsten Bundesländer (und des Saarlands, zugegeben) und machten sich daran, den Mief der Kohl-Ära zu beseitigen und eine neue Phase progressiver Politik einzuläuten.
Ob Kevin Kühnert nur ein Strohfeuer entfacht hat und sich damit in eine lange Reihe kurzfristig auffallender, aber letztlich bedeutungsloser Radikalinskis einreihen wird, oder ob er es schafft, eine neue Generation von Aktivisten zum Marsch durch die SPD-Institutionen zu verpflichten und dem Hashtag #SPDErneuern den Status als Lachnummer abzunehmen, bleibt abzuwarten. Die amerikanischen Progressiven sind uns da, wie so häufig, weit voraus. Und leider auch die Rechtspopulisten, denn anders als die Fensterbauer von links können sie sich immer auf die ungeteilte Unterstützung der Konservativen verlassen, während sich ein Olaf Scholz dümmlich grinsend in der Rolle als Westentaschen-Helmut-Schmidt gefällt.

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