Kevin Kuhn. Liv

Kevin Kuhn. LivDie letzten 100 Seiten gelesen. Fast ohne Pause. Die Finger eiskalt. Der Herzschlag viel zu schnell. Ein entzündetes Gefühl in den Augen. Was würde Livs elektronischer Pulsmesser jetzt sagen?
Atmen. Wasser trinken!
Ich besitze eine solche Smartwatch, wie Liv sie zeitweise trägt, nicht. Hauchdünn und biegsam legt sie sich um das Handgelenk wie eine zweite Haut. So ein Ding würde mir Angst machen, überwacht es doch alles, was man tut und fühlt – ähnlich dem implantierten Chip in Juli Zehs Roman Corpus Delicti. Schließlich weiß ich auch ohne eine solche Smartwatch, dass ich jetzt erstmal einen super starken Kaffee brauche!

Ein verrückt schöner Trip durch die Zeit und über mehrere Kontinente liegt hinter mir. Bin mit Liv, ihrem Smartphone und Tausenden von Followern einmal rund um den Erdball gereist. Stationen dieses Trips waren Israel, Mexiko, die USA, Neuseeland und Berlin. Wir waren in einer Geisterstadt in der amerikanischen Salzwüste und sind da fast verdurstet! Wir waren mit dem kleinen Hund_Fufu auf einer Luxusjacht im Pazifik, wo wir beinahe von einer riesigen Sturmfront verschlungen wurden. Wir waren im Tempelhofer Feld in Berlin. 

Wie kleine Atempausen empfinde ich da die Kapitel mit Franz und seiner Kamera im wilden Berlin des Jahres 1928. Ein Zeppelin über dem Tempelhofer Feld. Klick. Der Ku’damm. Klick. Eine bimmelnde Straßenbahn. Klick. Ein Berliner Ballhaus mit Tischtelefonen und Rohrpostanlage. Klick … Auch wenn diese aus der Ich-Perspektive erzählten Passagen ähnlich turbulent sind, fühlen sie sich weniger hektisch und atemlos an. Denn im Gegensatz zu Liv lebt Franz viel bewusster im Hier und Jetzt. Liv ist geradezu manisch besessen davon, jeden Moment des Lebens mit der Familie, mit ihren Freunden und Followern zu teilen. Dadurch ist sie immer schon im nächsten Moment, nämlich dort, wo ihre Follower das Ereignis mit ihr virtuell erleben werden. Verspürt sie denn nie den Wunsch, etwas ganz bewusst zu fühlen oder einfach mal offline zu sein?
Franz muss, um zu telefonieren, eine Telefonzelle aufsuchen. Um seine Fotos anzuschauen, muss er sie erst im eigenen Labor entwickeln und fixieren.
In wechselnden Kapiteln erzählt Kevin Kuhn von dieser jungen Israeli, die ihr Land verlässt, um dem Militärdienst zu entgehen und von Franz Frey mit seiner ersten Leica im Berlin des vorigen Jahrhunderts. Liv und Franz sind gleichermaßen begeistert davon, zu fotografieren, Informationen zu verbreiten und diese mit Unzähligen zu teilen. Schon nach wenigen Seiten verfalle ich einer eigenartigen Sucht nach diesen zwei Stories, die eigentlich komplett verschieden und doch so gleich sind. Und deren Handlungsfäden am Ende aufeinander zurasen. Was für ein spannendes Konzept!

Schließlich ist da auch noch Elam. Er hat drei Jahre Militärdienst in Israel hinter sich, verlässt seitdem seine verdunkelte Wohnung kaum und liebt Vanille-Eis (das er sich aus irgendeinem Grund nie gönnt). Immer wieder taucht auch er in dieser Geschichte auf. Er war der Auslöser dafür, dass Liv Israel verlässt, bevor ihre Einberufung zum Militär kommt. Nun kann Liv nie zurück und Elam fehlt die Energie, sein Land zu verlassen. Sie sind wie die beiden Königskinder in dem gleichnamigen alten Volkslied, welche das Schicksal auf grausame Weise trennt und denen es nicht gelingt, zusammen zu kommen. Denn der Königssohn kann nicht schwimmen und das Wasser zwischen ihnen ist einfach zu tief.
Auch Liv und Elam sind unwiderruflich voneinander getrennt. Ihnen bleibt als einzige Verbindung das Internet – wo man jeden Moment virtuell miteinander teilen oder aber wundervolle Illusionen von sich und seinem perfekten Leben aufbauen kann.

Kevin Kuhn hat eine berauschend und unglaublich schöne Geschichte über unsere unstillbare Sucht, Informationen miteinander zu teilen, erzählt. Teilweise hatte ich das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen. Doch das allein macht Liv nicht zu diesem unvergesslichen Roman. Das nämlich wird er erst durch eine ebenso überraschende wie außergewöhnliche kleine Liebesgeschichte, die ich weder erwartet habe, noch dass ich darüber hier reden möchte.

Kevin Kuhn. Berlin Verlag. 2017. 492 Seiten. 22,- €



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