Keine Wahl

Von Olekrueger

Freitagabend in Marzahn-Hellersdorf. Die “Frohe Aussicht” ist gut besucht. Hinter der Theke natürlich, wie jeden Freitag (und Samstag) die Karin. Hat sich heute ein Dirndl angezogen. Mit einem tiefen Ausschnitt. Der sorgt für Umsatz. Denkt Karin. Und hat Recht.  Zumindest Paule und Mucki leisten sich heute mal wieder Molle und Korn. Sitzen am Tresen und haben vor lauter Dekolleté-Anstarren ganz vergessen, sich die neusten Storys aus dem Jobcenter zu erzählen. Am Tisch neben der Tür, wo sonst der blinde Rentner mit Mischlingshündin Cindy sitzt, gucken zwei, scheinbar verirrte, asiatische Touristen in die Speisekarte, die ihnen Karin gebracht hat. Handgeschrieben. “Vastehta deutsch? Denn kann icke Euch och sagen, wat heute vonne Küche kommen tut. Schnipo, Bowu, Curry oda Bulette mit Kartoffelsalat. Nich hausjemacht. Dit kann icke mir nich mehr leisten.”

Die beiden Asiaten schütteln den Kopf und zeigen auf die Currywurst, die Manne grad am Nachbartisch mampft und auf das Hefeweizenglas auf dem Fensterbrett, in dem (schon immer, eigentlich. Oder nicht?) drei rote Stoffnelken stecken. “Also zwee ma Curry und zwee Hefe. Bring ick Euch.”
Karin saust hinter die Theke, ruft in Richtung Küche “Harry, zweema Curry mit Pommes” und verschwindet dann hinter dem schweren vergilbten Stoffvorhang, hinter dem sich das Hinterzimmer befindet. Dort sitzen, auch wie jeden Freitag (und das schon seit Mitte der 80er),  die Herren vom Stammtisch Operativer Einsatz: Günter P. (75), Major a.D. des Ministeriums für Staatssicherheit, NVA- Oberstleutnant a.D. Eberhard W. (78),  Herbert K. (71), der alte Führungs-Stratege,  Plattenbau-IM Walter Z. (74) und natürlich Illjuschin (Alter unbekannt, geschätzt Anfang 70), der Kopf der alten Kämpfer.

“Na, wolln die Herren noch ein Ründchen?” fragt Karin und sammelt die leeren Biertulpen ein. “Ja, mach mal, Schätzchen”, sagt der Herbert, “die Runde jeht uff mich.” Die anderen Strategen schauen ihren Kampf- und Weggefährten etwas verwundert an. “Haste im Lotto jewonn? Oda jehts in Urlaub?”, fragt Walter, während er sich Notizen in seinem kleinen Schreibblock macht. Das hat er sich noch nicht abgewöhnen können. Seitdem er in seiner Platte nicht mehr offiziell als IM arbeiten darf und kann, schreibt Z. alles privat auf. Über seine Nachbarn, über die Russen im Haus gegenüber, wann wer mit welchem Auto ankommt und abfährt, wer mit wem sich unterhält. Hier, beim Stammtisch, ist er deshalb zum Schriftführer ernannt worden. Und kann deshalb für fast alle Stammtisch-Treffen sagen, wer wieviel getrunken, gegessen, wer bezahlt hat. Seine Stammtischprotokolle sind  inzwischen mehrere Aktenordner lang. Denn Walter Z. schreibt dann zuhause alles noch einmal mit seiner Erika-Schreibmaschine ab und heftet es ordentlich ab, geordnet nach Namen und Alphabet. Von Computern hält Z. nichts. “Errungenschaften des Imperialismus kommen nicht in mein Heim”, pflegt er zu sagen. Obwohl natürlich auch er Ausnahmen macht. Wie könnte er sonst Opel Astra fahren?

“Nein”, sagt der Herbert. “Ick wollte nur mal ne Runde jeben, um mit Euch nochmal auf unseren erfolgreichen Wahlkampf anzustoßen. Der Osten wählt rot – das haben wir den Parteijenossen doch wieder einmal jut untajejubelt, oda?” Die Stammtisch-Genossen nicken beifällig. “Aba noch is ja nich jewählt”,  mein Eberhard und verteilt die Biertulpen und Körnchen vom Tablett, das Karin (“macht mal selba”) auf den Tisch gestellt hatte.  “Und doch bin icke übazeugt, dass wir die 47,7 Prozentchen von 2009 übabieten werden hier im Bezirk. Und nun erst ma Prösterchen.” Die Genossen halten die Gläser nach alter Tradition mit angewinkeltem Arm ein paar Sekunden fest, schauen sich alle gegenseitig in die Augen (außer Günter, der sieht fast nichts mehr) und kippen dann die Körnchen ex hinunter.

“Nun mal aber ganz im Ernst. Warum seid Ihr so überzeugt, dass wir das Ergebnis von 2009 überbieten werden”, fragt nun Illjuschin, der sonst weniger und meistens gar nichts sagt. “Nun”, beginnt Walter, “wir haben dieses Jahr die Kampagne `Keine Wahl´ gestartet. Und die looft perfekt.” Illjuschin schaut Walter fragend an. “Dit kann Dir Herbertchen bessa erklärn.” Herbert nimmt noch ein Schlückchen Pils, schaut einmal ernst in die Runde und lächelt dann wissend: “Walter hat inzwischen Protokolle über alle, die in seinem Kiez wohnen. Und die meisten haben Dreck am Stecken. So sind wir in den letzten Wochen allesamt von Tür zu Tür und haben den Leuten erklärt: Entweder Ihr wählt Links, oder das eine oder andere sickert bei der Familie, beim Vermieter, beim Ehepartner oder gar bei der Zeitung durch. Ihr habt also keine Wahl. Und damit die uns nicht bescheißen, hatten wir natürlich gleich alle Briefwahl-Unterlagen dabei, die wir in deren Namen vorher schon bestellt hatten.”

“Mhm. Das schein mir mal wieder eine ordentliche Operation zu sein. Erinnert mich an die gute alte Zeit, damals, vor 89.  Glückwunsch Genossen”, sagt Illjuschin. Und: “Die nächste Runde geht auf mich. Ihr habt keine Wahl.”