Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt
Im Moitzfelder „Knabenheim Gut an der Linde“ passierten in den 1970er Jahren ungeheuerliche Dinge. Nun sind neue Dokumente aufgetaucht, die über viele Jahre erschreckende Nachlässigkeiten dokumentieren.
Im Kinderheim Gut an der Linde passierten ungeheuerliche Dinge.Bergisch Gladbach - Vergewaltigungen in der Schlafstube durch Erzieher, Missbräuche der Kinder untereinander, Gewalt und Tabletten zum Ruhigstellen:
Im April 2010 berichtete der „Kölner Stadt-Anzeiger“ erstmals über unfassbare Vorfälle aus den 70er Jahren im Moitzfelder „Knabenheim Gut an der Linde“, einer Einrichtung der bergischen Diakonie Aprath.
Nun sind neue Dokumente aufgetaucht, die über viele Jahre erschreckende Nachlässigkeiten dokumentieren: der Schriftverkehr zwischen dem Heim und dem Landschaftsverband Rheinland (LVR), der damals die Heimaufsicht innehatte, Polizeiberichte, Aussagen von Besuchern und vieles mehr.
Die Dokumente werfen neue Fragen auf. Zum Beispiel, warum jahrelang an erfahrenem und qualifiziertem Personal gespart wurde. Und warum offensichtliche Mängel nicht beseitigt wurden. Und warum die explosive Mischung aus konservativen und liberalen Erziehern zugelassen wurde.
Bis Mitte der 60er Jahre scheint es im Gut an der Linde gut gelaufen zu sein. Ehemalige Bewohner berichten positive Dinge, in einem externen Bericht von 1961 heißt es: „Von der Arbeit wurde ein guter Eindruck gewonnen. Sie ist stark jugendpflegerisch betont.“ Es gibt „Totempfahl, Kaminfeuer und Räuberkeller“. Heute würde man von Erlebnispädagogik sprechen.
Mitte der 60er Jahre schied der alte Heimleiter aus. Mit seinem Nachfolger B. nahmen laut Akten die Probleme zu. 1968 berichtet die Heimpsychologin Dr. L. dem LVR, der Heimleiter arbeite mit fingierten Bewohnerlisten.
Als sie den Heimleiter auf den Betrug anspricht, sagte er ihr laut Akten, die Situation sei für ihn „sehr brenzlig“. Schon zu dieser Zeit klagt Dr. L. gegenüber dem LVR, gut ausgebildete Fachkräfte seien Mangelware, pädagogisch nicht oder nur in Kurzlehrgängen ausgebildete Erzieher hätten Vorrang.
In der verantwortungsvollen Position als Gruppenleiter seien drei Sozialarbeiter im Berufsanerkennungsjahr, ein Heimerzieher im ersten Berufsjahr, ein Heimerzieher mit Kurzausbildung und zwei Beschäftigte ohne Ausbildung im Einsatz.
Die Mitarbeiterin des Landesjugendamtes sieht das ebenso. In ihrem Bericht fällt sie ein vernichtendes Urteil: „Zur Zeit ist kein Erzieher tätig, der die notwendige berufliche Qualifikation und Erfahrung besitzt.“ Trotzdem plant die Diakonie, ein weiteres Gruppenhaus mit 15 Plätzen zu bauen.
Zumindest bei den fingierten Abrechnungen greift die Diakonie durch: Heimleiter B. muss gehen. Anfang April 1970 wird T. sein Nachfolger, damals 26 Jahre alt. Er hat seit wenigen Monaten die Bescheinigung als staatlich anerkannter Sozialarbeiter in der Tasche. Auf dem Papier hat er damit die Qualifikation für die unzweifelhaft nicht einfache Stelle. 40 Jahre später sagt er: „Ich war damals überfordert. Viel zu jung, einfach überfordert.“
Im September 1971 gibt ein Langzeitpraktikant zu, Heimbewohner sexuell missbraucht zu haben (siehe den nebenstehenden Bericht). Ein weiterer Fall lässt die Öffentlichkeit aufhorchen: Eines Morgens verhaftet die Polizei einen Mann aus Gelsenkirchen in dem Heim. Der bekannte Gewaltverbrecher hatte sich in der Nacht zum 7. September 1971 „in ein Schlafzimmer geschlichen und einen elfjährigen Jungen unter Androhung von Gewalt zu unzüchtigen Handlungen gezwungen“.
Aber warum ausgerechnet Moitzfeld? Drei Wochen zuvor hatte der Täter den Jungen am Kölner Hauptbahnhof kennen gelernt, mit in seine Wohnung genommen, missbraucht und mit einem Gewehr bedroht.
Im Mai 1972 möchte die Diakonie für Ordnung im Gut an der Linde sorgen und beantragt, die Zahl der Heimplätze von 57 auf 44 zu reduzieren. Zu spät, denn im Heim geht es bereits drunter und drüber. Immer wieder fallen die Jugendlichen bei Diebstählen in der Stadt auf. Das Kreisjugendamt fragt besorgt nach und aufgrund von Beschwerden der Anwohner diskutiert der Jugendhilfeausschuss der damaligen Stadt Bensberg über die Einrichtung. Konkret unternimmt augenscheinlich niemand etwas.
Eine weitere Entwicklung kommt hinzu: Die „alten“ Erzieher, die nach Berichten einer sehr konservativen Pädagogik nachgingen und öfters handgreiflich wurden, werden nach und nach durch junge Kräfte ersetzt. „Wir Neuen waren kaum älter als einige der Bewohner“, erklärt der ehemalige Praktikant P. rückblickend. „Wir waren absolut billig. Ich bekam 180 Mark, wurde aber wie ein Erzieher eingesetzt.“
Die jungen Erzieher bringen Gedanken der 68er-Bewegung mit. Autorität gilt nichts mehr, partnerschaftliches Auskommen von Heimkindern und Erziehern ist das Ziel. Der Kampf zwischen alten und jungen Erziehern ist programmiert - und mitten drin die Jungen mit all ihren familiären Lasten.
Die neuen Ideen kommen im Heim gut an. Die Zöglinge wählen mit Unterstützung der neuen Erzieher einen Heimrat, der ihre Interessen vertreten soll. Im März 1973 beschwert sich dieser beispielsweise beim LVR über einen Erzieher, der einen ihrer „Kameraden“ mehrfach aus „unbedeutenden Gründen“ geschlagen hat. Die Autorität leidet.
Durch externe Besucher dringt ab und an ein Blick ins Innere des Heims. Anfang 1973 besucht C. ihr Patenkind zweimal im Gut an der Linde. Sie beschwert sich über „mangelnde Sauberkeit (schlimmer als in der Kommune Aachen) und Unordnung, beschädigtes Mobiliar, kaputte Fenster“.
Im April 1973 bringt Maria S., Leiterin eines Kinderhortes, ein Kind in die Obhut des Knabenheims. Es folgen weitere Besuche. Später berichtet sie von „unvorstellbarem Dreck“, die Kinder seien schmutzig und schlampig herum-gelaufen, die Toiletten mit Essensresten verstopft, die Kinder könnten „nach Lust und Laune in die Schule gehen, Hausaufgaben sind keine Pflicht“.
Die Kinder hätten laut diesem Bericht gleiche Mitspracherechte bei Sitzungen wie der Heimleiter selbst. Das Heim werde abends nicht geschlossen, Alkohol sei erlaubt. Rauschmittel würden von den Erziehern geduldet und mit einer Fahrt in die Türkei zum Einkaufen gefördert. Nach mutwilligen Zerstörungen von Gegen-ständen seien vier Erzieher gezwungen worden, falsche Schadensmeldungen zu schreiben, da die Versicherung andernfalls nicht gezahlt hätte.
Anfang Mai 1973 beschwert sich ein Zögling schriftlich, die Jungen kämen „früh um 3 oder 4 Uhr nach Hause“ und kein Mensch kümmere sich darum. „Die Jungen waren entweder auf dem Kölner Hauptbahnhof, um sich dort in gewissen Kreisen Geld zu verdienen oder in einem der vielen Haschlokale, um sich dort den nötigen Stoff zu beschaffen.“ Die Erzieher hätten laut Bericht auf die Vorwürfe mit der Aussage reagiert: „Lasst sie doch machen, was sie wollen.“
Warum greift niemand ein? Es scheint ein zähes Ringen um die Oberhand zwischen den Erziehergruppen gewesen zu sein. Die Liberalen reichen nach eigenen Worten ein neues pädagogisches Konzept für das Heim bei der Diakonie ein. „Das haben die Herren einfach abgelehnt und fast unverändert weitergemacht“, erzählt P. heute. Vier konservative Erzieher wollen die Zustände ebenfalls nicht mehr mittragen und reichen am 19. Mai 1973 ihre Kündigung ein. Als die Heimbewohner davon erfahren, verwüsten sie die Gruppenräume.
Der LVR schickt eine - angemeldete - Heimkontrollkommission. Anschließend eskaliert die Situation. Einige Bewohner greifen Erzieher an. Sie werfen in der Wohnung von Heimleiter T. zwei Scheiben ein, klettern über Leitern hinein und greifen ihn an. T. flüchtet laut der Aussage von Ehemaligen mit einem Sprung aus dem Fenster. Die Polizei traut sich erst mit fünf Streifenwagen zum Heim. Einige Erzieher müssen medizinisch versorgt werden, eine Mitarbeiterin hat einen Schock.
Nach Erzählungen Ehemaliger herrscht anschließend zehn Tage völlige Anarchie in dem Heim. Kinderhortleiterin S. berichtet aus dieser Zeit: Die Jungen liegen „zum Teil auf Matratzen auf dem Dach des Hauses. Auf die Bitte eines Erziehers, Markus (ihr Patenkind, Anm.d.R.) zu suchen, zitierten sie Götz von Berlichingen.
Im Hause selbst lagen die Jungen mitten im Raum nur mit einer verdreckten Unterhose bekleidet auf bloßen Matratzen auf dem Boden.“ Im Waschbecken liegt Rührei mit Zahnpaste, rund um das Haus sind „demolierte Türen, Fenster, Toilettenkörper, Matratzen und undefinierbarer Schmutz“ verteilt.
Weiter heißt es: „In Anwesenheit von »Erziehern« haben die Kinder mehrmals Tiere auf sadistische Weise umgebracht, zum Beispiel einer Katze bei lebendigem Leibe das Fell über den Kopf gezogen und am Baum hängend verbrannt. Alles das wird von den »Erziehern« in diesem Heim geduldet und mit der Notwendigkeit, Aggression abzubauen, entschuldigt.“ S. kommt zu dem Schluss, es sei „nicht tragbar, ein solches Haus mit linksradikaler Führung zu dulden“.
„Die Katze gehörte einer Erzieherin. Die haben uns so viel angetan, da hat sich so ein Hass aufgestaut. Das ist da alles rausgekommen. Ein anderes Mal haben wir die Möbel von einem Erzieher zerhackt“, sagt ein ehemaliger Bewohner. Ein damaliger Praktikant berichtet, er habe bis heute Probleme, das Erlebte zu verarbeiten, so schlimm seien die Zustände gewesen.
Die Kriminalpolizei fasst im August 1973 ihre Erkenntnisse über das Heim in einem Schreiben an das Kreisjugendamt zusammen. Es geht auch um zahlreiche Diebstähle und Sachbeschädigungen. Die Polizei überlegt, „nach Abschluss der Ermittlungen gegen den Heimleiter eine Anzeige wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht vorzulegen“.
Nachdem die unhaltbaren Zustände bekannt sind, muss die Diakonie handeln. Heimleiter T. verlässt Moitzfeld. Zum 1. Februar 1974 kommt sein Nachfolger F. Er erklärte gegenüber dem Kölner Stadt-Anzeiger: „Mir ging es nur noch um eine sozialverträgliche Schließung.“ Leicht ist sein Dienst nicht, da seine Mitarbeiter „hierarchische Strukturen ablehnen“. Gruppenleiter gibt es nicht mehr, verantwortlich ist jeweils ein „Team“.
Nach den Erfahrungen des Mai 1973 werden keine weiteren Kinder mehr aufgenommen. Der LVR schreibt in einem abschließenden Bericht im Januar 1974: „Man einigte sich, die Aufsichtsverpflichtungen der Erzieher mehr zu beachten, auf personelle und organisatorische Änderungen und darauf, zukünftig nur noch 30 Plätze bereitzustellen.“
Langsam wird es ruhiger um das Heim, bis es 1979 endgültig schließt. Was aus den Kindern wurde, bleibt lange im Dunkeln.
Anfang 2010 wenden sich einige mit erschütternden Berichten an den „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Die Überlebenden“, wie sie sagen, denn einige sind inzwischen tot, völlig abgerutscht oder wollen endlich vergessen. Einige wollen eine finanzielle Entschädigung, andere eine „wirklich ernst gemeinte Entschuldigung“. Die von der Diakonie im April 2010 versprochene wissenschaftliche Aufarbeitung der Vorgänge hat bis heute nicht begonnen.
Immerhin erkennt sie die Vorwürfe an. „Das Knabenheim Moitzfeld scheint in den 70er Jahren aus dem Ruder gelaufen zu sein. Das Böse hat sich eingenistet, ist zumindest teilweise Hausherr geworden“, schreibt der Leiter der Bergischen Diakonie, Pfarrer Peter Iwand, 2011. Wenn Vertreter der Diakonie Worte wie „Kindeswohl“ und „Verantwortung“ in den Mund nehmen, können einige Ehemalige ihren Zorn kaum zurückhalten.
Diese Gemengelage macht eine Aufarbeitung nicht einfach. Und dann sind da immer wieder diese stillen, verzweifelten Momente, die einen tiefen Blick in das Leid der Ehemaligen geben. Bei einem Treffen bricht es aus einem unter Tränen heraus: „Mein Leben ist nicht so verlaufen, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich habe 40 Jahre mit diesen Gedanken gelebt.“
Kölner Stadtanzeiger Online 28.03.2011