Kein Mauerfall in den Köpfen

Ich sage immer gerne scherzhaft, dass einen bei dem Nationalcharakter der Deutschen nichts zu wundern braucht, denn alle unsere wichtigen Ereignisse liegen im Herbst, wenn es draußen graut, stürmt und regnet. Was kann aus so einem Wetter schon Gutes kommen? Aber Spaß beiseite, dieses Jahr zeigt sich in den Geschehnissen um den "Gedenktag" des 9. November wieder einmal eine Leerstelle in der BRD auf: ihr fehlt es einfach an einem echten Gründungsmythos, der für irgendetwas steht. Das Feiern des Wirtschaftswunders, das halt auch schlecht auf einen Feiertag eingedampft werden kann, ist nur so halbwegs geeignet. Klar, als fleißig sieht sich der Deutsche gerne, aber Wurst, VW Käfer und Nierentisch als Identifikationsmerkmale herzunehmen ist vielleicht etwas viel verlangt. Einen deutschen Sturm auf die Bastille gibt es halt nicht, und kitischige Mauerfall-Feiern ändern daran wenig. Die BRD hat immer noch ein DDR-Trauma.
Letztlich lebt Deutschland vom Gefühl her immer noch irgendwie in den 1980ern, als man eine kleine, aber aufstrebende Wirtschaftsnation in Europa war. Man ignorierte die NS-Vergangenheit und machte sich daran, das deutsche Wesen in Maschinen und Autos neu zu entdecken. Immer dabei war die Negativfolie "drüben", also der DDR, gegen die man sich immer vergleichen und gut fühlen konnte. Das wurde zwar in der DDR umgekehrt auch immer wieder versucht, gelang aber nur selten. Der schnelle und überraschend widerstandsfreie Zusammenbruch des Ostblocks zwischen 1989 und 1991 wurde von der BRD irgendwie nie richtig verarbeitet. Wie anders ist es zu erklären, dass wir es heute als wichtigste Herausforderung sehen, vor der SED zu warnen? Die Partei ist seit 25 Jahren nur noch ein Schatten ihrer selbst, wo überhaupt noch Kontinuitäten bestehen.
Trotzdem haben wir einen Bundespräsidenten, dessen wichtigstes Anliegen ein Freiheitsbegriff ist, der direkt aus dem Kalten Krieg stammt und sich hauptsächlich darin erschöpft, nicht die DDR zu sein. Und bei einer Gedenkfeier zur nationalen Einheit applaudieren 92% der Anwesenden einem anderen Relikt jener Epoche bei der Ausgrenzung der verbliebenen 8%, anstatt die darauf zu verpflichten, sich ebenfalls in den allgemeinen Konsens hineinzuintegrieren. Schaut her, was wir geschafft haben: die Erben jener Unterdrücker sitzen heute als demokratisch gewählte Abgeordnete in einem gesamtdeutschen Parlament. Es gab keine Gulags, keine erzwungenen Exile, keine Konfiszierungen und keine Morde. So friedlich wurde selten eine Diktatur beseitigt und integriert. Aber alles, was den Leuten eingefallen ist ist es, ein gigantisches Reenactment von 1989 aufzustellen, wie es gefühlt richtig ist: so 8% Bösewichter ("Drachenbrut") und 92% Helden ("Drachentöter"). Im Bundestag findet das Spektakel einer verkitschten Erinnerung seinen Niederschlag, inklusive Hinweis darauf, dass bei Wahlen ja manchmal auch ein Hitler rauskommt, was in dem Zusammenhang zwar nichts zur Sache tut und faktisch ohnehin falsch ist, aber das interessiert zu diesem Zeitpunkt ohnehin niemanden mehr.
Wie Frank Lübberding bereits in seiner vortrefflichen Kolumne erinnert hat, beklagte Frank Schirrmacher bereits 2009 den Rosamunde-Pilcher-Kitsch, der inzwischen den Mauerfall umgibt. Es ist ohnehin merkwürdig, wie leicht es den genuin westlichen Deutschen gefallen ist, den Mauerfall für sich einzunehmen. Obwohl es sich um eine rein ostdeutsche Angelegenheit gehandelt hat reicht für den Rest des Landes irgendwie das Gefühl eines Vulgär-Hegelianismus: irgendwie war man auf der Seite der Geschichte, und dafür kann man sich ja gut fühlen. Aber genau das ist ja der Punkt: es fehlt der BRD immer noch dieser eine Tag, an dem sie sich selbst feiern und sich ihrer selbst positiv vergewissern kann. Der Tag der Deutschen Einheit ist ein Formalakt, auf ironische Weise als deutscher Feiertag auch wieder angemessen, aber nichts, was einen irgendwie begeistern könnten oder der für mehr steht als die Wiedervereinigung, die nun halt auch schon 25 Jahre her ist. Dass Gerhard Schröder seinerzeit ernsthaft vorschlagen konnte, ihn als wirtschaftsfördernde Maßnahme einfach immer auf den ersten Sonntag im Oktober zu legen zeigt seinen Stellenwert.
Aber auch der 9. November taugt nicht so richtig, nicht nur, wie die FAZ feststellt, wegen all der anderen 9. November, sondern auch deswegen, weil der Mauerfall eben vor allem ein negatives Ereignis ist: man wird etwas los, aber man hat deswegen nichts gewonnen. Den Bewohnern der blühenden Landschaften muss das niemand erklären, den alten Bundesländern scheinbar schon. An Norbert Lammert und denen, die seinem Coup zujubelten, wohl ebenfalls. Die Ereignisse, die am 9. November und 3. Oktober gefeiert werden, sind einmalige Ereignisse, die mittlerweile vergangen sind. Aus ihnen sind keine bleibenden Werte oder Einstellungen hervorgegangen, egal wie oft Gauck von der Freiheit schwadroniert. Der Sturm auf die Bastille ist mittlerweile 225 Jahre her, aber die Franzosen feiern neben dem Ereignis auch stets die Entstehung des Bürgers, des cityoen, und seiner Freiheitsrechte. Dasselbe gilt für die Amerikaner, deren Unabhängigkeitserklärungsunterzeichnung bereits 248 Jahre her ist. Unser gerade 25 Jahre altes Ereignis aber hat keinerlei weitere Bedeutung, und die peinlich-bemühten Versuche es mit einer zu füllen scheitern bisher kläglich, wohl auch weil sie von Leuten unternommen werden, in deren Köpfen die Mauer immer noch steht. Dort oben hat es noch keinen Mauerfall gegeben, auf keiner der beiden Seiten.

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