Und er ist der Fotograf, der an Carlos Arredondo dran bleiben wird, an diesem einen Helden, dem Einwanderer aus Costa Rica, dem Mann mit der blutverschmierten US-Fahne und dem Stetson auf dem Kopf. Was sagen die Bilder? Welche Fragen werfen sie auf?
Startschuss im Ziel
Als der Marathon mit einem Knall endet, beginnt der Wettlauf um die besten Bilder. Die Fotografen auf der Ziellinie haben den Finger sowieso am Auslöser. Seit Stunden gehen sie ihrem Brot- und Buttergeschäft nach. Die hier akkreditiert sind, haben sich auf Siegerposen von Volkssportlern spezialisiert. Jetzt jagen sie andere Motive. Youtube-Videos zeigen, wie sie den Opfern entgegen rennen, bepackt mit schweren Objektiven und teuren Kameras.
Blutende, schreiende Menschen auf dem Sidewalk sind ihnen genau so schutzlos ausgeliefert wie der Bombe selbst. In Boston sind die Medien ausnahmsweise mittendrin, keine Polizeiabsperrung, keine Verzögerung. Das Kalkül des Bombenbauers ist aufgegangen. Er hat vielen Menschen weh getan und die ganze Welt ist live dabei. Die Medien im Zentrum des Ereignisses. On Air. Online.
Für die ersten Stunden einer Katastrophe haben Nachrichtenmedien von CNN bis „Spiegel online“ eine neue, kostenlose Quelle. Sie bedienen sich der spontanen Statusmeldungen der sozialen Medien im Internet. Noch bevor ein Fotograf das Teleobjektiv aufschrauben kann, twittern Passanten, bilden sich Facebook-Gruppen, zeigt Instagram ein merkwürdig surreales Abbild des Schreckens.
Es herrscht ein Wettbewerb, den nur die Allerbesten gewinnen können. Wer von Ereignissen wie in Boston Honorarfotos verkaufen will, muss zuerst dort sein und mehr können als Draufhalten. Pressefotografen sitzt dabei nicht nur die Zeit im Nacken. Sie konkurrieren mit Kollegen, was selbst bei Pressekonferenzen in Berlin Raufereien auslöst, und sie haben neue Mitbewerber am Start. Bei Großereignissen stehlen ihnen Handynutzer regelmäßig die Schau. Amateure in der ersten Reihe. Die meisten verzichten auf Geld. Sie tun es für Likes, Retweets und in Situationen wie Boston wohl auch, um zu zeigen: „Ich lebe“. Die Fotos mit Carlos Arredondo zeigen eine größere Botschaft: Amerika lebt.
Darren McCollester zählt nicht zu den Veranstaltungsfotografen, die Erinnerungsfotos für Marathonläufer schießen. Für schmales Geld fotografieren sie stundenlang den Läuferstolz der bleibt und den Schmerz, der vergeht – normalerweise. Als Marathonläufer und Triathlet kenne ich einige von ihnen persönlich. Ich weiß, dass sie nach acht Stunden Marathoneinsatz noch einmal so lange ihre Bilder auswerten. Aussortieren, Startnummern abtippen, ins Internet stellen. Eine Regel ist: Verkaufe den Sportlern ihr Foto solange die Glückshormone im Blut sind. McCollester ist einer, der drauf nicht angewiesen ist. Er kennt den Blickwinkel, in dem man eine Welle an der Hafenmauer inszenieren muss, damit sie zum Titelfoto eines Wirbelsturms wird. Er weiß wie Soldaten und Kinder zueinander im Bild stehen müssen, damit diese schaurige Ästhetik entsteht, die jeden mit dem Kopf schütteln lässt. Er macht einfach perfekte Fotos. Zu perfekt?
Instinkt oder Inszenierung?
Als Zeitungleser und Nachrichtenzuschauer erwarten wir authentische Bilder. Wir tolerieren Qualitätsmängel in der Stunde des Ereignisses. Mit wachsendem Abstand zum Knall steigt der Bedarf an „echten“ Pressefotos. Geliefert werden sie für die Redaktionen von Nachrichtenagenturen wie der New England Press Association in Boston, Massachussets für die McCollester laut Google arbeitet. Seine Bilder aus Boston vermarktet allerdings die Bildagentur Getty Images in New York. So etwas geschieht auf dem Basar der Neuigkeiten blitzschnell. Freie Bildreporter haben ihre potenziellen Abnehmer im Kurzwahlspeicher. Vielleicht ist Boston die Heimatstadt des Krisenfotografen. Der irische Nachname lässt auf die Gegend schließen. Weitere Spekulationen, warum er ausgerechnet zur ärmsten Nachrichtenstunde eines Marathons seine Ausrüstung am Ort hat, sind unnötig. Hier geht es nicht um Verschwörungstheorien sondern um einen für Medien alltäglichen Mechanismus. Das Portfolio des Fotografen zeigt nebenbei auch Sport und ganz sicher ist er vom ältesten City-Marathon ebenso begeistert wie von einem Jazztrompeter oder den Frauen, die er porträtiert. Er kann es eben.
Wir haben das Pressefoto des Jahres 2013 womöglich schon im April gesehen. Das kommt ganz auf die Bildgewalt der nächsten Erdbeben, Wirbelstürme, Kriege und Terrorakte an.
Marathon, Boston, USA, Bombe – das sind die Schlagworte. Blut, Flagge und Stetson die Symbole für Drama, Nation und Freiheit. Das Gesicht gehört dem Helden von nebenan. Carlos Arredondos Geschichte wirkt wie der Plot aus einem Hollywood-Film. Er ist Einwanderer mit Greencard, verlor einen Sohn im Irakkrieg, engagiert sich angeblich in der Friedensbewegung und rettet in der Stunde der Not einem Amerikaner das Leben. Das ist die Story, die wir in der Zeitung lesen, ohne zu wissen, dass einer vom anderen abschreibt. Die Vorleserin der Heute-Nachrichten im ZDF gibt nicht an, woher die Bilder stammen, setzt keine Konjunktive, keine Fragezeichen. Niemand tut das. Dabei ist einiges an dieser Fotostory fragwürdig. McCollester hat augenscheinlich nicht nur Instinkt bewiesen.
Die Uhr auf dem Sidewalk zeigt 16:27 Uhr. Carlos breitet eine mit Opferblut befleckte US-Flagge aus. Der Tatort ist abgesperrt. Die Verletzten sind in Krankenhäuser gebracht. Der Retter schaut erschöpft in die Kamera. Ein Ärmel seines Sweatshirt ist an der rechten Hand ebenfalls blutverschmiert. Er trägt keinen Hut. (Foto ansehen)*
Titelseite der Sächsischen Zeitung am Tag nach den Anschlägen. Eine frühe Aufnahme zeigt den späteren Helden von den Opfern abgewandt. Die Fahne ist noch sauber.
Ein weiteres Foto muss dazwischen entstanden sein. Carlos läuft neben einem Rettungsteam her. Sie schieben einen Schwerverletzten weg vom Unglücksort. Der Stetson sitzt perfekt. Der „Helfer“ tut etwas eigentlich Unnötiges. Er läuft neben den Rettungskräften her. Ein wenig Blut ist an seinen Händen, nicht am Sweatshirt, schon gar nicht am Hut. Die Flagge fehlt.
Wer sie ordnet, erkennt in der Chronologie zumindest die Ambivalenz dieses Helden. Denn es gibt auch Fotos auf denen er unbeteiligt neben schwer verletzten Menschen steht, gleich zu Beginn, kurz bevor er zunächst flieht. (Foto ansehen) Schock? Es ist möglich, dass er sich besonnen hat. Es geht wie gesagt nicht um Verschwörung sondern um die Frage, wie Medien in einer solchen Situation funktionieren. Wir wissen nicht, ob Carlos Arredondo tatsächlich einem Menschen das Leben gerettet hat. Dass der Mann, der beide Beine verlor mit seinem angeblichen Retter bald in Talkshows auftreten wird, das steht allerdings fest. Die Fahne wird dabei sein.
In einigen YouTube-Videos erzählt er sehr aufgeregt, zittert dabei, posiert am Ende erneut mit der Fahne. Kein Stetson. Ich weiß nicht, wann und warum die Fahne mit dem Blut der Opfer in Berührung gekommen ist. Im Augenblick des Anschlags war es jedenfalls nicht.
Wer genau hinsieht, wird noch mehr Details erkennen und weitere Fragen stellen. Arredondo trägt ein Namensschild. Er war nicht nur Zuschauer. Dort wo er das erste Mal auftaucht, helfen US-Soldaten die Sperrgitter wegräumen. Sie gehören zu einer Gruppe Rucksackläufer in Uniform, die sich „Tough Ruck“ nennen. Die Startnummer auf Carlos‘ Brust weist ihn als Unterstützer dieser Gruppe aus. Ein weiteres Symbol taucht in der Rollstuhlszene auf, später aber nicht mehr. Hier trägt er noch eine gelbe Schleife am Pullover. „Yellow Ribbon“ ist das Symbol für Solidarität mit Soldaten im Kampfeinsatz. Das ist nicht per se gleichzusetzen mit der Friedensbewegung. Die Nachrichten tun dies aber. Abgesehen davon halte ich Läufer in Uniform bei zivilen Veranstaltungen für unangemessen. Das kommt neuerdings auch in Deutschland in Mode und löst in mir sehr mulmige Gefühle aus.
Stand-Up Propaganda
Arredondo und der Fotograf, der ihn begleitet, sind ein patriotischer Glücksfall für die Medien. Mindestens das.
Es gibt auch Fotos aus Boston, auf denen Menschen bei tätiger Hilfe zu sehen sind, wie sie Verletzte versorgen, Blutungen stillen, Wiederbelebungsversuche unternehmen. Solche Bilder gibt es von diesem Helden nicht, was nicht unterstellt, dass er untätig blieb. Sie beweisen aber, wie Medien Helden machen. Das Ereignis wird erst durch Symbolik rund, zu der Nachrichteninszenierung, die wir als Leser und Zuschauer erwarten. Die Bilder zeigen auch, dass schon die Aufforderung, eine Fahne wieder aufzuheben, oder sie auszurollen die Wirklichkeit verändert. Dessen müssen sich Journalisten am Schreibtisch ebenso bewusst sein wie am Auslöser einer Kamera mitten im Geschehen.
Wenn das alles ist, dann ist diese Fotostory nur ein Beleg für die Überhitzung, unnötige moralische und emotionale Aufladung eines Ereignisses wie dem feigen Verbrechen von Boston. Dem individuellen Leid gegenüber sind sie schwach und unzureichend. Für die kollektive Erinnerung sind solche Bilder schädlich, denn Boston war kein Angriff auf die USA und ihre Kultur, kein Anschlag auf Stars and Stripes und die Freiheit mit Stetson. Das feige Verbrechen galt all den Menschen, Nationen und Kulturen, die ein friedliches Läuferfest feiern wollten. Das gerät in den Hintergrund. Wie viel Blut dürfen Medien in einer solchen Situation zeigen, ist schnell gefragt worden. Die Gegenfrage ist: Taugen nationale Symbole besser? Erfüllen sie die Aufgabe des Chronisten, tatsächliches Geschehen festzuhalten? Carlos Arredondos Leben wird sich in Boston verändert haben. Freiwillig hat er den Massenmedien und ihren Lieferanten das präsentiert, was sie brauchen, um im Wettbewerb mit Social Networks zu überleben – eine Heldengeschichte, die über die Banalität der bloßen Gewalt hinausgeht.
Sollte sich allerdings herausstellen, dass Carlos und Darren, dass Held und Fotograf in einer Beziehung stehen, sich kannten oder spontan auf einen Nachmittag improvisierter Stand-Up-Propaganda verständigten, dann wäre jedes davon gezeigte Bild ein Medienskandal.
Dass die Story nicht in Frage gestellt wird, ist hinter dem Filter der Nachrichtenagenturen journalistischer Alltag. Dass der Stetson fehlte und das Blut am Helden ungleichmäßig über die Bilder verteilt ist, war der Anlass für mich darüber nachzudenken. Anhand der vielen Bilder von Profis und Amateuren lässt sich der Wahrheitsgehalt zumindest überprüfen. Das ist Sache der Redaktion. In unserer durch Terror und Angst fieberkranken Welt brauchen wir keine Medien, deren einzige Rolle es ist, Verstärker zu sein. Zum unkritischen Retweeten gibt es geeignetere Kanäle.