KATER OSKAR IST OKAY

Von Hillebel
Es soll ja nichts Gutes heissen, wenn einem eine schwarze Katze über den Weg läuft. Tina und ihr Töchterchen Emilie sahen das anders, als sie den abgemagerten Oskar bei sich aufnahmen. Aber plötzlich war ihr Liebling weg …

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“Mami, guck mal!” Tina hatte kaum Zeit gehabt, “Oma” Schweers zu begrüssen, als ihre 7-jährige Tochter Emilie sie schon aufgeregt in den Garten zog.

Frau Schweers, die ihnen folgte, erklärte lächelnd: “In der Hecke nisten Amseln, und ihre Jungen sind gerade ausgeschlüpft.”

Die alte Dame war seit vier Jahren Emilies liebevolle Tagesmutter, denn nach Hannes tragischem Unfalltod arbeitete Tina wieder ganztags als Bankkauffrau. Vorsichtig bog Emilie die Zweige auseinander. Richtig, da war das Nest. Drei kleine Amseln sassen darin und sperrten ihre Schnäbel auf. Entzückt betrachtete Emilie sie, dann versteckte sie das Nest wieder hinter den Zweigen: “Damit die Katzen nicht drankommen”, erklärte sie.

“Apropos Katzen. Oskar wartet sicher schon auf uns”, versuchte Tina ihre Tochter dazu zu bewegen, den Heimweg mit ihr anzutreten. Diese umschlang ihre geliebte “Oma” Schweers, und Mutter und Tochter nahmen Abschied bis zum nächsten Tag.

Gewöhnlich wartete Oskar, ein pechschwarzer Kater, schon hinter der Wohnungstür auf sie. Vor einem Jahr hatte er, keine sechs Monate alt, struppig und abgemagert vor der Haustür gesessen und war mit ihnen ins Haus geschlüpft. Sie hatten ihm zu fressen gegeben und nicht das Herz gehabt, ihn wieder hinauszusetzen. Er erhielt den Namen Oskar, und Tina hatte ihn kastrieren lassen. Oskar benahm sich sehr manierlich. Durch eine Schwingtür konnte er auf den Balkon, wo seine Kiste stand. Er verliess nie die Wohnung oder den Balkon. Dachten sie wenigstens.

Denn heute war er nicht da. Erst am übernächsten Tag erwartete Oskar sie wieder schnurrend hinter der Wohnungstür. Emilie stiess einen Freudenschrei aus und streichelte sein Fell: “Wo warst du bloss? Wir haben uns Sorgen gemacht!”

Sie stellten ihm zu fressen und zu trinken hin, aber er rührte nichts an. Weil er wohlgenährt aussah, nahmen sie an, dass er gut beköstigt worden war. Aber wo? Er konnte nur über den Balkon wieder in die Wohnung gelangt sein.

Von da an verschwand er öfters. Sie versuchten herauszubekommen, wohin er ging, kamen ihm aber nicht auf die Schliche.

Eines Abends kamen Tina und Emilie wie gewohnt nach Hause. Es hatte gerade ein Sommergewitter gegeben, bei dem sich der Himmel völlig verdunkelt hatte, und auf dem Parkplatz des Hauses stand ein Auto, dessen Scheinwerfer noch brannten.

“Das gehört doch dem neuen Mieter, der über uns wohnt”, bemerkte Tina. “Wir sollten ihm Bescheid sagen, sonst ist seine Batterie morgen leer.”

Sie gingen zusammen hinauf. Vor seiner Tür zögerte Tina jedoch. Frank Tammer war vor sechs Wochen eingezogen, schien aber sehr kontaktscheu zu sein. Wenn sie ihm im Haus oder draussen begegnete, grüsste er höflich, aber das war’s dann schon.

Aber eine leere Batterie ist ärgerlich. Also klopfte sie an und rief durch die geschlossene Tür: “Wir sind’s, Ihre Nachbarn von unten. Tina und Emilie Siekmann!”

Er öffnete, und Tina dachte wieder einmal, dass er eigentlich sympathisch wirkte mit seinen freundlichen blauen Augen.

“Ich wollte nur schnell Bescheid sagen, dass Sie Ihre Scheinwerfer nicht ausgestellt haben”, sagte sie.

“Oh, danke. Ich gehe sofort herunter.” Dann meinte er: “Kommen Sie doch einen Augenblick herein, ich bin gleich wieder da.”

Sie warteten in der Diele und wurden von ihm nach seiner Rückkehr ins Wohnzimmer geführt. Auf dem Sessel räkelte sich eine schwarze Katze.

“Lola, sei höflich und mach’ Platz”, forderte Frank sie auf, und die Katze sprang vom Sessel und rieb sich an den Beinen der beiden Besucherinnen.

“Aber … ganz bestimmt: Das ist Oskar”, rief Emilie aufgeregt.

“Ganz bestimmt nicht, Kind!” Emilies Bemerkung war Tina peinlich, und sie fühlte sich bemüssigt, Frank Tammer zu erklären: “Wir haben nämlich einen schwarzen Kater, der Ihrer Lola sehr ähnlich sieht, aber schwarze Katzen sehen ja alle gleich aus.”

“Tun sie nicht”, behauptete ihre Tochter empört. “Das ist Oskar!”

“Emilie, dies ist eine Katze. Sie heisst Lola!”

“Das ist keine Katze. Das ist ein kastrierter Kater”, tat Emilie fachmännisch kund.

Jetzt hob Frank Tammer die Katze hoch und sah genauer hin: “Tatsächlich”, grinste er. “Na so was. Wissen Sie, Lola – pardon, Oskar stand gleich nach meinem Einzug auf dem Balkon. Als ich ihn herein liess, ist er sofort auf den Sessel gesprungen. Seitdem leistet er mir oft beim Schreiben Gesellschaft. Ich bin nämlich Autor für Kinderbücher. Zuerst blieb er nur tagsüber hier, jetzt aber auch manchmal über Nacht. Dann verschwindet er wieder. Natürlich hab’ ich mir schon gedacht, dass er noch ein anderes Zuhause hat, aber ich wusste nicht, welches.”

Lola war tatsächlich Oskar. Es stellte sich heraus, dass er über den Baum, der dicht am Haus wuchs, nach oben gelangte.

Oskar-Lola hatte von nun an zwei Zuhause, und Frank, Tina und Emilie hatten ein Gesprächsthema, wenn sie sich begegneten.

Nach und nach erfuhr Tina mehr über Frank. Er war geschieden, litt noch darunter, dass er seine Frau an seinen besten Freund verloren hatte. Tina erzählte ihm von Hannes. Wie Frank war sie davon überzeugt, nie mehr lieben zu können.

Was sich als falsch herausstellte, denn ein Jahr später standen sie vor dem Standesbeamten, der sie im Beisein von Emilie, “Oma” Schweers und guten Freunden traute. Oskar-Lola empfing sie zufrieden schnurrend an der geschmückten Gartenpforte ihres Häuschens, das sie gemeinsam erworben hatten. Seine Augen waren zu einem zufriedenen Schlitz verengt und schienen zu sagen: “Na, hab ich das nicht gut gemacht?”

ENDE