Auf dem Karthala schlagen die Ornithologenherzen höher
Die Strauchbäumchen heissen philippia montana, sie werden bis acht Meter hoch, auf Gipfelhöhe aber nur noch mannshoch. Die Tierwelt um den Karthala besteht vor allem aus Vögeln. Fünf Arten davon sind endemisch. Grüne kinderfaustgrosse Vögelchen leben ziemlich lokalisiert in einem Revier von 12 km auf 8 km rings um den Kraterrand. Insgesamt leben 56 Vogelarten auf Grand Comore.
Nach sieben Stunden erreichen wir den eindrucksvollen Aussenring des Karthala. Wenn man im kalten Wind hier oben sitzt, hat man das Gefühl, die Erde sei geheizt. Die Bodentemperatur hat 19,1 Grad, die Lufttemperatur liegt bei 13,8 Grad. Das poröse Vulkangestein ist mit Luftlöchern durchsetzt. Mikroskopische Splitter sowie bizarre Lavakiesel könnten das filigrane Werk eines Glaskünstlers sein. Tannennadellange Kristalle bedecken die granitartige Gesteinswüste wie einen weichen Pflanzenteppich.
Die Caldera des Karthala
Die Caldera ist 3500 m lang sowie 2700 m breit. Im Hauptkrater bohren sich zwei weitere Krater in die Erdkruste: der Chahale (der Alte) als tiefes Loch mit einem giftgrünen See sowie westlich davon der Krater des Chagnouméni (der Jüngere, 1918 entstanden). Die Kraterkrone ist nach innen eingebrochen. Trotzdem hat sie den grössten Umfang aller aktiven Vulkane der Welt. In Wellen erstarrte das einst flüssige Gestein im Ausbruchskanal, der Pforte von Itsandra, im Norden des Kronenrings. Wie runde Mäusehaufen ragen die Auswurfpyramiden aus der aschbleichen Ebene. Als Pockennarben erscheinen sie auf den Spot-Luftaufnahmen, die im August 1991 erstellt wurden sowie im Museum von Moroni ausgestellt sind.
Vor uns verbirgt eine wüstenartige, mit Asche bedeckte Terrasse den Krater. Der Vorsprung sieht aus wie ein Tal und ist mit zähen Büschen bedeckt. Aber sogar hier blühen Veilchen, ihr gelbes Gesicht vom Wind abgewandt. Die Lavafelder sind zerbröckelt in fussballgrosse Stücke, die mit einem trockenen Geräusch unter den Schuhen nussgross zerfallen. Ein steiler Abstieg führt zum rund 150 Meter tiefen Vorsprung sowie über feingemahlene Asche zur Kraterschramme des letzten Ausbruchs.
Im 300 Meter tiefen sowie 1300 auf 800 Meter Kraterschlund herrscht Stille. Nur der unbarmherzige Wind faucht aus dem Kessel. Nebel schleichen herauf, die Seitenwände der Felsenschlucht beginnen irreal zu glitzern. Wie ein überdimensionales Geschichtsbuch öffnet sich der Krater: geologische Schichten, Vulkanasche, Schlacke. Nebel zieht auch über die Aussenränder des Grosskraters herein und schwebt in die Tiefe. Wie ein gefährliches Leopardenauge starrt dort unten ein giftig grüner Kratersee herauf. Niemand kennt dessen Tiefe.
Der Kratersee von Chahale kochte im Juli 1991 rot auf, im August hörten die Turbulenzen auf und seither ist er grün. Dieser Eingang zur Hölle scheint nicht von dieser Welt. Links klettern zwei Rauchsäulen hoch. Wind. Nebel. Das Gestein glänzt als hätte sich grauer Reif darüber gelegt. Kein Tier lebt hier. Nicht mal Vögel ziehen ihre Kreise. Inmitten dieser irrealen Welt beginnt man zu glauben, dass hier laut komorischer Legende der Thron des Königs Salomon (oder jeder der Königin von Saba) vergraben sei. Oder, so will es eine andere Sage wissen, ein Geist hätte den Ring des Propheten gestohlen und ihn hier versteckt, worauf sich dieser Krater öffnete. Kein Wunder, dass die Komorer Angst vor dem Karthala haben, denn der 2361 Meter hohe Vulkan verhüllt sich die Stirn um die Mittagszeit und macht sich hinter dem Wolkenkranz unsichtbar bis zum nächsten Morgen.