Kapitel 6 – „Sandkastentod“

Von Melanie Döring @tigger0705


VI.

»Oh mein Gott, Johannes, wie siehst du denn aus? Hattest du Streit in der Boxhalle?«

Danas Schläge waren extrem hart und platziert gewesen. Zusätzlich hatte ihre Nacktheit ihn den ganzen Kampf über irritiert. Zu Beginn versuchte er ihre Angriffe lediglich abzuwehren, doch Geschwindigkeit und Präzision ihrer Treffer waren so überragend, dass sie bald schmerzhaft wurden. Anfänglich schob er ihr leichte Jabs rüber, die zwar keinen Schaden in ihrem furchigen Gesicht anrichteten, sie aber auf Distanz hielten. Dann rief ihm Dana Beleidigungen zu. Und obwohl Johannes wusste, welchen Zweck sie verfolgten und er sich zwang, alle Versager, Schlappschwänze und Pussys nicht persönlich zu nehmen, steigerte er dennoch die Härte seiner Jabs. In dem Moment, als sie ihn mit einem abgehalfterten Ackergaul verglich, traf er sie mit einer steifen Rechten an der Stirn. Sie ging zu Boden und sein erster Reflex war, ihr wieder auf die Beine zu helfen und sich zu entschuldigen. Doch während er sich zu ihr nach unten beugte, traf ihr Fuß ihn zwischen den Beinen. Die Krämpfe zwangen Johannes auf die Knie. Dort angekommen bearbeiteten Danas Fäuste sofort wieder sein Gesicht. Schnell rollte er sich zur Seite, um ihren Schlägen zu entgehen. Langsam richtete sie ihren Körper auf. Während sie triumphierend auf ihn zu kam, entledigte sie sich der Boxhandschuhe, stemmte die Hände in die Hüfte und stellte sich breitbeinig über ihn. Als er seinen Blick endlich von ihrer Scham losreißen konnte, flüsterte er: »Und jetzt … vergib mir.« Dann trat er Dana mit Wucht in die Kniekehle. Sie verlor das Gleichgewicht und ihr Körper sank nach unten. Johannes schnellte nach oben und traf Dana mit seiner Stirn am Kinn, worauf sie nach hinten fiel und mit dem Kopf auf die Matte schlug. Erst dachte Johannes, sie wäre bewusstlos, doch als er sich über sie beugte und die Boxhandschuhe auszog, um am Hals nach ihrem Puls zu fühlen, schlang sie ihre Beine und Arme um ihn. Doch anstatt ihn zu würgen, zog sie ihren Körper dicht an seinen heran und biss ihm zärtlich in die Unterlippe. Als sie anschließend auf seinem Schoß saß und sein Hemd aufknöpfte, hauchte sie: »Test bestanden.«

Marie fühlte vorsichtig über die Blessuren in seinem Gesicht. »Soll ich dir die Salben aus deiner Sporttasche bringen?«
Johannes nahm ihre Hände und zog sie nach unten. »Ich ging davon aus, dass du anrufst, wenn dein Job in Aruba erledigt sei, nicht erst, wenn du an der Kofferausgabe in Frankfurt stehst.«
Marie verzog Mund und Nase. Für ihn war dies ein Warnzeichen, dass etwas Unangenehmes folgen würde.
»Ich hatte neben der Arbeit viel Zeit zum Nachdenken.«
Johannes‘ Grinsen war kühl und erzwungen. »Das ist eine der beschissensten Floskeln, die ich kenne.«
»Hm, beschissen, aber wahr. Franz hat mich gefragt, ob ich nicht in Aruba bleiben wolle.«
»Franz?«
»Franz Vollmer, der Produktionsleiter. Sie haben den Auftrag bekommen, mindestens 24 weitere Folgen der Soap zu drehen, und alle sind von meinen Drehbüchern begeistert. Franz meinte, es wäre effektiver, wenn ich vor Ort schreiben würde.«
Johannes holte zwei Kaffeetassen aus dem Hängeschrank und stellte eine davon unter den Ausgießer der Lavazza. Nachdem er den Startknopf gedrückt hatte, hallte das Raspeln des Mahlwerks durch das Apartment. »Hast du dich entschieden?«
»Nein, denn trotz deiner ‚beschissenen Floskel‘ bin ich zu keinem Ergebnis gekommen. Deshalb hat Franz mir Bedenkzeit eingeräumt und angeboten, eine Limousine am Flughafen zu bestellen, die mich nach Hause chauffieren sollte.«
»Und?« Johannes nahm die Tasse, schob sie Marie über den Küchentresen hin, stellte die zweite unter den Kaffeeautomaten und drückte erneut die Taste.
»Als ich gelandet war, hatte ich mich entschieden.«
»Schläfst du mit ihm?«
Marie zog die Brauen nach oben. »Wir hatten vereinbart, dass sich niemand von uns beiden in der Beziehung gebunden …«
»Ich weiß, worüber wir uns einig waren. Es ist auch kein Vorwurf, nur Interesse.«
»Ich verstehe. Du willst wissen, woran du bist, da du zu einem One-Night-Stand schließlich nur fähig wärst, wenn man dich vergewaltigen würde.« Marie strich ihm zart über eine Blessur. »Soll ich dir nicht doch eine Creme holen?«
»Du lenkst ab.«
Sie patschte nervös auf die Arbeitsplatte der Küchenzeile. »Na gut, ich habe meine Optionen ausgetestet. Aber ich habe vom Flughafen aus dich angerufen und nicht den Fahrer, den Franz bestellt hatte. Bist du jetzt zufrieden?« Ihr Gesichtsausdruck war nun ängstlich in der Erwartung einer Antwort.
»Ja«, war Johannes‘ knappe Erwiderung. Dann holte er seine Sporttasche aus dem Abstellschrank, küsste im Vorbeigehen Marie auf die Wange und nahm seine Lederjacke vom Haken. »Ich schau mal, ob ich eine Revanche für meine Prügel kriege. Wirst du noch hier sein, wenn ich wiederkomme?«
Marie zuckte kurz mit den Schultern. »Ich muss sowieso meinen Jetlag ausschlafen. Das kann ich genauso gut hier machen.«
»Dann reserviere ich für 19.00 Uhr bei Mario.«
»Johannes, du bist der Beste. Nach so vielen Tagen Cajun sterbe ich für Italienisch.«

»Mach‘ heute bloß keinen Ärger, Johnny.« Randy watschelte neben Johannes in die Boxhalle. Dabei schwang er seinen blechern quietschenden Putzeimer in der Hand. »Der Danni ist noch sauer vom letzten Mal.«
Johannes klopfte ihm auf die Schulter. »Ist schon gut, Randy. Heute ist Frieden angesagt.«
»Sagst du, aber der Bux lungert schon wieder mit seinen Kumpels in der Ecke dort herum.«
Johannes schaute zu Paul Bux hinüber, dessen Gesicht noch mit Pflastern und Klammern übersät war. »Geh und sag Danni, es ist alles in Ordnung.« Daraufhin schob Johannes Randy in Richtung des Büros, stellte seine Tasche neben den Sandsack und schlug auf das Sportgerät ein. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Paul Bux ihn wahrgenommen hatte und gemächlich auf ihn zu kam. Johannes tanzte um den Sandsack herum, bis der sich zwischen ihm und Bux befand. Langsam schob sich sein malträtiertes Gesicht in Johannes‘ Blickfeld, der daraufhin seine Übungen einstellte.
»Bist ‚ne linke Bazille, Johnny, aber ein guter Kämpfer.« Dabei nickte Bux so heftig, dass sein Irokesenschnitt an eine Schuhbürste erinnerte, die zackig über das Leder fuhr.
»Willst du eine Revanche?«
Paul schaute sich verstohlen zu seinen Kumpels um, die in einer Ecke der Boxhalle auf das Ergebnis der Unterredung zu warten schienen.
»Wollte einfach nur wissen, ob zwischen uns alles in Ordnung ist.«
Johannes vollführte einen Doppelschlag auf den Sandsack. »Ist es.«
Paul schien erleichtert. »Weißt du, deine Schläge sind nicht sehr hart, treffen aber die Stellen, wo es weh tut.«
»Das ist der Sinn der Sache.«
»Wie ich sehe, haste das letzte Mal den Kürzeren gezogen.« Er zeigte auf Johannes Verletzungen im Gesicht.
»War eine Frau.«
Paul Bux‘ tiefes Lachen dröhnte durch den Raum. Randy ließ vor Schreck seinen Eimer fallen, Danni kam aus seinem Büro gestürzt, Pauls Kumpels reckten gespannt die Köpfe und die Trainierenden ließen von ihren Aktivitäten ab. Johannes spürte, wie sie alle Blicke auf sich zogen. Plötzlich streckte Paul ihm die Hand entgegen. »Diese Frau muss ich kennenlernen.«
Die Atmosphäre im Saal entspannte sich als Johannes die Pranke ergriff. Die Boxer gingen wieder ihren Übungen nach, Randy schnappte seinen Eimer und Danni verschwand schmunzelnd im Büro und schloss die Tür.
»Du hast früher auf Leistung geboxt?« Johannes bedeutete seinem Gegenüber, sich mit ihm auf die Bank neben der Umkleidetür zu setzen.
Paul strich sich über den Irokesenkamm. »Ja, bis zum Meisterschaftskampf, dann ging alles schief.«
»Schlecht trainiert?«
»Von wegen, ich hätte dem die Lichter ausgeblasen, wenn man mich gelassen hätte.«
»Du hast dich für Geld gestreckt?«
Paul schaute sich verschämt um und rückte näher an Johannes heran, bis sein Mund fast in dessen Ohr kroch. »Sie wussten, dass ich ihnen einen Strich durch die verdammte Rechnung machen würde, deshalb haben sie mir was in die Flasche gegeben. Bremsflüssigkeit, wenn du weißt, was ich meine. Das Zeug nimmst du nicht wahr. Aber je mehr du drauf drischst, desto lahmer wirst du, und du merkst es nicht mal.« Während er das sagte, kreiste sein Zeigefinger neben der Schläfe.
»Und wie ging es weiter?«
Paul machte einen grunzenden Laut und stierte danach grimmig auf den Hallenboden. »Danach ist Sense, verstehst‘e? Zum Schmieren zu ehrlich, zum Verlieren zu blöd. Kein Kampf, keine Mücken, jahrelanges Schuften für’n Arsch. Aber das war in den Neunzigern. Ist lange her.«
»Wo kam danach die Kohle her?«
Paul studierte eingehend Johannes‘ Gesicht, als wollte er darin lesen, ob er ihm ein Geheimnis anvertrauen könne. »Hab nix Gescheites gelernt. Also blieb mir das Einzige, was ich, außer Kloppen, noch gut konnte: Dinge herausfinden.«
Bei Johannes kräuselte sich die Stirn.
»Ja, Johnny, hast schon richtig gehört. Ich hab vor nix Schiss, deshalb kann ich schnüffeln und meine Nase in alle Sachen stecken, die mir Mücken bringen.«
»Dann bist du ein Privatdetektiv?«
Paul Bux grölte sein Lachen diesmal in die Halle und schlug dabei seine Hände auf die Schenkel. Dann wurde er ganz schnell wieder ernst und flüsterte Johannes zu: »Nee, kein Firmenschild, keine Sekretärin, kein Büro und kein Sportwagen. Glaubst‘e mir nicht, was?«
»Kann ich nicht beurteilen. Bist du denn gut?«
»Du bist Johannes Wilke, wohnst in Frankfurt im Florentinischen Viertel, aufgewachsen in Hanau. Lehre als Bankkaufmann, aber das war nicht dein Ding. Als das Cagefighten legal wurde, hast du für viel Mücken draufgehauen. Als du älter wurdest, darüber geschrieben und wieder Mücken kassiert. Als du genug hattest, wolltest du es beim Pokern wieder verlieren, hat aber nicht geklappt. Allerdings hat es mit den Mädels wohl auch nicht so geklappt. Dein einziger Silberstreif am Horizont fliegt mit der deutschen Filmprominenz in der Karibik rum. Wenn du so fragst, ja ich bin ganz gut darin, und außerdem will ich gerne wissen, wer mir meinen Arsch versohlt hat.«
Johannes wusste nicht, ob das ein Schock war, der ihn sprachlos machte. Allerdings konnte er sich ein anerkennendes Nicken nicht verkneifen. Er hatte gelernt, Menschen differenziert und mit Abstand zu betrachten und gestand sich ein, bei seinem Gegenüber gut daran getan zu haben. »Bist du noch frei für Aufträge?«
Paul blätterte in einem imaginären Notizbuch herum und stellte danach den Finger in die Höhe. »Dachte mir, dass du Scheiße am Bein hast. Jemand wie du, der schlittert nicht durchs Leben, der holpert, aber dennoch geräuschlos. Ja, ich habe noch Kapazitäten frei. Was soll ich tun?«

Er starrte auf den Spielplatz und war trotzdem keineswegs in der Lage das Gefühl zu beschreiben, welches in ihm tobte. Als Erstes kam ihm die Genugtuung in den Sinn, dass er ihn so in Erinnerung gehabt hatte, wie er sich auf seinem Monitor darbot: die Rutsche, das Klettergerüst, die Bank und der Sandkasten schräg davor. Es gab einen Jägerzaun, für Kinder brusthoch, der den Spielplatz umgab. Die Wand des Moulin Rouge war die einzige andere Begrenzung. Die Pforte bestand aus einer Teppichstange. Sie wurde zwar nie zum Ausklopfen von Teppichen genutzt, dafür aber gelegentlich als Fußballtor, bis das Geräusch der an die Hauswand prallenden Bälle die Anwohner störte, und diese mit dem Hausmeister drohten.

»Komm, Johnny, wir müssen da hoch.« Anni zeigte auf das Querrohr der Teppichstange.
Johannes legte wie ein spähender Indianer die flache Hand an die Stirn und kniff die Augen zusammen, als er in die Mittagssonne blickte. »Wieso? Was ist da oben?«
»Na, das ist die einzige Möglichkeit, über die Schlucht von Raschnapur zu gelangen und der Bande des blauen Tigers zu entkommen, die hinter uns her ist.«
Johannes hatte es noch nie geschafft, das Kletterseil in der Turnhalle der Pestalozzi-Schule weiter nach oben zu klettern, als er sich strecken konnte. Jetzt stand er vor dem Problem, seiner Freundin zu offenbaren, dass er nichts, aber auch rein gar nichts in den Armen hatte. Sie würde ihn bestimmt auslachen. Wenn es ganz übel käme, hätte er als ihr Fahrer und Begleiter ausgedient. Wahrscheinlich wäre der gerissene Helmut Annis erste Wahl für seine Nachfolge. Der blickte schon seit Wochen neidisch zu ihnen herüber und Johannes war sich sicher, dass Helmut scharf auf seinen Posten war.
»Was ist los mit dir? Ich kann die Bande schon hören. Beweg dich.« Während Anni das Johannes zurief, rannte sie an ihm vorbei und sprang so hoch, dass ihre Hände die Teppichstange zu fassen bekam. Sie schwang hin und her wie ein Reckturner und hangelte sich an der Querstange entlang. »Komm schon, oder willst du sterben?«
Johannes zwängte seine Schuhe in die rautenförmigen Öffnungen des Jägerzauns, zog sich dabei an der Längsseite der Stange nach oben, bis die Holzspitzen des Zauns in seine Schuhsohlen piksten. Als er im Begriff war, das Gleichgewicht zu verlieren, reckten sich seine Arme der Querstange entgegen und er sprang. Zwei Dinge passierten gleichzeitig: Die Spitzen des Zauns durchbohrten seine dünnen Schuhsohlen endgültig und er bekam das obere Ende der Pforte zum Spielplatz zu fassen. Johannes wunderte sich, dass seine Arme das Gewicht seines baumelnden Körpers ohne große Anstrengung halten konnten. Er tat es Anni gleich, deren Hände die Stange von links und rechts umfassten und die eine Hand vor die andere setzte, um vorwärtszukommen. Als er auf der anderen Seite angekommen war, ließ er sich erleichtert nach unten fallen.
Annis starke Arme fingen ihn auf und er hatte das Gefühl, als blickte sie mit Stolz auf ihn. »Gut gemacht, Johnny, schau, die Bande des blauen Tigers haben wir abgehängt.
Johannes Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm, und er blickte auf Helmut, der missmutig an der Rutsche lehnend zu ihnen herüber starrte.

Das zweite Gefühl, das Johannes identifizieren konnte, während er auf die Streetview von Paly Root schaute, war Melancholie. Es war eine Zeit, in der die einzige Sorge darin bestand, den Sprung zur Teppichstange nicht zu schaffen. Und wenn einem etwas wehtat, dann die Spitzen eines Jägerzauns, die sich durch die Schuhsohlen bohrten. Es war die Zeit des Wachsens, Lernens und des Entdeckens. Die dritte Empfindung, die Johannes beim Betrachten des Bildes hatte, war Einsamkeit. Erst konnte er nicht begründen, was dieses Gefühl in ihm auslöste, doch dann begriff er. Es waren keine Kinder auf dem Spielplatz. Er schaute auf das eingeblendete Datum. Es war ein Tag im Januar 1966. Natürlich war um diese Jahreszeit der Spielplatz meistens leer gewesen. Aber etwas anders ließ ihn vermuten, dass das Bild unstimmig war. Er verschob den Regler der Zeitachse. Nichts passierte. Als ob dies ein Pausenbild oder Platzhalter wäre. Er erinnerte sich an seinen ersten virtuellen Gang mit Paly Root durch die Altstadt. Die Menschen kamen erst nach und nach auf den Bildschirm. Ihn ließ das Gefühl nicht los, als arbeite das Programm im Hintergrund fieberhaft an der Wahrheit. Der Klingelton seines Handys riss Johannes aus seinen Gedanken und er schaute erschrocken auf das Display und wischte darüber. »Hallo Dana.«

Als Dana ihre Haustür öffnete, stürzte Mozart an ihr vorbei in den Wohnraum. »Du hast Sir Blutwurst mitgebracht?«
»Ging nicht anders. Meine … Freundin Marie ist unterwegs und Moe war noch nicht draußen.«
»Marie, was? Quassel- oder Fick-Freundin?«
»Gibt’s für dich nur Entweder-oder?«
»Zu 99 Prozent, auch wenn der Gefühlsscheiß immer als gefällige Fassade vorgeschoben wird. Komm endlich rein. Wahrscheinlich hat Sir Blutwurst schon ein Chaos angerichtet.«
Mozart saß erwartungsvoll vor dem brennenden Kamin und Johannes konnte nicht die Spur einer Verwüstung ausmachen. Dana trug einen schwarzen, hautengen Hosenanzug mit Schlag. Er war rückenfrei. Nur ein breites Band um ihren Hals schien den vorderen Teil oben zu halten. Johannes schielte zu der Tür, hinter der sich der Gymnastikraum befand, worauf sie kurz schmunzelte und ihm einen Platz auf dem gradlinig designten Ecksofa anbot. Dann setzte sie sich neben ihn und schlug die Beine übereinander.
»Schlossstraße, Ecke Johanniskirchgasse wohnte damals eine Gabriele Wonn mit ihrer Tochter Anneliese.«
Johannes jubelte innerlich. »Einen Vater …«
»…gab es nicht. Frau Wonn war alleinerziehend. Falls es mal einen Herrn Wonn gab, dann hat er nie in Hanau gelebt.«
»Oder unter falschem Namen«, sinnierte Johannes.
»Oder unter einem anderen Namen«, widersprach Dana.
»Ich habe ein Bild von ihm gesehen.«
»Wo?«
»Auf Annis Nachttisch, in ihrer Brieftasche und bei Milo an der Wand.«
»Milo?«
»Eine Kneipe, in der wir uns nach der Schule oft trafen. Das war aber sechs Jahre, nachdem man Anni ermordet hatte.«
»Anni wurde nicht ermordet.«
Diese Worte trafen Johannes wie einen Schlag an den Hals. Es schien, als würde seine Zunge durch die Verkrampfung in seinen Schlund gezogen werden.
Dana stand auf und ging zur Küchenzeile. Sie deutete auf die Jura. »Kaffee?«
Johannes nickte und probierte durch heftiges Schlucken seine verkrampfte Kehle wieder zu entspannen. Als sich seine Zunge wieder bewegen ließ, sagte er: »Milch, keinen Zucker.«
Dana drückte auf den Startknopf und schob eine Tasse unter den Ausguss.
»Willst du damit sagen, ich hätte mir das all die Jahre nur eingebildet?«
»Ich kann dir nur sagen, was ich aus dem Meldeamt weiß.«
Die nächste Frage, die ihm durch den Kopf schoss, war: »Kann es sein, dass sie noch lebt?«
»Oh nein, gestorben ist sie laut amtlicher Eintragung schon. Sogar im Jahr 1966. Halt nicht durch ein Verbrechen, sondern durch einen Unfall.« Dana kam mit der Tasse wieder zurück und stellte sie vor Johannes auf den Vintage-Tisch in Nierenform. »Welcher Art Unfall?«
»Das steht dort nicht.« Sie schielte auf Mozart, der es sich inzwischen vor dem Kamin gemütlich gemacht und seine Lauernder-Frosch-Stellung eingenommen hatte. »Will der auch was?«
»Moe liebt offene Kamine. Glaube, der ist zufrieden.«
»Und, was willst du jetzt tun?«
»So ein Vermerk neben der Wohnungsmeldung passt in das Bild der Verharmlosung und Vertuschung, auf das ich überall treffe. Das macht mich immer skeptischer. Warum sollte man mir sonst eine Botschaft von ihr übers Internet schicken?«
»Was? Und das erwähnst du erst jetzt?« Sie schnellte von ihrem Platz auf und eilte zum Lowboard, auf dem ein Laptop stand.
»Ich wollte damals auf dem Revier den Eindruck meiner Versponnenheit, den du bestimmt hattest, nicht noch weiter schüren.«
»Ja, anfänglich hatte ich den schon.«
»Siehst du, und nachher war keine Zeit.«
Dana hatte inzwischen den Laptop aufgeklappt vor sich auf den Nierentisch gestellt. »Wo finde ich diese Botschaft.«
»Die Seite heißt Friend Care
Dana tippte ein paar Sekunden auf der Tastatur herum, dann schob sie den Computer Johannes hin. »Name und Passwort.«
Als Johannes beides eingegeben hatte erschien sofort ein Pop-Up mit dem Inhalt: Hallo Johannes Wilke, Friend Care vermisst dich. Folgende Freunde haben seit den letzten sechs Monaten dein Profil besucht: Hans-Peter ‚Pepi‘ Kraft und Uwe Scholten.
»Wo ist die Botschaft?«, fragte Dana.
»Sie war hier. Ich konnte auf Annis Profil zugreifen. Darauf war ein Bild zu sehen, auf dem ihre Leiche von ihrem Mörder getragen wurde.« Johannes gab Annis Namen im Suchfeld ein. Nach einer kurzen Pause teilte Friend Care mit, dass die Suche erfolglos war. Danas Blick verriet ihm, dass er gerade seine Glaubwürdigkeit verspielte. Deshalb schloss er die Seite und tippte einen weiteren Suchbegriff in Google ein. Nach einer Weile verfiel Johannes in ungläubiges Kopfschütteln.
Dana zog den Laptop langsam von ihm weg und schaute auf den Bildschirm. Kurz darauf verbogen sich ihre dünnen Lippen zu einem mitleidigen Grinsen. »Warum suchst du nach Paly Root? Was soll das sein?«
Johannes antwortete nicht, sondern hatte sich von Dana abgewandt und starrte über Mozart hinweg auf das Flackern der Flammen im Kamin.
»Warum du auch immer diesen Begriff gesucht hast, gebracht hat er dir Partyloo, eine Firma in England, die Dixie-Klos verleiht.«

Als Marie eingeschlafen war, schob er sich langsam aus dem Bett und schlich an den Laptop, der seit heute Vormittag im Standby-Modus schlummerte.
Sie hatte ihn mit einem Curry überrascht, als er mit Mozart zurückgekommen war. So sehr es ihn auch drängte, nach Annis Profil bei Friend Care zu sehen, und zu überprüfen, ob Paly Root ihm weiterhin das Hanau der Sechziger zeigen würde, so verführerisch war der Duft des Currys und Maries Äußeres. In diesem Moment hatte er nur noch das Bedürfnis, sich ein paar Streicheleinheiten zurückzuholen. Er hatte auch kaum noch an Dana gedacht, die ihn ziemlich bald nach seiner vergeblichen Präsentation der lebenden Anni wieder hinauskomplementiert hatte.
Der Laptop erwachte aus dem Standby-Modus und zeigte immer noch den Spielplatz. Aber Johannes Miene erhellte sich zusehends, als er endlich sehen konnte, was sich heute Morgen bei der Betrachtung falsch anfühlte, er aber nicht begründen konnte. Der Spielplatz hatte sich verändert. Er schaute zur Sicherheit noch einmal auf das Datum. Es war der siebte Januar 1966 und es hatte geschneit. Klar, damals waren die Winter noch echte Winter gewesen und er war jeden Tag mit seinem Schlitten in den Schlosspark gezogen und abends mit durchgefrorenen Händen und laufender Nase wieder nach Hause getrottet.
Das Programm hatte ein paar Stunden gebraucht, um die richtigen Bilder von damals zu finden oder zu berechnen. Johannes wollte nicht spekulieren, wie Paly Root wirklich arbeitete. Er konnte auch nicht entscheiden, ob er die echte Vergangenheit präsentiert bekam, oder ob man sie ihm verfälscht vorgaukelte. Aber er würde das herausfinden.
Johannes klickte auf den Zeitbalken und betätigte vorsichtig das Scrollrad. Am unteren Rand des Kartenausschnitts sah er Autos sich durch den Schneematsch der Metzgerstraße kämpfen. Obwohl sie nur in Ausschnitten zu sehen waren, erkannte er die Modelle von damals. Opel Admiral, DKW, einen Ford Taunus, den sie die große Wanne genannt hatten, und natürlich jede Menge VW Käfer. In diesem Moment vermutete er, dass sein Strahlen dem eines Kindes vor einem Schaufenster voller Weihnachtsspielzeug gleichen musste. Plötzlich hielt er inne. Ein dunkles Etwas war am Spielplatz vorbei hinter das benachbarte Haus gehuscht. Ganz vorsichtig scrollte er zurück. Das Objekt tauchte wieder auf. Es war eine weibliche Erscheinung, die jetzt gebückt rückwärtsging. Er stoppte das Scrollen der Zeit und zoomte tiefer in das Bild hinein. Dann wartete er. Nach einer Weile veränderte sich die pixelige Gestalt und ihre Darstellung wurde schärfer und präziser. Johannes erkannte nun eine Frau, deren Einkaufskorb an ihrem linken Arm einwandfrei auszumachen war. Er war sicher, hier Frau Pirkner zu erkennen, die immer mit dem Hausmeister gedroht hatte, wenn ein Ball durch die Teppichstange an die Hauswand geschossen wurde. Sie war Rubens Mutter, den sie damals rausgeschmissen hatte, weil er mit seiner vierzehnjährigen Kusine Sex hatte, woraufhin er laut Fritzel in der Gruft der Marienkirche hausen musste.
Plötzlich spürte er Maries warme Hände, die sanft seinen Nacken massierten. Schließlich beugte sie sich über ihn, bis ihre Haarspitzen auf seiner Brust kitzelten.
»Was schaust du dir da an?«
»Alte Schwarzweiß-Pornos.«
Marie patschte ihm auf die Platte. »Hatte ich schon erwähnt, dass du unmöglich bist?«
»Mehr als ein Mal. Aber ich muss meinem Ruf ja gerecht werden.« Dann drehte sich Johannes auf seinem Stuhl, schnappte sich Marie und trug ihren strampelnden, nackten Körper durch das weiträumige Apartment. Sie quiekte wie ein kleines Mädchen, als er sie auf Kingsize-Bett warf. Schließlich ließ er sich selbst fallen und landete neben ihr.
Sie strich ihm zärtlich über den kahlen Kopf und schob ein Bein zwischen die seinen. »Die alten Bilder und die historischen Berichte, die du seit Monaten auf deinem Laptop sammelst, und nun die Frau im Schnee. Wen oder was verfolgst du da? Ich meine, seit du das tust, bist du in dich gekehrt und einsilbig. Was quält dich so, dass du ständig auf der Suche danach bist?«
Johannes schaute Marie lange an, ohne ein einziges Mal den Blick von ihr zu nehmen. Er wägte ab, ob sie eine echte Verbündete wäre, oder ob sie ihn auslachen und wegschicken würde, wie das Dana letztendlich getan hatte. Schließlich fasste er einen Entschluss. »Es ist meine Vergangenheit, die mich quält.«
Marie rollte sich auf ihn und liebkoste seine unbehaarte Brust. »Was hast du angestellt? War es was Böses oder gar Schmutziges?«
»Wäre das denn schlimm?«
»Es würde auf jeden Fall meine Fantasie beim Sex anregen.«
»Du bist nicht bei der Sache.«
»Und du rückst nicht mit der Sprache raus.«
Johannes stieß einen Seufzer aus. »Du musst mir aber versprechen, dass …«
»Komm endlich zum Punkt. Sonst prügel ich es aus dir raus.« Dabei unternahm Marie den kläglichen Versuch, mit geballten Fäusten bedrohlich auszusehen.
»Glaubst du, dass sich die Vergangenheit hinter deinem Rücken ändern kann? Dass sie irgendwann versucht, dich zu erreichen, um dir das mitzuteilen?«
»Johannes, was haben diese Kopftreffer in der Boxhalle bloß mit dir angestellt? Du sprichst wie in Anagrammen.«
Johannes‘ Oberkörper schnellte hoch. »Was hast du gesagt?«
»Na, dein Kopf …«
»Nein, das mit dem Anagramm.«
»… dass etwas in deiner Vergangenheit dich extrem durcheinanderbringt und plötzlich wirr sprechen lässt?«
»Was würdest du sagen, ist ein Partyloo?«
Marie legt ihre Handfläche auf seine Stirn. »Also Fieber hast du keins, dann rate ich mal: ein Dixie-Klo für Gartenfeste?«
Johannes sprang aus dem Bett und ging zur Regalwand. Dort schnappte er einen Karton vom obersten Brett und eilte wieder zurück ins Bett. »Hast du Lust nackt Scrabble zu spielen?«
Marie lachte laut los. »Johannes, du bist so ein verrückter Kerl.«
»Wir spielen es heute etwas anders.« Er schüttete den Beutel mit den Buchstaben aus und klaubte sich ein paar der Steine zusammen. Dann legte er sie auf dem Deckel der Schachtel aus, bis sie den Begriff P-A-L-Y R-O-O-T bildeten. Drei weitere Steine behielt er in der geschlossenen Hand.
»Hey, das habe ich vorhin unter dem Bild der Frau auf deinem Laptop gelesen.«
»Genau! So heißt die Software.«
»Ha, jetzt verstehe ich auch dein Dixie-Klo.«
Johannes presste ihre Wangen zusammen, bis ihre Lippen schmollend aussahen. Dann küsste er sie. »Ich wusste, dass du gut darin bist.« Er verschob die Steine, bis sie den Begriff P-A-R-T-Y-L-O-O bildeten, das Wort, das bei Dana so viel Gelächter hervorgerufen hatte und seine Unglaubwürdigkeit besiegelte. »Das ist aber nicht die Lösung.« Er mischte die Buchstaben wieder durcheinander. Es muss eine tiefgreifendere Deutung geben. Eine, die sowohl mir, als auch dir Fragen beantwortet, die wir kaum zu formulieren im Stande sind.
»Ich bezweifel, dass ich das kann.« Sie setzte sich mit gespreizten Beinen hinter ihn und zog seinen Oberkörper dich an ihren heran, bis ihr Mund sein Ohr erreichte. Dann flüsterte sie: »Schließlich weiß ich nicht einmal, wonach ich suchen soll.«
»Ein Begriff, der eine Antwort gibt.«
»Quasi ein Apophthegma.«
Johannes reckte seinen Kopf nach hinten und schaute Marie fragend an.
Sie tippte ihm auf die Nase. »Mein Onkel Heribert, Experte für griechische Philosophie. Oh, wie ich es genoss, in seiner Bibliothek herumzustöbern, während er mir Geschichten und Sagen vortrug. Wie ein Schauspieler stellte er sich manchmal in der Mitte des Raumes auf einen Hocker und rezitierte feierlich mit tiefer, grollender Stimme Passagen aus griechischen Dramen. Dabei lernt man auch, was ein Apophthegma ist, nämlich ein treffendes Wort oder sinnvoller Ausdruck.« Schnell schob sie die drei Buchstaben A, P und O zusammen und stierte auf die verbliebenen Steine. »Mich laust der Affe, du könntest Recht haben«, murmelte sie abwesend. Sie legte den anderen Arm um Johannes und schob die restlichen Spielsteine dahinter.
»Apolytro?«
Marie schien unzufrieden mit ihrem Ergebnis. »Das fühlt sich noch nicht richtig an. Apolytro, so nannte man in der Antike unter anderem die Auslösung eines Sklaven mit Wertgegenständen. Wird aber kaum …«
Da hielt ihr Johannes die Faust hin. »Die Firma heißt eigentlich Paly Root ISS. Frag mich nicht, was ISS bedeutet, aber vielleicht helfen dir die restlichen Buchstaben weiter.« Er öffnete die Hand und zeigte ihr die drei Plättchen. Geschwind griff Marie danach und platzierte sie hinter dem Wort. »Oh Gott, Johannes, jetzt gibt das Wort einen Sinn und ich beginne das Apophthegma zu verstehen.«
»Apolytrosis? Was bedeutet das?«
Sie zog ihn noch näher an sich heran, legte ihren Kopf auf seine Schultern und sagte: »Erlösung.«


Dieses Kapitel ist jetzt auch schon wieder zu Ende. Fortsetzung folgt.

Hier bekommt ihr einen Überblick:

Mel

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