V.
»Was? Sagten Sie Mord?« Die Frau hinter der Glasscheibe schaute Johannes mit einem strengen Blick an. »Warten Sie hier und bewegen Sie sich nicht von der Stelle.«
Der Polizist im Nachbarraum hatte die Worte der Frau vernommen und war in die Pförtnerloge gestürmt. »Ich bin der Wachhabende. Was ist hier los? Habe ‚Mord‘ gehört.«
Die Pförtnerin rollte auf ihrem Stuhl nach hinten, um dem Beamten Platz zu machen. »Der Mann hier will einen Mord melden.«
Johannes schaute sich peinlich berührt um und ihn empfingen die neugierigen Blicke der Wartenden hinter ihm. Die wiederum hielten respektvollen Abstand, da Mozart wie ein toter Frosch neben Johannes lag, damit den Eingang zur Polizeistation versperrte und mit hochgezogener Stirn die Menschenansammlung betrachtete. »Hören Sie, ich will keinen Mord melden, sondern würde gerne in die Untersuchungsakten eines Mordes einsehen. Ist das möglich?«
Der Gesichtszüge des Wachhabenden änderten sich und drückten nun aus, wie lästig die vorhersehbare Prozedur für ihn sein würde. »Warten Sie, da muss ich mit dem Dienstgruppenleiter sprechen. Nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Man wird sich dann um Sie kümmern.«
Johannes trat durch die Glastür in einen Warteraum neben der Pförtnerloge. Er konnte die Erleichterung der wartenden Menschen spüren, als Mozart aus seiner Lauerstellung aufsprang und ihm durch die Tür folgte.
Gestern Abend hatte er gegen die Betäubung durch den Whiskey angekämpft, denn aus einem Glas waren vier geworden. Trotzdem hatte er nicht im vollen Umfang begreifen können, was er auf dem Monitor des Laptops zu sehen bekam. Wenigstens konnte er nach einigem Herumprobieren feststellen, dass vor 1966 die Karte wieder zu der aktuellen Ansicht zurückkehrte. Das ‚neue‘ Hanau präsentierte sich wieder in Farbe, auf dem Freiheitsplatz prangte das Einkaufszentrum und die Schlossstraße hieß Graf-Philipp-Ludwig-Straße. Es war lediglich die Einstellung für das Jahr 1966, die Hanau in Schwarzweiß und den Details von damals erschienen ließ. Aber es waren auch nicht alle Flächen mit den alten Aufnahmen abgedeckt. Oft gab es bunte Lücken, die Fragmente der modernen Darstellung zeigten. Als Nächstes verwirrte ihn die Tatsache, dass sich auch diese farbigen Abschnitte, je länger er mit seinem Ampelmännchen durch die Straßen streifte, in historische Ansichten wandelten. Er hatte es erst dem Whiskey zugeschrieben, dass aus Leslies Gitarrenladen nach dem dritten virtuellen Gang durch die Marktstraße die alte Metzgerei Giegerich geworden war. Doch dann entdeckte er, dass während seines Besuchs auf der Seite immer häufiger bunte Flecken verschwanden und die Stadt sich mehr und mehr in das Hanau von 1966 verwandelte. Die anfangs verschwommenen Gesichter der Passanten nahmen im Laufe des Abends vereinzelt konkretes Aussehen an.
»Sind Sie der Mordfall?«
Johannes erschrak. Die Frau in der Tür machte einen genervten Eindruck. Sie kaute gelangweilt auf ihrem Kaugummi herum und wedelte hektisch mit ihrer Hand. »Na, dann kommen Sie schon und sagen Sie der wandelnden Blutwurst, sie soll sich benehmen.«
Mozart sprang mit unschuldiger Miene von seinem Platz auf und glotzte die Frau an. Diese streckte Johannes die Hand hin. »Oberkommissarin Stein.« Ihr Griff war kurz und fest. »Hier entlang.« Sie zeigte auf einen Korridor, der in die Mitte des Gebäudes führte. Ihr schlanker Körper wurde durch eine enge Jeans, Schuhe mit hohen Absätzen und eine hellblaue Slim-Fit-Bluse betont. Die sich unter der Kleidung abbildenden Muskeln zeugten von regelmäßigem Training. Ihr Gesicht wirkte im Gegensatz zu ihrem Körper verlebt und faltig, auch wenn ihr schwarzes, in wilder Pracht zurückgekämmtes Haar noch keine grauen Stellen aufwies. Auf Johannes übte dieser Anblick zusammen mit der ledernen Bräune ihres Teints und der geknickten Nase, die einem Nick Knatterton alle Ehre machte, eine faszinierende Anziehung aus.
Ein Mann stürmte fluchend an ihnen vorbei. Es war mit Brösel und Sahne in Gesicht, Haaren und auf dem Anzugjackett verschmiert. »Das bekommst du zurück, Stein. Das schwöre ich dir.« Dann verschwand er hinter der Toilettentür.
Johannes‘ Neugierde überflügelte den Respekt vor Frau und Titel. »Ein Verdächtiger?«
»Nein, ein Kollege.« Sie stieß eine Tür auf, hinter der Johannes ein Schwall aus Schweiß, Sekt und Orangensaft empfing. Aus einem Sideboard, dessen Schiebetür zum Teil geöffnet war, schauten mit Aktenzeichen beschriftet Ordner hervor. Auf dem Board standen jede Menge leerer Sektflaschen und zwei geöffnete Orangesaftpackungen. Den Tisch in der Mitte des Raumes zierten die Reste einer Torte. Allerding sah sie nicht aus, als wäre sie ordentlich angeschnitten worden. Vielmehr als hätte ein Meteorit einen geeigneten Landeplatz gefunden. Die Teller und Gabeln daneben sahen noch unbenutzt aus.
»Es gab eine kleine Feier mit einem überraschenden Ende.« Der Tonfall der Oberkommissarin klang eher genervt als entschuldigend. Wollen Sie ein Stück?«
»Nein danke, ich vermute, der Kopf Ihres Kollegen hatte den Platz schon belegt.«
»Die Wurst da unten vielleicht?« Sie deutete auf Mozart.
Johannes atmete tief durch. Dann schüttelte er den Kopf. »Ist auf Diät.«
Ein kurzes Zucken der Mundwinkel war das einzige Zeichen ihrer Erwiderung. Sie deutete auf den Stuhl vor einem Schreibtisch in der Ecke und setzte sich selbst dahinter. Hastig sammelte sie ein halbes Dutzend weißer Plastikbecher ein, die sich darauf befanden, und warf sie in den Papierkorb. Das änderte allerdings nichts an dem Chaos auf dem Tisch. Unzählige Papiere, Ordner, Schreibutensilien, Fotos und privater Schnickschnack belagerten den Monitor, der aus dem Wust herausragte. Keyboard und Maus waren nicht zu sehen.
»Hat jemandem ihr Kuchen nicht geschmeckt?« Johannes deutete auf den runden Tisch in der Mitte des Raums.
Oberkommissarin Stein zog aus dem Chaos auf ihrem Schreibtisch zielsicher einen Notizblock und einen Stift heraus.
»Um welchen Mord geht es?«
Johannes Gesichtszüge wurden ernst. Er schloss die Augen und dachte intensiv nach. Noch konnte er irgendeinen Unsinn erzählen und würde vielleicht unbehelligt aus der Sache rauskommen. Schilderte er aber die Wahrheit, so wie er sie verstand, dann würde er in die Maschinerie der Justiz eingesogen werden. Er zählte die Sekunden. Bei acht öffnete er die Augen wieder und sagte: »Anneliese Wonn.«
Stein, die mit dem Radierer des Bleistifts auf eine freie Stelle der Schreibtischplatte klopfte, schaute nun Johannes interessiert an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ist mir nicht geläufig. Wann soll der Mord passiert sein?«
»1966. Glaube ich jedenfalls.«
Die Oberkommissarin führte den Bleistift gemächlich zum Mund. Den Blick starr auf Johannes gerichtet strich sie mit dem Radiergummi über ihre Lippen und beugte sich nach vorne. »Es war Kovaleks Kuchen. Er hatte ihn für mich beim Café Schien bestellt.«
»Wer?«
»Kovalek, der Kollege, dem wir auf dem Gang begegnet sind. Er dachte, es wäre irrsinnig witzig, die Jahreszahl darauf aufzurunden.«
»Lassen Sie mich raten: Sie fanden es gar nicht witzig. Deswegen landete sein Gesicht darin und die anderen Gratulanten haben fluchtartig Ihr Büro verlassen.«
Stein nickte grinsend. Dabei wippte der Stift zwischen ihren Zahnreihen rauf und runter und machte ein klackendes Geräusch. Dann zogen sich ihre Mundwinkel schlagartig nach unten. »Sehen Sie, genau das spiegelt meine Stimmung wider. Und jetzt frage ich ein letztes Mal: Welcher Mord soll wann passiert sein?«
Johannes hätte lieber die Wahl gehabt zehn Runden mit Paul Bux im Boxring zu verbringen, als dieser Beamtin weiter gegenüber zu sitzen. Doch Flucht war keine Alternative. »Hören Sie, ich war damals zehn Jahre alt. Anni Wonn war meine Freundin und eines Tages war sie meine tote Freundin, weil irgendein Monster ihr eine spitze Blechschaufel in den Rücken gestoßen hatte. Das Ganze ist auf dem Spielplatz in der Metzgerstraße passiert. Und falls Sie jetzt Spaß daran haben weiterzufragen und versteckte Drohungen dabei zu formulieren: Nein, ich war während der Tat nicht anwesend. Nein, es war nicht meine Schaufel. Nein, ich bin damals nicht befragt worden. Ich habe das Opfer auch nicht gefunden. Alles was ich weiß, habe ich aus der Zeitung, die mir mein Bruder damals vorgelesen hat. Dieser verdammte Anzeiger, dessen Ausgaben von 1966 allesamt verschwunden sind. Genauso wie mein Verstand gerade beginnt sich zu verflüchtigen, weil ich seit 50 Jahren versuche, diese Tat zu verarbeiten und das Gefühl habe, dass hier ein riesiger Topf Scheiße seit jener Zeit am Köcheln ist.« Johannes wurde plötzlich gewahr, dass er die letzten Worte über den Schreibtisch gebrüllt hatte und hob beschwichtigend die Hände. »Hören Sie, es tut mir …«
»Nein, schon gut.« Der Tonfall der Oberkommissarin glich dem gekünstelten Singsang einer Therapeutin, die ihren Patienten ermutigt, mit seiner Beichte fortzufahren. »Sie sagen, der Anzeiger sei verschwunden. Sie meinen den Hanauer Anzeiger?«
Johannes rollte die Augen. »Nur die Ausgaben von 1966. Machen Sie sich überhaupt Notizen?«
»Nein. Das kommt daher, weil ich Ihnen fasziniert zuhöre.«
Er warf resignierend den Kopf in die Hände. »Sie halten mich für kirre, stimmt’s?«
»Wohl kaum. Ich weiß nur nicht, was Sie von mir wollen.«
»Ich hätte gerne Einblick in die Polizeiakte von damals. Es muss doch einen Beweis für diese Tat geben, irgendeine Spur, die man verfolgt hatte. Hinweise, Verdächtige, ein Motiv.«
»Sie sagen, der Mord wurde niemals aufgeklärt?«
»Das habe ich nicht behauptet. Meine Freundin Anni habe ich nie mehr gesehen, die Zeitungsberichte nie weiter verfolgt, und jetzt ist alles wie ausradiert.«
Die Oberkommissarin warf Block und Stift in das Durcheinander auf dem Schreibtisch und kramte ein zerknittertes Formular aus einer geöffneten Schublade hervor. Nachdem sie es auf ihrem Oberschenkel andeutungsweise glattgestrichen hatte, reichte sie das Papier Johannes. »Ausfüllen und Ihren Ausweis.« Ihre Hand winkte in der Luft herum und gaben ihrer Forderung eingehend Nachdruck.
Nachdem Johannes seinen Ausweis Oberkommissarin Stein gegeben hatte, las er das Formular durch. Es verlangte seine persönlichen Daten und eine Begründung zur Einsicht in die Akten der Behörde. Mit einem großen Seufzer zog er einen Kuli aus seinem Jackett. Er beobachtete die Kommissarin, die Maus und Tastatur unter dem Wust auf ihrem Tisch herausgegraben hatte und nun mit flinken Fingern darauf herumtippte. Mehrere Male erwischte er sie dabei, wie sie ihren Blick auf ihn richtete und dabei ein Schmunzeln erkennen ließ. Schließlich widmete er sich dem Formular.
»Morgen brauchst du deinen Ausweis, Johnny.«
Johannes schaute Anni verwundert an. »Warum denn das in aller Welt?«
»Wir müssen nach Karambuchistan.«
»Wohin? Nach Karambaland?«
»Nein!« Anni bog sich vor Lachen. »Du Dummkopf! Das heißt Karambuchistan und liegt unter der Wüste Gobi.«
»Hä? Unter der Wüste. Bist du sicher?«
»Bin ich. Der Eingang ist zwischen zwei Felsen, die wie Gorillas aussehen. Unter einer Falltür führt eine Treppe zur Passkontrolle. Du brauchst deinen Ausweis.«
»Ich weiß aber nicht, ob ich einen habe. Da muss ich meine Mutter fragen. Was machen wir denn da unten in Karamba …«
»Karambuchistan. Professor Einhorn wurde mit seiner neusten Erfindung dorthin entführt. Man will ihn und den Spinnensprinter, den er gerade fertiggestellt hat, auf dem Basar von Karambuchistan an den Höchstbietenden verkaufen.«
Johannes machte eine überraschte Geste, wobei er den Mund aufriss und mit beiden Handflächen auf seine Wangen patschte. »Ein Spinnensprinter? Der ist bestimmt schneller als unsere Limousine.« Er schaute mitleidig zu dem Klettergerüst.
»Bestimmt, aber er kann nicht fliegen. Also wir treffen uns morgen um vier bei Milkes. Und vergiss deinen Ausweis nicht.«
Johannes schaute in Annis verschmitzt grinsendes Gesicht. »Ja, der Ausweis. Ich war mit meinen Eltern vor ein paar Jahren in Italien. San Mario, oder so.«
»San Marino«, verbesserte Anni.
»Sag ich doch. Hast du denn einen Ausweis?«
Stolz klappte Anni eine lederne Brieftasche auf, die sie aus ihrer Gesäßtasche gezogen hatte. Auf der einen Seite prangte hinter einer Plastikhülle ein graues Stück Papier. Was darauf stand konnte Johannes nicht entziffern. Dabei waren es nicht die Worte, die er nicht erkannte, sondern die Zeichen, aus denen sie bestanden. Solche Buchstaben hatte er noch nie gesehen.
»Bist du eine Außerirdische?« Johannes deutete auf die Hieroglyphen. »So schreibt man bestimmt dort, wo Godzilla herkommt.«
»Das ist hebräisch, Dummkopf. Kein Japanisch.«
»Dann bist du keine Deutsche?«
»Doch.« Anni lachte und schaute in Johannes verdutztes Gesicht. »Aber mein Papa kommt von da.«
»Ist er das?« Johannes zeigte auf das Porträt des Mannes hinter dem Plastik auf der anderen Seite der Brieftasche.
Anni nickte.
»Den habe ich auch in deinem Zimmer neben dem Bett auf dem Nachttisch gesehen.«
Wieder nickte Anni.
»Dachte, du und deine Mutter, ihr wärt allein.«
»Sind wir auch. Mein Papa ist trotzdem immer da, sagt Mama.«
»Versteh‘ ich nicht.«
Annis zeitweilig trauriges Gesicht erstrahlte plötzlich wieder. »Weil du ein Dummkopf bist, Johnny.« Sie verstaute die Brieftasche wieder in ihrer Hose und rannte vom Spielplatz in Richtung Johanneskirchgasse. Kurz bevor sie um die Mülltonnen aus Johannes‘ Sichtweite geriet, rief sie ihm zu: »Morgen um vier bei den Milkes. Und vergiss deinen Ausweis nicht.«
»Hier, Ihr Ausweis.« Stein fuchtelte vor Johannes‘ Nase mit dem Plastikkärtchen herum. »Sie haben eine sehr interessante Vergangenheit, Herr Wilke. Cagefighter, Schriftsteller, Pokerspieler. Sie haben sogar einen ziemlichen Batzen letztes Jahr in Aruba abgestaubt. Respekt!«
»Das haben sie alles dem Polizeicomputer entnommen?«
»Quatsch, von Google. So rückständig sind wir auch wieder nicht. Während Sie minutenlang sinnlos auf das Formular starrten, habe ich mich schlaugemacht.«
»Was ist mit meinem Anliegen?«
»Was ist mit meinem Formular?«
Johannes reichte ihr das Papier. »Ich hoffe, es ist vollständig. Hatte leider kein Google zur Verfügung.«
Oberkommissarin Stein verzog das Gesicht und überflog das Formular. »Ich sehe allerdings keinen Grund, der Ihnen das Recht gibt, in irgendwelche Akten zu schauen. Sie sind kein Anwalt oder Justizbeamter.«
Johannes schalt sich einen Dummkopf, dass er erwartet hatte von der Hanauer Polizei Hinweise zu Annis Mord zu bekommen. Eher würden sie ihn mit dem Verbrechen selbst in Verbindung bringen. Auch wenn er damals erst zehn Jahre alt war. »Sie haben Recht. Das war unüberlegt von mir. Wissen Sie was? Zerreißen Sie das Formular. Ich habe genug Zeit verplempert. Vielen Dank für Ihre Mühe.«
Als er aufstehen wollte, bedeutete Stein ihm, sich wieder zu setzen. »Mordakten werden nicht geschlossen, und diese hier kann ich am Computer nicht finden. Mein Interesse ist geweckt.«
»Wer garantiert Ihnen, dass ich das alles nicht erfunden habe.«
»Wie sie schon sagten, sind Sie keineswegs hier, um Ihre Zeit zu verplempern.« Stein musterte Johannes über ihren Schreibtisch hinweg und klopfte mit dem zusammengerollten Formular auf der Tastatur herum. »Kennen Sie den Rothen Löwen?«
Johannes nickte.
»Zwanzig Uhr, und seien Sie pünktlich.«
Nachdem er seinen Napf geleert hatte, war Mozart zufrieden auf seinen Platz getrottet und hatte sich erwartungsvoll daraufgesetzt.
Johannes ging zum Internetradio und drückte die Taste eines gespeicherten Senders. Eine Stimme kündigte in Englisch für die nächsten Stunden ein Potpourri des Orchesters der BBC an.
Nach den ersten Klängen von Ralph Vaughan Williams‘ ‚A London Symphony‘ legte Mozart den Kopf zwischen die Pfoten und schloss seine riesigen Augen.
Johannes schaute auf die Wanduhr. Es war halb Acht. Er schnappte sich die Schlüssel des Volvos und verließ eilig sein Apartment.
Milo war immer gut für etwas Entspannung nach der Schule. Seine Gaststätte war der Treffpunkt für die Schüler der Eberhard-Real-Schule. Manche ließen gerne die letzte Stunde ausfallen, wenn es sich um ‚unbedeutende‘ Fächer wie Sport oder Religion handelte, um so mehr Zeit bei Milo zu verbringen. Seine Kneipe stand für Cola aus Großmarktflaschen, fettige Pommes mit dicker Mayo und für Mädchen, die gerne ihren ersten Bus nach der Schule sausen ließen. Man konnte dort die Lehrer durchhecheln, seine musikalischen Präferenzen verteidigen und sich auf die neusten Kinofilme heißmachen. Es war der Treffpunkt zum Erwachsenwerden.
Ein einziges Mal war Johannes Thema des Gesprächs, als ihn die blonde Schönheit aus Hochstadt fragte, ob er auf moderne Klamotten stünde. Nachdem er das bejaht hatte, fragte sie ihn, warum er denn dann keine trüge.
Als das Gelächter verklungen war, antwortete Johannes: »Sobald meine Mutter und ich das Geld für meine modernen Klamotten beisammen haben, lassen wir davon als Erstes unseren Wasserboiler reparieren, damit wir uns wieder mit warmem Wasser waschen können.«
Diese Antwort trieb der Schönheit die Röte ins Gesicht und mit wütendem Blick unterband sie jeden Lacher, der aufkommen wollte. Sie sprach danach nie mehr mit Johannes und er konnte sich seine Erwiderung von damals lange nicht vergeben. Heute war er stolz darauf.
Trotzdem genoss Johannes die Treffen bei Milo. Er lebte seine Außenseiterrolle und da ihn die meisten Themen der Clique fortan weniger interessierten, verbrachte er seine Zeit für gewöhnlich damit, die unzähligen Fotos an den Wänden der Kneipe zu studieren. Damals vermutete er, dass die Menschen auf den teilweise signierten Bildern berühmte Filmstars wären, die bei Milo schon mal eingekehrt waren oder prominente Persönlichkeiten, die er aus einem früheren Leben kannte. Deshalb verfluchte er nachträglich, dass er auf Annis Lügengeschichte reingefallen war, denn auch das Bild aus ihrer Brieftasche hing dort an der Wand. Genau über der Tür zur Küche prangte das Foto von Annis Vater oder demjenigen, den Anni ihm als ihren Vater verkauft hatte.
Nach der Feierlichkeit zur mittleren Reife ging Johannes ein letztes Mal zu Milo. Er war enttäuscht, denn er hatte erwartet die Clique noch einmal zum Abschluss quasselnd, lachend und blödelnd vorzufinden. Doch der Gastraum war leer.
»Niemand gekommen!«, schnarrte Milo hinter dem Tresen. »Willst du Pommes?«
»Nee, keinen Appetit. Ich nehme eine Cola.«
Milo schraubte eine angebrochene Flasche mit der schwarzen Flüssigkeit auf, ohne dass ein Zischen der Kohlensäure zu hören gewesen wäre.
»Kann ich Sie mal was fragen, Milo?«
»Was gibt es, Bubele? Doch ein paar Pommes?«
Johannes deutete auf das Foto mit Annis Vater. »Können Sie mir sagen, wer das ist?«
Ohne sich umzudrehen, erwiderte Milo: »Ist niemand, den du kennst. Nur alte Bekannte.«
»Aber ich kenne diesen Mann. Ich habe dieses Foto schon einmal gesehen.«
Milos wischte mit einem Handtuch voller Flecken über das Abtropfblech des Ausschanks. Dann warf er den Lappen über seine Schulter, stütze sich mit seinen kräftigen Armen auf den Tresen und blickte Johannes streng an. »Schau dich um, Bubele. Sind alle weg. Neue werden kommen, aber für dich ist hier die Vergangenheit. Genauso wie die Leute auf den Bildern. Wenn du weiter hierher kommst, bleiben trotzdem alle verschwunden. Deine Zeit läuft woanders ab. Jetzt trink aus und geh sie suchen.«
Johannes steuerte den Volvo in die Kastanienallee und stellte ihn vor Jacques Weindepot ab. Zum Rothen Löwen war die bekannteste Gaststätte in Hanau-Kesselstadt. Nicht zuletzt deswegen, weil sie jeden Autofahrer, der nach Hanau wollte und die A 3 mied, am Ortseingang empfing. Doch an diesem Abend war das Restaurant überraschend wenig besucht.
Die Kellnerin empfing ihn mit einem Lächeln. »Ist nix reserviert. Sie haben die freie Auswahl.« Dann verschwand sie mit dem vollen Tablett im Nachbarraum.
Johannes versicherte sich, dass Oberkommissarin Stein nicht bereits an einem der Tische auf ihn wartete, und erklomm die Bank, die etwas erhöht hinter einem winkligen Tisch eine Ecke im Thekenraum ausfüllte. Hier hatte man die Eingangstür im Blick und war von der eigentlichen Gaststube abgeschottet, was vertraulichen Gesprächen, wie Johannes sie erwartete, entgegenkam.
Kaum eine Minute, nachdem er ein Sprudelwasser bestellt hatte, betrat die Oberkommissarin die Gaststätte. Sie hatte die Jeans gegen ein schwarzes Kleid getauscht, das sich so eng an ihren Körper anschmiegte, dass er glaubte einen Panther beim Anpirschen an sein Opfer zu beobachten, als sie auf ihn zukam. Die schwarzen Haare waren elegant hochgesteckt und die Art, wie sich geschminkt hatte, gab ihren herben Gesichtszügen eine durchaus erotische Note.
»Hallo, Dana.« Der Wirt hinter der Theke winkte der Kommissarin freundlich zu. Sie erwiderte seinen Gruß, indem sie die intensiv nachgezogenen Brauen hob. Dann pirschte sie weiter auf Johannes zu.
»Sie sind pünktlich. Das weiß ich zu schätzen.«
»Das Gleiche kann man von Ihnen sagen, Oberkommissarin Stein.«
Sie legte ihre Handtasche ab, zog die kurze Lederjacke aus und warf sie auf die Bank. »Ich heiße Dana. Lass bloß die Kommissarin in der Dienststelle.«
»Johannes.«
Sie schaute ihn mit einem abfälligen Grinsen an. »Ich weiß.« Dann schnippte sie mit dem Finger und hatte sofort die Aufmerksamkeit des Mannes hinter der Theke. Der nickte und holte eine Flasche Wein aus dem Kühlfach. Wenige Sekunden später stand ein gefülltes Glas vor ihr. »Chablis.«, sagte sie. »Der einzige, der nicht vom Großmarkt ist.«
»Du kommst öfters her.«
»Gut beobachtet, Sherlock.« Sie nippte an dem Chablis und öffnete danach ihre Handtasche. »Hast du noch mehr Beobachtungen gemacht?«
»Das Kleid könnte nach Schnitt und Verarbeitung von Prada sein, oder es ist eine ausgezeichnete Kopie, die Handtasche ist anhand des genarbten Leders definitiv Gucci und das Handy, das du gerade daraus hervorholst, ist ein LG mit Lederbesatz. Deshalb denke ich, dass das Kleid doch keine Kopie ist. Nur die Schuhe kann ich nicht einordnen.«
Dana schaute ihn überrascht an. »Wow! Es ist wirklich keine Kopie und die Schuhe sind handgefertigt.«
Johannes nickte wissend. »Du hast einen verdammt guten Geschmack und keine Freunde.«
Ihr Gesichtsausdruck wurde düster. »Wie kannst du …«
»Nun, heute ist offensichtlich dein Geburtstag. Und obwohl wir uns erst seit ein paar Stunden kennen, verbringst du den Abend mit mir, einem Typen, der die Tortenschlacht mit deinem Kollegen unterbrochen hat, und doch kein wichtiges Anliegen hatte. An deiner Stelle wäre ich sauer auf mich. Und doch treffen wir uns hier und feiern deinen Geburtstag.«
»Tun wir nicht.«
»Nein?«
»Ich bin die Akten von 1966 durchgegangen.« Sie wischte hektisch über ihr Smartphone. »In keinem wird deine Anni erwähnt.«
Johannes stieß einen Seufzer der Enttäuschung aus.
»Allerdings fehlt eine Akte.«
»Kann man feststellen, um welche Angelegenheit es in dieser Akte ging?«
»Nein, es lässt sich nur ein ungefährer Zeitpunkt des Vorgangs bestimmen.«
»Ist das schon öfters vorgekommen, dass eine Akte verschwindet?«
»Natürlich nicht. Was glaubst du, was wir für ein Verein sind?«
Johannes zuckte die Schultern. »War nur eine Frage.«
»Passt allerdings in das Schema der verschwundenen Mikrofilme des Anzeigers.«
»Du hast dich erkundigt?«
»Natürlich. Lasse mir doch nicht von einem dahergelaufenen pokerspielenden Cagefighter irgend ein Märchen auftischen.« Ihr Schmunzeln verriet die Absicht hinter dieser Aussage. »Allerdings erschien mir der junge Mann, den ich am Telefon hatte, reichlich nervös zu sein.«
»Der hatte an dem Tag frei, als ich nach den Ausgaben fragte. Seine Kollegin wollte mich informieren, wenn er wieder im Haus sei.«
»Nun, es wurde wegen der fehlenden Filme keine Anzeige gemacht. Tatsache ist, es gibt keine Beweise für deine Behauptung, man hätte ein Kind 1966 in der Metzgerstraße getötet.«
»Anni, ihr Name war Anneliese Wonn.«
»Tut mir leid. Persönliche Trauer macht es nur für dich realer. Ist halt schon lange her. Ich werde noch mal im Meldeamt nachforschen. Hoffen wir, dass dort das Jahr 1966 noch existiert.«
Johannes kratzte sich unter dem Ohr und machte anschließend eine entschuldigende Geste. »Sorry Dana, ich wollte wirklich nicht, dass jemand sich privat so für meine Angelegenheiten engagiert. Zusätzlich habe ich dich bestimmt daran gehindert, noch etwas Gescheites mit deinem Geburtstag anzufangen. Wenigstens an einen Blumenstrauß hätte ich denken müssen.«
»Geschenkt. Was soll ich mit abgeschnittenen Blumen anfangen? Ihnen beim Sterben zuschauen?«
»Wenn es etwas anderes gibt, dass …«
»Gibt es. Bring mich nach Hause.«
Der Bungalow war stilvoll eingerichtet. Wie in seinem eigenen Apartment waren Wohn-, Schlaf- und Küchenbereich auf einer großräumigen Fläche angeordnet. Johannes bewunderte den offenen Kamin, den er so gerne auch in seiner Wohnung gehabt hätte.
Dana drückte auf einen Schalter an der Wand und augenblicklich glitten unter flüsterndem Surren metallene Läden außen vor den Fenstern herunter. Dann deutete sie auf das Bargestell, das mit Alkoholika vollgepackt war.
Johannes schüttelte den Kopf und schielte auf die Jura auf der Küchenzeile.
»Vielleicht später«, sagte Dana, schnappte das Revers seiner Jacke und zog ihn in ein Nachbarzimmer. Eine blaue Turnmatte bedeckte fast den ganzen Boden. Neben einer Sprossenwand waren mehrere Kraftgeräte installiert. Auf einem Gestell lagen diverse Gewichte und Hanteln der Größe nach angeordnet. Sie warf Johannes zwei Boxhandschuhe hin, die höchstens vier Unzen besaßen.
»Was soll das werden?«
»Ich überprüfe nur deine Angaben, Cagefighter. Außerdem hast du doch nach einem Geburtstaggeschenk gefragt. Ich wünsche mir eine Runde mit dir in meinem Käfig.«
Johannes war sich sicher, dass er jetzt errötete. »Ist das nicht etwas unfair?«
Dana kickte die Pumps von ihren Füßen in eine Ecke. »Besser so?«
»Das meinte ich nicht.«
Augenblicklich fingerte sie an dem Verschluss ihres Kleides herum, um ihn nach wenigen Sekunden mit einem reißenden Geräusch zu öffnen. Knisternd rutschte ihr Kleid nach unten, bis es sich wie schwarze Fesseln um ihre Knöchel legte.
Johannes starrte wie gebannt auf sein nacktes Gegenüber, das jetzt auch das Kleid mit einem Fuß zur Seite schleuderte und selbst Trainingshandschuhe überzog. Der bizarre Anblick fesselte Johannes dermaßen, dass er die Linke nicht hatte kommen sehen, die ihn unerwartet am Auge traf.
Als er erwachte, schmerzte sein Körper. Er lag nackt zwischen Satinwäsche in einem riesigen Bett. Neben ihm schnurrte Dana wie eine zufriedene Raubkatze, obwohl sie mit Zeichen des Kampfes übersät war. Johannes schaute an sich entlang und stellte fest, dass er nicht besser aussah. Hinzu kamen mehrere Kratzer, die ihm erst nach dem Kampf zugefügt worden waren. Dem Brennen nach vermutete er noch etliche auf seinem Rücken.
Er dachte an Anni, die ihn einmal nach oben zum Zehn-Meter-Brett gelockt hatte und er nicht wusste, ob er damals seine Höhenangst zum ersten Mal entdeckte, oder ob er sie mit schlotternden Beinen auf dem Sprungturm des Stadtbades erlernte. Jedenfalls stürzte sich Anni mit aller Routine in die Tiefe und er kletterte, sich schämend, gegen den Strom johlender und feixender Kinder die Eisentreppe nach unten. Danach nahm er seinen ganzen Mut zusammen und sprang das einzige Mal in seinem Leben vom Fünfer.
Sein Smartphone summte und als Johannes seinen wunden Oberkörper über die Bettkante nach unten beugte, fragte er sich, wie oft ihm so eine Nacht noch vergönnt sei.
Nachdem er das grüne Symbol auf dem Display berührt hatte, erklang eine Stimme in seinem Ohr, mit der er im Augenblick am wenigsten gerechnet hätte.
»Johannes? Rate mal, wer wieder in Frankfurt gelandet ist.«
Johannes schluckte. »Marie?«
Dieses Kapitel ist jetzt auch schon wieder zu Ende. Fortsetzung folgt.
Hier bekommt ihr einen Überblick:
Mel