Kapitel 4 – „Sandkastentod“

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IV.

Die Augen der toten Anni hatten ihn die ganze Nacht angestarrt. Dabei machte es keinen Unterschied, ob er wach in die Dunkelheit blickte oder in den kurzen Schlafphasen einen immer wiederkehrenden Traum erlebte. Darin folgte er dem Monster, das Anni auf den Armen trug, durch ein Moor, aus dessen Grund gelblicher Dunst aufstieg. Annis Blick war starr und doch fordernd, als flehe er darum, sie nicht alleine zu lassen. Nachdem Johannes der Gestalt zu einer Stelle im Moor gefolgt war, wo ein hölzernes Kreuz aus dem Morast ragte, blieb sie unvermittelt stehen und drehte sich um. Der Kopf des Monsters bestand aus einer riesigen Murmel, in deren türkis schimmernden Innern eine Gestalt zu erkennen war, die ein Mädchen auf den Armen trug. Dieses Bild zerfloss nach einer Weile zu einem schwarzen geschwungenen Strich, der der Murmel ein breites Grinsen verlieh, als wäre sie ein boshafter Smiley. An dieser Stelle wachte Johannes jedes Mal auf und erblickte in der Dunkelheit seines Zimmers erneut Annis Augen.

Mozart schlang sein Frühstück aus eingeweichtem Trockenfutter in sich hinein, wobei sein Blechnapf scheppernd auf der Küchenfliese tanzte. Johannes nippte an seinem Kaffee und verzog das Gesicht. Er war vollkommen erschöpft aufgewacht und sein Auge schmerzte immer noch. Er hatte den Regionalteil der FAZ vor sich aufgeschlagen und überflog die Abbildungen und Überschriften. Für die Inhalte der dazugehörigen Artikel fehlte ihm die Konzentration.
Irgendjemand hatte es auf ihn abgesehen und spielte mit ihm. Man benutzte das Internet dazu, seinen Schmerz zu schüren, und Johannes wollte sich nicht ausmalen, was als Nächstes passieren könnte. Insgeheim rechnete er damit, beim Umblättern das Bild mit Anni und der Gestalt zwischen den lokalen Todesanzeigen wiederzufinden. Dann patschte er sich unversehens mit einem lauten Knall auf seine Platte. Mozart unterbrach sogar für einen Moment sein Frühstück und glotzte Johannes mit seiner mit Haferflocken gesprenkelten Schnauze an, steckte diese aber schließlich wieder in den Topf und ließ erneut das rhythmische Klappern vernehmen. Die Zeitung, die Ausgabe des Hanauer Anzeigers, aus der Johannes‘ Bruder ihm vor fünfzig Jahren vorgelesen hatte. Es musste doch ein Archiv geben. Dort verbarg sich, was damals berichtet wurde. Vielleicht war sogar der Spielplatz abgebildet. Er schalt sich einen Dummkopf, nicht früher darauf gekommen zu sein. »Komm Moe, wir machen einen kleinen Ausflug nach Hanau.«

Mozart hatte sehnsüchtig zu seinem Napf geschaut, als Johannes ihn am Halsband aus dem Appartement gezerrt hatte. Doch als ihm die Heckklappe des Volvos geöffnet worden war, war er sofort mit einem gewaltigen Satz hineingesprungen. Jetzt glotzte er interessiert aus dem Heckfenster auf den zähfließenden Verkehr, der sich auf der A3 nach Osten quälte.
Johannes hatte sich kurz vor seinem überstürzten Aufbruch und Mozarts abrupt beendetem Frühstück über den Hanauer Anzeiger informiert. Seit fast zehn Jahren war dieser nicht mehr in der Hammerstraße in Hanaus Innenstadt ansässig. Man hatte damals an der Peripherie der Stadt ein neues Gebäude für Redaktionen und Verwaltung gebaut und den Druck später in fremde Hände gegeben. Doch er konnte einen Laden am Freiheitsplatz ausmachen, der als Kontakt zum Anzeiger für die Aufgabe von Inseraten, Abwicklung der Abonnements und für sonstige Informationen empfohlen wurde.
Johannes war froh, die Abfahrt nach Hanau erreicht zu haben, denn weiter vorne kündigten die Rückleuchten und Warnblinker einen Stau an.

»Schauen Sie mal, der Anzeiger ist gleich im Ständer hinter Ihnen.«
Johannes schaute sich um und war von der Größe des Ladens überrascht. Er bedeutete der Dame an der Kasse, dass er den Kauf der Zeitung noch etwas aufschieben wolle. Wie ein Kind in einem Spielzeugladen durchschritt er staunend die Räumlichkeit. Dabei betrachtete er die hier angebotenen und ausgestellten Dinge: Bildbände und Historisches über Hanau und Umgebung, Souvenirs, Kinderspiele, Kulinarisches und jede Menge Gedrucktes mit Motiven der Brüder Grimm. Am Ende des Ladens hingen viele Plakate, was Johannes vermuten ließ, dass sich dort ein Ticketschalter befand.
»Karten für die Märchenfestspiele oder Mark Foster sind fast schon ausverkauft.«
»Nein danke, ich schau mich nur um.«
Die junge Frau hinter dem Tresen hatte nun den Conti entdeckt, beugte ihren Oberkörper über den Schalter und setzte einen begeisterten Gesichtsausdruck auf.
»Ach ist der süß. Wie heißt der denn?«
»Mozart.«
Als ob er auf dieses Stichwort gewartet hätte, setzte sich Mozart in Positur. Dabei bemerkte Johannes, dass der Conti noch etliche Haferflocken des Frühstücks auf seinem Nasenrücken balancierte.
»Wir haben auch Karten für den Klassikabend in Wilhelmsbad.«
Nachdem Johannes wieder nach vorne zur Kasse geschlendert war, wartete er, bis alle Laufkunden ihre Tageszeitung bezahlt und den Laden verlassen hatten, und wandte sich der Angestellten zu.
»Ich suche ältere Ausgaben des Hanauer Anzeigers.«
»Ich glaube, da ist noch eine von gestern da.«
»Nein, warten Sie, ich meine viel älter.«
»Also da müssen Sie in die Donaustraße. Dort bekommen Sie noch Exemplare vom letzten halben Jahr.«
Johannes schüttelte den Kopf. »Ich meine Neunzehnhundert …«
»Ah, Sie sind ein spezieller Fall, was?« Die Frau lächelte wissend. »Sie sind nicht von hier, was?«
»Eigentlich schon, aber jetzt ist alles sehr verwirrend.«
»Verstehe.« Sie streckte ihren Arm aus und deutete aus dem Schaufenster, hinter dem sich der Rest des Freiheitsplatzes erstreckte. »Neben dem Busbahnhof ist jetzt das Forum. Im zweiten Stock finden Sie das Stadtarchiv. Dort kann man Ihnen mit Sicherheit weiterhelfen. Wollen Sie nicht doch eine aktuelle Ausgabe mitnehmen?«
Johannes las die Schlagzeile auf der ersten Seite: Hanau kein Selbstläufer. Dann schüttelte er erneut den Kopf. »Danke, Sie haben mir sehr geholfen.«

Als er im zweiten Stock des Forums den Aufzug verließ, blickte er auf die riesige Fläche der Bücherei. Auf endlos vielen Regalen waren unzählige Bücher, Zeitschriften, Hörbücher und Filme platziert. Johannes steuerte zielbewusst auf einen Schalter neben dem Hauptgang zu, den er für die Information hielt.
Das Stadtarchiv wiederum befand sich hinter einem Raumteiler, wo Johannes nach Durchschreiten eines langen Ganges von einem roten Tresen aufgehalten wurde, auf dem Portal Stadtgeschichte/Stadtarchiv stand. »Ich suche eine historische Zeitungsausgabe. Bin ich hier richtig?«
Die Dame, die an einem Schreibtisch dahinter mit ihrem Computer beschäftigt war, unterbrach ihre Arbeit. Sie wandte sich Johannes zu und zog die Brauen hinter ihrer riesigen Brille so weit nach oben, dass sie jetzt über den Rand herausschauten. »Haben Sie einen Termin?«
Johannes schaute zu dem Conti nach unten, der seinen Blick fragend erwiderte, und schaute anschließend die Frau mit einem enttäuschten Ausdruck wieder an. »Ich war erst vor kurzem auf das Stadtarchiv aufmerksam geworden.«
»Sie haben also keinen Termin.«
Johannes nickte mit schuldiger Miene.
Kurz lehnte sich die Frau über den Tresen, begutachtete Mozart, der gerade seinen traurigsten Gesichtsausdruck aufgelegt hatte, und blickte anschließend wieder zu Johannes. »Keinen Termin, aber Sie und ihr schwarzer Freund haben Glück. Es sind beide Maschinen frei.« Sie zeigte auf einen kleinen Raum, der durch eine Glasfront vom restlichen Archivbereich abgetrennt war. Auf zwei Tischen darin standen Geräte, mit denen man Mikrofilme betrachten konnte. »Welche Zeitung suchen Sie denn?«
»Den Anzeiger.«
»Den haben wir ab 1727. Welcher Jahrgang?«
Johannes pfiff leise durch die Zähne. Er hatte die ganze Zeit am falschen Ort nach der Vergangenheit gesucht. Ihn überkam die Gewissheit, dass das Internet nicht immer die erste Adresse war. »Irgendwann im Sommer 1966. Den genauen Tag weiß ich nicht mehr. Ich müsste die Ausgaben durchsuchen.«
Die Dame winkte ab. »Macht nichts. Die Ausgaben sind sowieso hintereinander auf den Filmen. Warten Sie, ich suche raus, was in diese Zeit passt.« Während sie nach hinten ging, rief sie Johannes zu: »War das nicht zur Zeit der Fußballweltmeisterschaft in England?«
Johannes wollte erwidern, dass ihn der Sportteil in den Ausgaben nicht interessierte, beließ es aber bei einem kurzen: »Jep.«
Nach sehr langen Minuten, während derer sich Johannes die Zeit genommen hatte, Mozart von den Resten des Frühstücks zu befreien, kam die Frau mit zwei Filmen wieder zurück. Ihre Gesichtsfarbe war durchaus eine Nuance blasser als zuvor, wie Johannes bemerkte.
»Uh, haben sie einen Geist gesehen?«
»Keinen Geist«, erwiderte die Frau, »aber ein schwarzes Loch«, sagte sie erschüttert. »Ich kann 1966 nicht finden. Vielleicht sind die Filme verschossen, aber ich habe auch die angrenzenden Jahrgänge nachgeschaut. Nichts.« Sie legte die zwei Fiches auf den Tresen. »Sehen Sie, der hier endet Februar 1966 und der andere Film beginnt im Dezember 1966. Dazwischen ist nichts mehr da. Als hätte sie jemand aus der Zeit gerissen.« Sie starrte fassungslos auf die beiden Blätter. »Glauben sie mir, das ist noch nie passiert.«
»Und Sie sind sicher, dass die restlichen Jahrgänge komplett sind?«
»Absolut. Das sehe ich an den Signaturen.«
Der Unbekannte, dessen Präsenz Johannes bereits die letzten Tage wahrgenommen hatte, war wieder tätig geworden. Durch das Pokerspiel war er es gewohnt, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen, und hatte ein Gefühl für Zufälle entwickelt. Deshalb wusste er, dass dies hier keiner war. Annis Foto, die ständigen Aufrufe im Internet, der merkwürdige Ruben und Utos angsterfülltes Gesicht waren für ihn Anzeichen von etwas, das er zwar nicht greifen konnte, was aber durchaus bedrohlich wirkte. »Können Sie herausfinden, ob jemand vor mir diesen Jahrgang des Anzeigers verlangt hat?«
»Notieren tun wir das nicht und ich würde mich daran erinnern, jetzt wo Sie es sagen. Ich werde meinen Kollegen fragen, ob er sich an die Herausgabe der Filme erinnert. Leider ist er heute nicht im Haus. Wissen Sie was, lassen Sie mir ihre Telefonnummer da. Ich werde Sie anrufen, sobald ich Näheres weiß.«
Johannes pickte ein Visitenkärtchen des Stadtarchivs aus dem Ständer auf dem Tresen und schrieb seinen Namen und seine Handynummer auf Rückseite. Während er der Frau die Karte übergab, erinnerte er sich an seine Bildersuche im Internet. »Haben sie denn auch alte Bilddokumente aus der Zeit?«
Die Frau nahm das Kärtchen und klemmte es unter die Tastatur. »Wir nicht, aber nebenan finden Sie das Medienzentrum. Die haben auch eine Bildstelle. Wenn Sie sich beeilen, ist noch geöffnet.«

Johannes schaute auf die alten Luftaufnahmen und Stadtpläne von Hanau, die an den Wänden des Ganges zum Medienzentrum aufgehängt waren. Die Tür zur Bildstelle stand offen und eine Frau winkte ihn freundlich hinein.
»Was kann ich für Sie tun?«
Johannes schaute zuerst auf Mozart. Er tat das mittlerweile immer, wenn er einen Laden oder sonstige fremde Räumlichkeiten das erste Mal betrat, um herauszufinden, ob es bezüglich Hunde Restriktionen gab. Die Frau schien das zu bemerken und äußerte lediglich: »Na das ist aber ein lustiger, kleiner Kerl. Mischling?«
»Conti.«
»Aha!« Dabei ging sie in die Knie und ließ Mozart an ihrer Hand riechen.
»Wir haben leider keinen Termin.«
Mit einem Ruck stand die Frau wieder auf. »Brauchen Sie auch nicht, wenn’s kein Mammutprojekt wird, wie letztens.«
»Ich weiß auch gar nicht, was ich suche.«
»Ein Bild?«
Johannes schalt sich insgeheim einen verklemmten Dummkopf. »Ja, natürlich. Eins oder mehrere.«
»Na das ist doch schon mal ein Anfang.« Die Frau zeigte auf vier blaue Container mit Rollschubladen. »Eine bestimmte Straße, ein historischer Anlass oder eine bestimmte Zeit?«
»Metzgerstraße 1966« Johannes antwortete wie in Trance.
»Da schau an, der Herr hat doch eine konkrete Vorstellung.« Sie zog eine der Schubladen auf und Johannes erkannte unzählige gelbbraune Karteikärtchen, die in Reihen zwischen schwarzen Reitern steckten. Deren Beschriftungen nannten Straßen und Plätze: Marktplatz, Marktstraße, Metzgerstraße. Johannes wollte auf die Bezeichnung zeigen, da hatte die Frau schon einen Packen an Pappkarten herausgezogen und bedeutete ihm, sich an einen Beistelltisch zu setzen. Sie legte den Stapel mit Karteikärtchen vor ihn auf den Tisch. »Das ist unser Material von der Metzgerstraße. Ist chronologisch geordnet. Bitte auch so belassen.«
Johannes starrte auf die oberste Karte. In der oberen linken Ecke war jeweils ein winziges Bild angeheftet. Rechts stand eine Jahreszahl und darunter der Name des Fotografen und eine Signatur für die Bildstelle. Johannes blätterte durch den Stapel. Alle Kärtchen waren ähnlich aufgebaut: kleinformatiges Foto, Jahreszahl, Fotograf, Index. Manchmal beschrieb eine Zusatzzeile den Blickwinkel. Er wollte schon zum Betrachten des Fotos seine Lesebrille aus dem Jackett holen, da drückte ihm die Frau eine Lupe in die Hand.
»Preisliste für die Abzüge habe ich vorne. Können wir auf Papier oder digital liefern. Suchen Sie was Bestimmtes?«
»Den Spielplatz, so wie er damals aussah.«
Die Frau blickte drein, als würde sie intensiv nachdenken. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Da werden Sie nicht fündig werden. Geben Sie mir Bescheid, falls ich mich irren sollte. Ich bin dann vorne.«
Nachdem Johannes den Stapel durchforstet hatte, musste er der Frau recht geben. Er fand Schnappschüsse aus den Zwanziger Jahren, Fotos vom Wiederaufbau, sogar Motive aus den Sechzigern, aber alle in einem Winkel, in dem der Spielplatz nicht zu sehen war. Enttäuscht steckte Johannes den Packen wieder hinter den Reiter mit der Aufschrift Metzgerstaße zurück. Gerade wollte er die Schublade schließen, da las er auf dem Fähnchen hinter den Karten, die er gerade einsortiert hatte: Metzgergasse. Nachdem er den Reiter umgeklappt hatte, war Johannes wie betäubt. Er nahm das einzige Kärtchen, das sich dahinter befand, heraus und starrte auf das Bild. Es war komplett schwarz. Daneben stand: Anni 1966. Darunter: Fotograf Paly Root I.S.S.
Der Versuch, einen Ton herauszubringen schlug fehl. Stattdessen winkte Johannes der Bediensteten der Bildstelle mit dem Kärtchen zu.
»Ach, haben Sie doch was gefunden? Da bin ich aber mal gespannt.« Die Frau kam auf Johannes zugeeilt und schnappte sich den gelben Karton. Dann schüttelte sie verständnislos den Kopf. »Was soll das? Habe ich noch nie gesehen. Wo, sagten Sie, hat das gesteckt?«
Johannes deutete auf den Reiter mit der Beschriftung: Metzgergasse.
»Den habe ich nicht gemacht. Sehen Sie hier, ganz neu.« Sie drehte den gelben Karton hin und her. »Ich würde doch kein schwarzes …« Jetzt klopfte sie mit der Pappe auf ihren Handrücken. »Paly Root, das war doch der Großauftrag. Vielleicht haben die das Bild hiergelassen und die Kollegin hat es angelegt. Sie müssen wissen, dass die Bilder aus Privatbesitz nur noch dürftig reinkommen. Das ist bestimmt von der Firma gespendet worden. Aber warum ein schwarzes Bild?«
Johannes hatte seine Stimme inzwischen wiedergefunden. »Was war das für ein Großauftrag?«
Die Frau breitete die Arme aus, als wolle sie alle vier Container umarmen. »Alles was hier drinnen ist, die gesamte verfügbare Vergangenheit Hanaus wollten die haben. Alles digitalisiert. Ich sag Ihnen, die Gelder für die nächsten zwei Jahre sind gesichert. Paly Root I.S.S., genau so hießen die. Aber warum ein schwarzes Bild? Und wo steht die Signatur?«

Als Johannes am Schlossplatz die Fernbedienung seiner Wagentür aus der Hosentasche holte, vernahm er ein bekanntes Zischeln hinter seinem Rücken.
»Na? Immer noch auf der Suche nach der kleinen Freundin?«
Johannes drehte sich blitzartig um und schaute Ruben in die Augen, die wegen der blendenden Mittagssonne zu zwei Schlitzen geformt waren. »Solltest du nicht in deiner Gruft sein?«
Mit einem Blick versicherte sich Ruben, dass Mozart respektvollen Abstand zu ihm hielt. Dann setzte er ein linkisches Grinsen auf. »Hör zu, mein Freund, dieses Mädchen ist reine Einbildung. Lass deine Fantasie ruhen.«
»Waren wir Freunde? Und was geht’s dich an?«
»Es geht mir um das Wohlergehen und den Frieden in dieser Gemeinde. Also geht es mich was an.«
»In der Gemeinde? Ach, du meinst Uto«
»Er kommt jeden Tag zu mir und klingt sehr aufgeregt. Er ist in unserer Obhut. Du hast ihn aufgewühlt.«
»Kümmert ihr euch auch um die Kids, die ihn durch die Straßen jagen?«
»Es ist für alles gesorgt. Aber du gehörst hier nicht her. Nicht mehr.«
Johannes hatte wieder dieses Kribbeln in der Nase. Er spürte die Wut, die in ihm hochstieg. Diese Wut, die ihm signalisierte, dass er dem Unrecht gegenüberstand. Jemand wollte ihn grundlos aus seiner Heimatstadt vertreiben und fernhalten. Was Johannes am meisten verabscheute, war die Art von Gewalt, die man ihm im Innern zufügte. Er ballte die Fäuste.

Fasching 1973. Er hatte zu viel getrunken. Sie waren ihm zu dritt aus dem Faschingsball in der Stadthalle gefolgt. Sie schrien ihm hinterher, er sei eine Schwuchtel, weil er sich wie David Bowie maskiert hatte. Dann kicherten sie und machten vor dem Goldschmiedehaus eine Pinkelpause. Er blieb stehen und drehte sich zu ihnen um. Sie bepinkelten das Auto seines besten Freundes. Er ging davon aus, dass sie nicht wussten, wessen Auto sie gerade beschmutzten, aber er würde das richtigstellen. Das Kribbeln in seiner Nase nahm zu. Sie sahen schwach und verletzlich aus, wie sie schwankend ihre Schwänze festhielten und gickelnd gegen die Radkappen strullten. So schnell es sein Zustand zuließ, rannte er auf die drei Jungen zu. Der älteste und längste von ihnen bemerkte ihn zuerst und versuchte seinen Penis wieder in die Hose zu stopfen. Dabei wurde er so hektisch, dass er ihn beim Zuziehen des Reißverschlusses einklemmte. Dem geschrienen Fluch folgte die Faust von David Bowie, die ihn genau auf dem linken Auge traf und zu Boden gehen ließ. Die beiden anderen waren geschickter und hatten ihre Hosen schon geschlossen, als sie sich auf ihn stürzten. Dem mit den schwarzen Locken konnte er gerade noch einen Finger ins Auge piken. Doch die Fingernägel des anderen hieben über sein Gesicht und hinterließen einen beißenden Schmerz. Das Kribbeln in seiner Nase nahm wieder zu und mit einem wütenden Schrei stürzte er sich auf den Angreifer, der die Krallen eingezogen und mit den Händen lächerlich kleine Fäuste gebildet hatte. Es brauchte nur drei Treffer, bis der das Weite suchte. Während er dem Flüchtenden nachschaute, wurde er von hinten gepackt. Schwarzlocke war Ringkämpfer. Diesem Griff konnte er nicht entkommen, das wusste er, denn sie waren bis vor einem Jahr noch befreundet gewesen. Waren gemeinsam dem Schläger an der Kinzig entkommen und hatten sich anschließend erleichtert in den Armen gelegen. Aber das zählte heute nicht mehr. Der Ringergriff wurde immer fester und die ihn umschlingenden Arme rutschten langsam seinen Brustkorb nach oben auf seinen Hals zu. Er wusste, was das bedeutete. Er würde bedingungslos kapitulieren müssen oder ohnmächtig werden. Auf beides hatte er keine Lust. Als die Arme das Schlüsselbein erreicht hatten, bekamen seine Füße wieder Kontakt mit dem Boden. Er stieß sich mit aller Kraft, die ihm geblieben war, vom Boden ab und ließ beide Körper nach hinten torkeln. Gerade bereitete er sich auf den Sturz aufs Pflaster vor, da hörte er den dumpfen Ton, den Schwarzlockes Kopf von sich gab, als er gegen den Steinpfeiler vor Wenzels Feinkostladen knallte.
Zuhause schlich er sich geräuschlos ins Badezimmer, um seine Mutter nicht zu wecken, und betrachtete den Schmiss im Gesicht. Er passte weder zu den orange gefärbten Haaren der Vokuhila-Frisur, noch zu den glitzernden Ohrringen und dem mit Lippenstift verschmierten Mund. Er überlegte einen Moment lang, was David Bowie dazu sagen würde. Dann knipste er das Licht über dem Allibert-Spiegelschrank aus.

Johannes ließ seine Hand nach vorne schnellen, als ob er eine Fliege in der Luft schnappen wollte und packte Ruben am Revers seines schwarzen Jacketts. Sofort ließ Mozart ein tiefes Grollen hören. »Du verdrehst die Tatsachen, urteilst, lügst und bedrohst mich. Ein Wunder, das Gott dich noch in seine Kirche lässt. Wenn du mir noch einmal so respektlos daher kommst, belasse ich es nicht bei einem Dialog, mein Freund. Und jetzt verzieh dich zurück in deinen Sarg.« Mit einer raschen Bewegung ließ er Ruben los. Der richtete sein Hemd und Jackett, grinste Johannes spöttisch an, drehte sich bedächtig um und schlenderte, als ob nichts gewesen wäre, zurück in die Altstadt.

Die untergehende Sonne bildete sich mosaikartig auf der unruhigen Oberfläche des Mains und der Glasfront der EZB ab. Johannes betrachtete das Lichtspiel, nippte an seinem 26 Jahre alten Bruichladdich und wartete auf den Jingle, der das geladene Betriebssystem meldete.
Durch die intensive Betrachtung der Fakten kam Johannes zu dem Schluss, zwischen zwei Interessengruppen geraten zu sein. Eine, die ihn antrieb Annis Schicksal nachzugehen, und die andere, die die Existenz der Vorkommnisse von damals leugnete und zu vertuschen versuchte. Personifiziert wurde Letztere durch Ruben, dessen Auftreten sich Johannes übertrieben unsympathisch inszeniert darstellte. Zur ersten Gruppe hatte er endlich, wenn auch keine Person, so wenigstens einen Namen gefunden: Paly Root I.S.S.
Kaum meldete Windows seine Bereitschaft, öffnete Johannes den Browser und gab als Suchbegriff Paly Root ein. Ein einziges Ergebnis traf beide Begriffe. Er klickte auf den Link und Johannes starrte auf eine Deutschlandkarte. Die Aufmachung des Programms erinnerte ihn an Google Maps. Während er die Karte über den Bildschirm scrollte, überlegte er, was die Firma mit dem Produkt bezweckte. Programme mit Landkarten gab es haufenweise, sogar welche, die Radtourwege beschrieben und gefahrlose Wanderwege mit Kneipenführer beinhalteten. Er zoomte in die Karte hinein und wechselte, als das Rhein-Main-Gebiet den Bildschirm ausfüllte, in den Satellitenmodus, in dem Straßen, Gebäude und Landschaften aus Fotografien zusammengesetzt waren. Plötzlich hielt er inne. Erst ging er von einem Grafikfehler aus, denn etwas auf dem Monitor hatte kurzzeitig aufgeblinkt, als er mit dem Mauszeiger über die Karte fuhr. Nur hatte er sich nicht merken können, wo er sich gerade befunden hatte. Instinktiv bewegte er den Zeiger auf Hanau zu. In dem Moment, als er sich genau darüber befand, tauchte wieder etwas kurzzeitig am unteren Bildrand auf. Hanau war in der Darstellung ungefähr so groß wie ein Fingernagel. Bedächtig führte er die Zeigerspitze genau auf die Mitte dieses Bereichs. Am unteren Ende des Bildschirms erschien eine Schiebeleiste. Am Anfang der Leiste stand die Zahl 1826, am rechten Ende ein T. aus einem Reflex heraus wollte Johannes den Schieber, der genau neben dem T platziert war, nach links ziehen. Doch sobald er den Mauszeiger vom Zentrum Hanaus nahm, verschwand auch der Regler.
Johannes saß davor, wie vor einem dieser Rätselprogramme, bei denen man Kisten auf bestimmte Positionen schieben musste oder kleine Strichmännchen durch Räume mit fiesen Fallen befehligte. Der Zeiger musste auf Hanau deuten, damit der … Johannes patsche sich erneut auf die Stirn. Dann zoomte er so lange in die Karte hinein, bis Hanau den ganzen Bildschirm ausfüllte. Der Schieberegler erschien ungefähr da, wo der Main zwischen Steinheim und Klein-Auheim einen Knick machte und verblieb an dieser Stelle, egal wo sich der Zeiger der Maus befand. Auch als Johannes weiter in den Ort hinein zoomte, veränderte die Leiste ihre Position nicht. Jetzt steuerte er die Spitze des Zeigers auf den Schieber, drückte die linke Maustaste und zog ihn vorsichtig nach links. Dabei fixierte er den Bildschirm, um bei irgendeiner Veränderung sofort zu unterbrechen. Nach einem Blick auf den Schieber erkannte er einen Wert, der stetig rückwärts zählte. 2002 … 2001 … 2000 … 1999. Johannes vermutete Jahreszahlen. Aber lediglich seine wilde Fantasie ließ ihn erahnen, was sie zu bedeuten hatten. Er zog den Regler schneller nach links. 1981 … 1980 … 1979. Dann nahm er den Finger von der Taste und bewegte den Zeiger über die Zahl 1979. Ein kleines gelbes Pop-Up zeigte: 19.07.1979.
Sein Mauszeiger schnappte sich wieder den Schieber und zog ihn weiter in die Vergangenheit. 1969 … 1968 … 1967 … 1966. Schlagartig wurde der Bildschirm von grauen Punkten und Rechtecken überhäuft. Das Stadtbild von Hanau hatte sich verändert. Straßen, die er vorher sehen konnte, waren verschwunden. Es war, als hätte man die Oberfläche gegen einen alten Stadtplan ausgetauscht. Johannes wollte sich einen der grauen Stelle näher anschauen und zoomte weiter in den Stadtkern hinein. Seine Ansicht war über dem Freiheitsplatz zum Stehen gekommen. Johannes starrte auf den Schirm, dann auf sein Glas mit dem Bruichladdich und wieder auf die schwarzweiße Abbildung. Das Einkaufszentrum auf dem Freiheitsplatz war verschwunden. Stattdessen standen hunderte Fahrzeuge vor ihren Parkuhren in Reih und Glied auf dem riesigen Parkplatz.
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Ihm fiel das Symbol eines kleinen Mannes am rechten Rand des Bildschirms auf, das dem grünen Männchen auf den alten DDR-Ampeln nicht unähnlich war. Streetview, dachte Johannes. Er ‚schnappte‘ sich das Männchen mit dem Mauszeiger und setzte es vor das Kino am Freiheitsplatz. Augenblicklich erschienen die zwei schwarzen Leinwände, auf die der Maler Gunkel damals in kunstvoller Gestaltung die Filmtitel gemalt hatte, die gerade im Central und in der Palette gezeigt wurden. Auf der Leinwand des Central Theaters stand in großen Lettern: Brennt Paris?
Diesen Film hatte er damals in Begleitung seiner Mutter ansehen dürfen. Seine Erinnerung spielte ihm in diesem Augenblick die letzte Szene noch einmal vor, in der Hitler die Frage in das Telefon brüllte, ob Paris endlich brenne.
Johannes‘ Hand zitterte, als er den Mauszeiger zu dem Instrument führte, das er inzwischen als Zeitachse bezeichnete. Als er über den Schieberegler glitt, zeigte das Pop-Up den 1. November 1966 und zusätzlich noch die Uhrzeit 13:42. Ein Klick auf die Uhrzeit ließ einen weiteren Balken erscheinen, der am linken Ende mit 00:00 bezeichnet war und rechts mit 23:59. Während er den Regler der Stundenachse nach links zog, glaubte er an einen Trick bei dem, was er sah. Menschen liefen schattenhaft rückwärts an den zwei Leinwänden vorbei. Bewegte er den Schieber nach rechts, liefen sie vorwärts. Johannes widmete sich wieder der Datumsachse und bewegte den Stift weiter in die Vergangenheit. Wild flackerte das Bild mit der Programmleinwand. Als Johannes die Maus nicht mehr bewegte, stand im Datumsfeld der 7. Mai 1966 und auf der schwarzen Leinwand des Central Theaters in riesigen Buchstaben das Wort Arabeske.
Johannes griff nach dem Whiskey und trank ihn in einem Zug aus. Mit fassungslosem Ausdruck stellte er das leere Glas zurück. Paly Root, die fahle Wurzel, wie er den Begriff übersetzte, war eine verdammte Zeitmaschine.


Dieses Kapitel ist jetzt auch schon wieder zu Ende.

Hier bekommt ihr einen Überblick:

Mel

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