Kapitel 1: Zwischen Gassen und Garküchen

Das Stadtbild von Saigon ist geprägt von riesigen bewaldeten Alleen, Einkaufsstraßen mit unzähligen Schuh-, Klamotten- und Bettwarengeschäften, Handwerksbetriebe, Schneiderstuben, Geschäfte für Sanitäranlagen, Toilettenzubehör, Modeschmuck, Obst- und Gemüseständen und und und. Die Palette von angebotenen Waren in der Stadt ist unüberschaubar. Neben den langen Marktstraßen gibt es dann auch noch in jedem Distrikt mindestens drei oder mehr Märkte, diverse Supermärkte, Schrauberwerkstätten und Convenience-Stores, Fastfoodketten, Tankstellen und größere Speiselokale. Das öffentliche, anonyme Saigon spielt sich auf den großen Straßen ab. Das private Saigon jedoch lebt in den kleinen verwinkelten Gassen, welche man von den Hauptstraßen nur bei genauem Hinschauen erblicken kann. Das sogenannte hẻm ist ein für sich abgeschlossenes System eines Wohnviertels. Die direkte Nachbarschaft kennt sich über mehrere Häuser hinweg mit Namen. Man begegnet sich vor der Haustür für eine kleine Unterhaltung, zum Kaffee und die Männer setzen sich abends zusammen im Kreis auf den Boden, trinken Reisschnaps, zocken Karten um Geld und rauchen meist zu viele Zigaretten. Zwischen zwei Häuserfronten ist oftmals nicht viel Platz. Oftmals passt nur ein Moped auf die Gasse; kommt ein Zweites, fährt man langsamer und rangiert aneinander vorbei. Das normale vietnamesische Haus besitzt meistens zwei Stockwerke. Das erste Zimmer ist nicht ein Flur mit Ankleide und Schuhschrank, sondern das Wohnzimmer. Der Boden ist gefließt und nackt; Teppiche kennt man in Vietnam eigentlich nicht. So kann es nun sein, dass zwischen dem eigenen Hauseingang und dem Fernseher des Nachbarn gerade mal ein paar Meter liegen. Sitzen dann noch die Herren zur feucht-fröhlichen Runde beisammen, ein weiterer Nachbar schmeißt die Karaokemaschine an, die Mutter schimpft mit Ihrem Kind, die Hunde bellen und ein Suppenverkäufer mit seinem Moped macht Werbung für sein exklusives Produkt über einen kratzenden Lautsprecher. So kann es schon morgens um 7 Uhr sehr laut werden. Im Prinzip braucht der hẻm-Bewohner sein Gebiet nicht zu verlassen. Denn auch für das leibliche Wohl sorgen sich die benachbarten Fressbudenbesitzer mit brutzelndem Grillfleisch und üppigen Reisportionen, Suppenküchen auf rostigen Mopeds aus einer vergangen Zeit oder die sympathische alte Frau verteilt Eis für umgerechnet 10 Cent pro Portion an die Kinder der Nachbarschaft (denn Kinder gibt wirklich viele). Selbst gegen Mitternacht kann man etwas zu Essen geliefert bekommen. Um diese Uhrzeit jedoch sind die Lautsprecher abgeschaltet und man hört nur noch ein getaktetes „klack klack klack“ in regelmäßigen Abständen. Ob sich gebratene Muscheln, Suppe, Hühnerfüße oder Klebreis hinter dem „klack klack klack“ verbirgt, erfährt man in der Regel erst wenn man die Tür geöffnet hat. Das alltägliche Leben in den unzähligen Labyrinth- ähnlichen Wohngebieten, die es in fast jeder größeren vietnamesischen Stadt gibt, geben Vietnam Farbe und zeugen von Gastfreundlichkeit, gegenseitiger Achtung und Geselligkeit. Kommt die Krankenschwester von der Nachtschicht nach Hause und muss bis Vormittags schlafen oder die Tochter will für die kommenden Prüfungen lernen, kann dies jedoch im Konflikt mit der Karaokeleidenschaft des Nachbarn stehen. Bewegt der vietnamesische Großstadtbewohner sich auf den großen Straßen noch in einer anonymen Metropole, ist er spätestens in seiner Wohngasse wieder in einer Art Dorf in der Stadt.

gasse


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