Christian von Boetticher war nie der Rede wert. Jetzt ist er es, sollte es aber eigentlich nicht sein. Folgende Zeilen könnten als Verteidigungsschrift für ihn gelesen werden - sie sind es aber nicht. Was verteidigt wird sind all jene, die unter dem falschen Gebrauch des Moralbegriffes leiden. Boetticher ist nur die weinerliche Charaktermaske, die mehr oder minder zufällig in den Tumult seiner Partei und bestimmter Presseorgane stolperte. Als politische Erscheinung ist er niemand, der Verteidigung verdient hätte, denn wer unkritisch in der Gefolgschaft der Christdemokraten mitmarschiert, wer Alter Herr einer pflichtschlagenden Studentenverbindung ist, wer Sinti und Roma in Anbetracht deutscher Geschichte nicht als schützenswerte Minderheit wahrnimmt und wer als Doktor den Rücktritt eines akademischen Schwindlers bedauert, den kann man nur schwerlich verteidigen wollen. Seine politischen Anschauungen sollten von Sittenwächtern beobachtet werden, nicht aber sein Privatleben. Dieses gehört, weil das Privatleben aller unantastbar sein sollte, verteidigt.
... darf es niemand wissen, wenn man sich küsst...
Boetticher hat nicht strafrelevant gehandelt. Der einvernehmliche Beischlaf mit einer Sechzehnjährigen ist nicht strafbar - ferner war sie ihm auch keine Schutzbefohlene. Hätten es einer von beiden nicht gewollt, dann gäbe es einen Straftatbestand. Das Mädchen äußerte sich aber mit keinem Wort, dass es gezwungen worden wäre. Ganz im Gegenteil. Moralisch antastbar wäre diese Handlung aber auch, wenn das Mädchen mit anderen Mitteln als unmittelbarer Gewalt zum Sex gezwungen worden wäre, wenn also nicht ihre Reife, ihre sexuelle Mündigkeit sie zu diesem Schritt mit einem älteren Mann, sondern beispielsweise gebotenes Geld oder falsche Versprechungen sie dazu ermutigt hätten. Von dergleichen ist jedoch auch nicht die Rede gewesen bislang.
Nichts, was da zwischen Boetticher und dem Mädchen geschah, ist von öffentlichen Interesse. Juristisch gesehen trafen sich da zwei sexuell mündige Menschen, die nicht nur sexuelle Handlungen teilten, sondern, wie beide bejahten, Liebe füreinander empfanden. Es war keine Affäre, wie kolportiert wird, beide waren in Liebe oder was sie dafür hielten. Gut, werden manche einwenden, ein so junges Ding weiß doch gar nicht, was Liebe bedeute - kann sein, kann nicht sein. Wer will das bewerten? Ein Staatsanwalt, der die Liebesgesinnung erschnüffeln soll etwa? Ein Psychiater, der Liebesfähigkeit im öffentlichen Auftrag diagnostizieren darf? Wenn heute jemand von Liebe spricht, dann müssen wir sie ihm abnehmen, aus Mangel an Gegenbeweisen - so funktioniert letztlich rechtsstaatliches Denken. Darf es niemand wissen, wenn man sich küsst? Im Falle Boettichers hätte es niemand wissen brauchen, denn es ist mitnichten Aufgabe der Öffentlichkeit, Liebes- oder Sexualverhältnisse zum Gesprächsstoff zu machen, die zudem in keinerlei Weise gegen geltendes Recht verstoßen haben.
... niemals werde ich bereuen, was ich tat, und was aus Liebe geschah, das müsst ihr mir schon verzeihen...
Gekonnt übergehen dabei die selbsterklärten Sittenwächter, dass beide Seiten, auch das Mädchen selbst, nichts bereuen. Das Mädchen ist dennoch Opfer, gleichwohl sie es so nicht empfindet. Boetticher selbst wird nun dazu gedrängt, Reue zu zeigen - das gehöre sich nämlich. Beide sprachen von Liebe und tatsächlich kannten sich beide schon über Monate, bevor es zum ersten Treffen kam. Wer schnell ein junges Mädchen deflorieren möchte, der buhlt um diese Gunst nicht monatelang, der könnte schneller ans Ziel gelangen - ein "gemachter Mann" wie Boetticher sowieso. Er soll nun bereuen, er soll bereuen, dass sich ein Liebesgefühl für jemanden entwickelte, den die Öffentlichkeit für zu jung erachtet. Wohlgemerkt nicht für juristisch zu jung, sondern aus einem vagen sittlichen Bauchgefühl heraus. Die politische Korrektheit unserer Gesellschaft greift somit auf die stalinistische Kampagne der öffentlichen Selbstanklage und Selbstkasteiung zurück, bei dem man Fehler öffentlich zugeben soll, von denen man nicht überzeugt ist, sie gemacht zu haben.
Er muß sich also tatsächlich für seine Liebe entschuldigen. Das ist mittelalterlich, das ist die Moral früherer Tage. Für die Liebe, so wissen wir, die wir alle liebten oder lieben, gibt es keine Barrieren. Stellt sich Liebe ein, so verschwinden alle Schranken im Gefühlsstrudel. Räumliche Entfernung, körperliche Behinderungen oder Altersunterschiede spielen keine Rolle mehr - die Liebe ist zuweilen ein großer Gleichmacher, läßt die Liebenden auf einer Stufe stehen. Für diesen Mann, der dreiundzwanzig Jahre älter war, als seine sechzehnjährige Freundin, war dieser Unterschied kein Hemmnis. Die Logik der Liebe ist, dass es keine logischen Schlüsse gibt. Wer liebt, der fragt nicht nach Barrieren, der überwindet sie. Der fragt auch nicht, ob diese Liebe ein Fallstrick für eine politische Karriere sein kann. Nur das Umfeld möchte diese Schrankenlosigkeit nicht akzeptieren, auch dann nicht, wenn diese Barrieren nur von moralindurchtränkter, nicht aber von strafrelevanter Art sind.
... jeder kleine Spießer macht das Leben mir zur Qual, denn er spricht nur immer von Moral...
Tatsächlich hat Boetticher die Macht der Liebe überschätzt. Die kleinen Spießer, die innerhalb seiner Partei wüten, verstehen das Hals über Kopf der Liebe nicht. Boetticher, der das Klima in seiner Partei mitgestaltet, trägt damit natürlich auch Schuld. Seine politische Auffassung erschafft erst diese Spießigkeit. Die Christdemokraten sind nie über das Sittlichkeitsgefühl der Adenauerzeit hinausgekommen, damals, als Sitte und Moral noch Begriffe waren, über die man angestrengt nachdachte, während man sich in aller Heimlichkeit auf dem Weg ins Puff machte. Das berühmte Presseorgan, das gerne an der Seite christdemokratischer Gesinnung springt, entstammt aus demselben Milieu, auch wenn es täglich wippende Brüste feilbietet. Nackte Mädchen ab achtzehn Jahren sind politisch korrekt, wenn man deren abgelichteten Körper nutzt, um effektiver zu onanieren - ein sechzehnjähriges Mädchen, das man liebt, das ist politisch nicht korrekt, das darf man nicht dulden.
Sie führen ethische Betrachtungsweisen im Munde, meinen dabei aber nur ihren spießigen Mikrokosmos, in dem es von schiefen Sichtweisen und kruden Thesen nur so wimmelt. Und sie reagieren im aktuellen Falle auch so kopflos, weil sie der öffentlichen Empörung zuvorkommen wollen - denn sie wissen auch, die Öffentlichkeit prüft nicht kritisch, prüft nicht, ob diese Liebe zweier ungleicher Menschen, von öffentlichen Interesse ist, sie reagiert emotionalisiert und will Konsequenzen sehen. Die Öffentlichkeit mit ihrer Stammtischmoral macht sich zum Richter, wo gar kein Richter vorgesehen ist. Diese Stammtischmoral, die nicht reflektiert entsteht, sondern durch Emotion, Überspanntheit und Aufregung, ist freilich auch die Leistung dieser frömmelnden Partei - sie hat kein Interesse an denkenden Bürgern, sie ist ja vielmehr froh, dass die Masse unkritisch reagiert. In anderen Fragen natürlich, wenn es um Reformen geht - aber die Nichtdenke der Masse schwappt eben auch, und gerade dorthin, ins Boulevardeske.
... Liebe kann nicht Sünde sein, doch wenn sie es wär', so wär's mir egal...
Boetticher ist ein politischer Windbeutel. Ein Parteisoldat, der nachäffte, was man ihm vorgab. Aber er hat in dieser privaten Angelegenheit in Liebe gehandelt. Und somit nicht strafrelevant - man kann es nicht oft genug betonen! Wer die Liebe kennt, der weiß, was sie bewegen kann. Boetticher muß man nicht sympathisch finden, aber ihn deshalb zu kriminalisieren: das ist kriminell! Seine politische Faxenmacherei müsste eigentlich verurteilt werden. Wie kann es sein, dass keine siebzig Jahre nach dem Mord an Sinti und Roma, sich jemand wie Boetticher arrogant hinstellen kann, um dieser gesellschaftlichen Gruppe keinen besonderen Schutz zu bewilligen? Das sollte strafrechtlich geprüft werden, nicht seine Liebe zu dieser noch sehr jungen Frau. Sie kann keine Sünde sein, sie war legitim und sollte schnellstens aus der Öffentlichkeit verschwinden. Sie geht uns nichts an, weil kein Richter im Namen des Volkes einschreiten braucht. Anderes ginge uns was an, aber darüber schreibt kaum jemand...