Als ich angefangen habe, diesen Artikel zu schreiben, führte Bernie Sanders alle Umfragen an und galt als Favorit für die Nominierung. Die Ereignisse des Super Tuesday zeigen mir die Weisheit meines Ansatzes auf, anders als 2016 nicht mehr tagesaktuell den jüngsten Schlagzeilen hinterherzuhecheln, sondern zu versuchen, eine weitere Perspektive einzunehmen. Ob das erfolgreich ist, müssen die Leser entscheiden, aber es erklärt vielleicht, warum ich deutlich weniger zu den Wahlen schreibe und wenig Voraussagen wage. Lange Rede, kurzer Sinn. Ich will für ungeduldige Leser die Leitfrage direkt zu Beginn beantworten: Klar, natürlich kann Bernie Sanders Präsident werden. Es ist nicht signifikant unwahrscheinlicher, als dass Donald Trump Präsident wird. Alles weitere besprechen wir jetzt.
Einstieg
Ich will mich gar nicht so sehr mit der Frage aufhalten, ob Sanders die demokratischen Vorwahlen gewinnen kann; sein Sieg hier soll im Folgenden eher vorausgesetzt als großartig diskutiert werden. Die Horrorszenarien der amerikanischen Linken, nach denen Sanders zwar eine Mehrheit der Stimmen gewinnt, aber nicht 51%, und nach dem ersten Wahlgang dann ein Kompromisskandidat den Zuschlag erhält, sind irrwitzig. Es gibt praktisch kein Szenario, in dem Bernie die Mehrheit der Stimmen gewinnt und jemand anderes nominiert wird, wie auch Damon Linker erklärt:
I could go on. Anointing Sanders the Democratic nominee could be very bad. But it wouldn't be as bad as trying to deny him the nomination after he'd won a plurality of the delegates during the primaries. Thinking that the institutional party has the requisite legitimacy and power to pull off such a coup against the plurality winner - especially one with such a large and passionate base of support, and one motivated in part by anger at that very same Democratic establishment - is delusional. A Democratic Party that nominated Sanders in 2020 could well be defeated. But a Democratic Party that denied him the nomination after he'd won a plurality of the delegates in the primaries would be certain to shatter and nearly guaranteed to lose.
Statt dieses Horrorszenarios soll unser Einstieg vielmehr eine Parallele sein, die von den amerikanischen Medien häufig gezogen wird: die Wahl von 1972. Hier trat der Amtsinhaber Richard Nixon, nicht unbedingt ein Gesicht, das Leuten beim Begriff "sympathisch" sofort in den Kopf kommt, gegen den demokratischen Herausforderer George McGovern an. McGovern weist einige Ähnlichkeiten zu Sanders auf: er führte eine sehr progressive Aufstandsbewegung innerhalb der demokratischen Partei und versprach eine grundsätzliche politische Revolution.
Nixon schlug McGovern 49:1 im Electoral College.
Nun ist das natürlich ein Vergleich, der besonders den eher moderaten Democrats, der zentristischeren Presse und den konservativen Gegnern leicht von der Hand geht. Umso interessanter ist es, wenn Konservative diesen Vergleich von sich weisen. So schreibt W. James Antle III. im American Conservative:
On the opposite end of the spectrum, one popular analogy is to compare Trump to Jimmy Carter and Bernie Sanders to Reagan. Sanders is supposed to be too old and too ideological to be president. So was Reagan, and he won 44 states. Trump, like Carter, recognized his party needed to change but once in office had to work with a party leadership that was largely uninterested in policy innovation. Ross Douthat argued in The New York Times that Trump and Carter were "both outsiders who seized control of a divided, exhausted, yet still powerful political party, both men who tried to push their coalitions into a new ideological formation, both presidents who commanded legislative majorities but accomplished next to nothing with them."
Wenn wir historische Analogien ausgraben, könnte natürlich noch eine weitere taugen: der Vergleich zur Kandidatur Barry Goldwaters, eines ausgewiesenen Rechtsradikalen, für die Republicans 1964. Der Amtsinhaber, Lyndon B. Johnson, schlug Goldwater vernichtend. Diese Frage - ist Sanders mehr Goldwater oder Reagan - findet sich auch in der Week. An historischen Analogien besteht also kein Mangel.
Ich will mich dem Thema insgesamt dialektisch nähern. Schauen wir uns zuerst die positiven Szenarien an, also Faktoren, die für einen Sieg Bernie Sanders' sprechen, und aus welchen Gründen das passieren könnte. Ich stütze mich dabei recht stark auf Zitate von konservativen amerikanischen Beobachtern, weil ich deren Ansätze für spannend halte - schließlich lehnen sie das, was Bernie Sanders verkörpert, ab. Wenn diese also Chancen sehen, ist das etwas, dem mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte als dem inhaltsleeren Gerede von der "politischen Revolution" oder den mit Grabesstimme vorgetragenen Befürchtungen der Moderaten vom Schlag eines Jonathan Chait. Diese Begründungen haben sich 2016 um kein Jota geändert.
The case for Sanders
Beginnen wir mit der Frage des Amtsinhabers. Trump verfügt, wie jeder Kandidat, sowohl über einige pointierte Stärken als auch Schwächen. Diese sollte man nicht nur aus progressiver Sicht beurteilen. Die Ablehnung Trumps durch Wähler der Democrats kann als gegeben angenommen werden. In den Worten des stets unterhaltsamen konservativen Wahlkampfsstrategen Rick Wilsons: " Democrats would crawl over broken glass to vote against Trump." Relevant ist, wie viele Independents und Moderats bereit sind, ihre Stimme gegen Trump abzugeben - und wie viele Republicans enttäuscht zuhause bleiben. Das ist die Grundregel der amerikanischen Polarisierung dieser Tage.
William Smith im American Conservative sieht in Bernie Sanders einen Ausgleich für Trumps Schwäche mit der eigenen Wählerschaft:
Given that Sanders' candidacy is deftly riding the wave of this new epoch, he may be more formidable than Republicans expect. Trump has gone wobbly on many of the core issues that animated his 2016 candidacy. His pledge to get out of Middle East wars was followed by the appointment of hawkish Bush-style neoconservative advisors who are now fomenting a war with Iran, which would be a death sentence for his candidacy. You can bank on the fact that Bernie's foreign policy team will send him to campaign in Michigan, Wisconsin, and Pennsylvania, where Trump's warlike posture in the Middle East is hardly as popular in working-class neighborhoods as it is at the American Enterprise Institute. Trump's attacks on Wall Street during his campaign were promptly followed by the appointment of Goldman Sachs' own Gary Cohn to be his chief economic advisor and the swift death of his pledge to end the carried interest loophole for hedge funds. Trump has no doubt managed the economy well, but he is in many ways an establishment Republican so far as his economic policies go. Trump's marquee promise to shut down illegal immigration on the southern border cannot be considered a success, as Ann Coulter will testify. And while the wisdom of a wall might be questioned, the failure to build it could be a clear political liability to the president among his base.
Ich muss zugeben, dass ich eher skeptisch darin bin, wie viel Relevanz die konservativen Wähler Trumps gebrochenen policy-Versprechen gegenüber relativ zu seiner verlässlichen Bereitstellung glühender Identity Politics zukommt. Möglicherweise ist das aber gar nicht so relevant. In einem anderen Artikel im gleichen Magazin argumentiert Robert Merry:
Voters don't get hung up on the views of challengers; they focus on the performances of incumbent presidents and parties. That, primarily, is what drives presidential elections. [...] Thus will Donald Trump rise or fall this year on his record, not on who his opponent is.
Er kommt zu dem Schluss:
If we apply those same keys today to Trump's presidency and reelection bid, it appears they could point either way, to victory or to defeat. Some remain indeterminate for now; others can be answered only through subjective reasoning.
Wie ich im in meinem eigenen Artikel beschriebenen Gegensatz von Referendum oder Wahl erklärt habe, spielen konkrete Policies vielleicht gar keine große Rolle. Genauso wenig mag relevant sein, ob Bernie Sanders irgendwann in den 1980er Jahren mal was Positives über die Sowjetunion gesagt hat oder ob Medicare for All nun finanzierbar ist oder nicht. Wenn es der demokratischen Wahlkampfführung gelingen würde, die Wahl komplett als ein Referendum über Trump zu konstruieren, bei dem die Person, gegen die er ausgetauscht wird, keine große Rolle spielt - Trump wäre, Stand heute, Toast. Wie es, immer noch beim American Conservative, Grayson Quay formuliert:
Slowly, a narrative is solidifying: if you're ready to say "the hell with it," vote Sanders; if you want more of the same, vote Trump. This perception could prove fatal to the incumbent.
Ein weiteres Argument, das besonders aus progressiven Kreisen vorgebracht wird (an dieser Stelle lassen wir den American Conservative erst einmal hinter uns), ist das Demographische. Konkret geht es um die mittlerweile schon fast volljährige Idee von der " emerging Democratic majority", also der zunehmend progressiveren Wählerschaft. Die Theorie basiert vor allem darauf, dass junge Wähler überwiegend progressiv eingestellt sind (was im Übrigen auf große Teile der westlichen Welt zutrifft) und ihre Einstellungen später im Leben wahrscheinlich nicht mehr ändern. Im Atlantic bekommen wir von Ibram X. Kendy zum Thema Jungswähler die positive Variante vorgestellt:
Despite all the talk of the 6 million Obama-to-Trump voters winning the election for Trump, more Obama voters in 2012 swung to not voting (4.4 million) or voting third party (2.3 million) in 2016. These other swing voters were more likely to be younger and people of color-and especially young black people. Today, they are likely to favor progressive candidates.
Ibram X. Kendy schreibt noch viel mehr zum Thema, aber das ist die Hauptsache. Die Vorstellung ist, dass ein nie dagewesener youth turnout, also die Wahlbeteiligung junger Wähler (alles unter 30), Bernie Sanders ins Amt spülen werde. Diese Idee ist der Grundstein der politischen Revolution, die Sanders und seine Anhänger als Basis ihrer theory of change sehen, also als Antwort auf die Frage, wie sie das amerikanische politische System umgestalten wollen, das vor allem durch seine hohe Toleranz gegenüber Wandel berühmt ist. Eine ähnliche Theorie liegt den insurgents von der Linken häufig zugrunde, wir fanden sie in Großbritannien auch bei Jeremy Corbyn.
Eine Parallele, die wenig beitragen dürfte, die Herzen von Sanders-Zweiflern zum Verstummen zu bringen, ist die zu Jeremy Corbyn. Hierzu hat Andrew Sullivan einige Anmerkungen:
Bernie, of course, has strengths Corbyn didn't and doesn't. Bernie's a strong and aggressive debater and speaker, where Corbyn is useless, passive and meandering. Sanders is much more widely liked than Corbyn ever was. His favorables are at a negative 2.7 percent - nowhere near Corbyn's ratings in the negative 30s. There's no third party on the center-left like the Lib Dems to split the anti-Trump vote. Polarization in the U.S. is also so deep that a huge McGovern- or Corbyn-scale loss for the Democrats is unlikely. The polling now gives Bernie an edge over Trump - and a marginally bigger one than his opponents. For his part, Trump is not as deft a politician as Johnson.
Wir werden Sullivan und seinem Corbyn-Vergleich später noch einmal begegnen, wenn es darum geht, welche Schwächen Sanders aufweist. Wo wir gerade bei Schwächen sind, die Corbyn und Sanders teilen: Ryan Cooper von der Week verwirft Sanders Schwäche mit kommunistischen Allüren:
To any even slightly good-faith interlocutor, what Sanders said about the USSR or Cuba is anodyne or even boring. These countries have a few good aspects but are generally pretty wretched. That's why we should aim at the Norway example, which proves we can have a dramatically more equal and comfortable society without sacrificing democracy. Attempting to whip up a McCarthyite frenzy over gentle social-democratic reforms is transparently ridiculous and smacks of desperation.
Der Kandidat war zuletzt damit aufgefallen, das kubanische Bildungssystem zu loben. Zudem waren Videos aus den 1980er Jahren aufgetaucht, in denen Sanders die Sowjetunion zu loben schien. Diese waren zwar aus dem Kontext gerissen, aber angesichts Sanders' Umarmung des Labels "Sozialismus" spielt das wahrlich keine Rolle. Es besteht praktisch keine Chance, den Wählern den eigentlichen Kontext zu erklären. Sanders müsste darauf hoffen, dass Coopers Einschätzung hier sich bewahrheitet. Das ist nicht grundsätzlich unwahrscheinlich; die Wählerschaft war 2016 auch bereit, eine ganze Menge Bullshit aus Trumps Mund und Vergangenheit zu ignorieren, der wesentlich schlimmer war als Sanders' Fehltritte. Es ist auch sicherlich richtig, dass Sanders eher problematische Aussagen zu den kommunistischen Diktaturen den Jungwählern egal sind.
Zudem hat Sanders gegenüber Clinton einen großen Vorteil im Umgang mit diesen Aussagen. Er entschuldigt sich nicht und weigert sich beharrlich, öffentlich anzuerkennen, dass es sich um einen Fehler handelt. So sehr das als unschöner Charakterzug gelten muss (dazu später mehr), so effektiv ist es doch unzweifelhaft als politische Strategie. Man muss sich nur Trump 2016 ansehen, um klar bewiesen zu bekommen, dass Lügen und Verleugnen eine wesentlich erfolgreichere Strategie als Eingestehen und Entschuldigen ist. Hillary hätte sich für die Mails vermutlich nie entschuldigen sollen. Aber sowohl sie als auch ihre Partei sind eben wesentlich zu anständig dafür. For better or worse, diesen Nachteil hat Sanders nicht.
Um den positiven Teil abzuschließen ein kurzes Fazit. Sanders ist außerordentlich gut geeignet, um Trump auf dessen eigenen Grundlagen als Kandidat des change anzugreifen, den Trump nicht geliefert hat. Gelänge ein solcher Wahlkampf, und hielte die Prämisse, dass der Hunger nach change weiterhin ungebrochen ist, dann wäre dies letztlich die Grundlage, auf der Sanders die Wahl gewinnen könnte. Wenn dagegen Joe Bidens Prämisse, dass die Wählerschaft eine Rückkehr zum Status Quo und Ruhe und Frieden wolle, sich bewahrheiten sollte, dann würde Sanders aller Wahrscheinlichkeit nach sehr schlechte Karten haben. Welche dieser Prämissen korrekt ist, lässt sich nur auf eine Art abschließend klären: an den Wahlurnen im November 2020.
The case against Sanders
Beginnen wir einfach dort, wo wir aufgehört haben (auch wenn es nicht unbedingt den formalen Regeln einer Erörterung genügt): bei den Aussagen Sanders' gegenüber den kommunistischen Regimen von Vergangenheit und Zukunft. Genauso wie vorstellbar ist, dass diese Aussagen an ihm abprallen, ist ebenso vorstellbar, dass sie eine Art "Hillarys Emails" werden. Schaut man sich an, wie Wähler die Kandidaten in einem Wort beschreiben, fällt auf, dass bei den Republicans das Branding des "socialist" bereits jetzt alles überstrahlt:
- Philip Bump (@pbump) February 28, 2020
Und bisher hat die GOP-Parteizentrale peinlich darauf geachtet, keine großen Attacken gegen Bernie Sanders zu fahren. Vorstellbar ist daher leicht folgendes Szenario:
Sanders gewinnt die Nominierung. Die GOP beginnt, analog zu Hillarys Emails, mit einer beispiellosen Schmutzkampagne, die selbstverständlich von allen Leitmedien mitgetragen wird. Jedes noch so kleine Fitzelchen, das Sanders je zum Thema Kommunismus oder Sozialismus gesagt hat, wird endlos debattiert und grundsätzlich allen rassistischen, hetzerischen oder sexistischen Aussagen des Präsidenten gleichgestellt, denn wenn in US-Medien, die nicht zum rechten Propaganda-Apparat gehören, etwas eisern gilt, dann das Gesetz des Bothsiderismus. Nicht nur wird das dann massiv dabei helfen, die Basis der Republicans zur Wahl zu motivieren und so die Wahl eines kommunistischen Diktators zu verhindern, es wird, entscheidend, dazu beitragen dass dieses Label bei den Independents verfängt. Und auf die sind die Democrats, folgt man David Frum, entscheidend angewiesen:
Democrats succeeded in Trump country because the Democratic Party attracted a broad coalition of moderates and liberals. The Sanders campaign aims first and foremost to reinvent the Democratic coalition as a narrower ideological movement, in much the same way that the once-broad Republican coalition has been transformed. But the difference between the two is that many fewer Americans identify as "progressive" than as "conservative." Worse for Democrats: Not only does Sanders propose to break the cookie in such a way as to leave his party with the smaller piece, but he also does so in a political context that already disfavors them.
Nun ist es natürlich nicht so, dass die Democrats zwingend darauf angewiesen wären, ihre Koalition von 2018 direkt wiederzubeleben. Theoretisch ist es möglich, dass Sanders eine eigene, neue Koalition aufstellt. Die Strategie, die oben von Frum skizziert wird, ist letztlich auch die, die Biden fahren wird und die Clinton 2016 fuhr: Eine möglichst breite Koalition von den armen Schwarzen der Innenstädte bis zu den wohlhabenden Bürgern Suburbias. Das funktionierte bei den Midterms sehr gut und führte zu einer blauen Welle, die einer der größten Umschwünge im Kongress der jüngeren amerikanischen Geschichte mit sich brachte. Dieser Erfolg lässt sich mit Sanders in dieser Art nicht wiederholen; Sabato's Crystal Ball bewertet Sanders als "Steuer" auf die Chancen der Democrats, weil der Senat deutlich problematischer wird.
Sanders' Strategie lässt sich auf zwei mögliche Arten beschreiben. Entweder setzt er auf eine schmalere, aber dafür tiefere Koalition. Die Argumentation dafür kommt nicht von Sanders, sondern von einer seiner Unterstützerinnen, Alexandria Ocasio-Cortez:
Das ist letztlich Trumps Strategie. Auch der machte die Wählerschaft schmaler, aber tiefer. Was ist damit gemeint? Anstatt möglichst viele verschiedene Gruppen mit einer weithin akzeptablen Botschaft anzusprechen (letztlich das, was in Deutschland immer "die Mitte" genannt wird), wird die Botschaft stärker an den jeweiligen Rand angepasst, dessen Wahlbeteiligung dafür höher ist. Das ist etwa auch Merz' Modell, oder die Grundidee eines Kevin Kühnert oder all derer, die die SPD wieder nach links schieben würden. Und wie Trump gezeigt hat, kann das auch funktionieren.
Oder aber auch Sanders setzt auf eine breite Koalition, allerdings auf eine der wirtschaftlich Benachteiligten. Das ist die traditionelle Idee der Sanders-Anhänger; der heilige Gral der Wiedergewinnung der weißen Facharbeiterschicht aus dem Mittleren Westen. Ich halte das allerdings für eine Mirage. Ich will kurz beide Varianten skizzieren.
Theorie Nummer eins, die einer schmalen aber tiefen Koalition, hängt vor allem an einer Mobilisierung der Jungwähler. Diese sollen angesichts ihrer zu Neigung zu mindestens 70-80% in Richtung der Democrats die Mehrheit sichern. Und um das klar zu sagen: Würde die Wahlbeteiligung dieser Gruppe ähnlich hoch sein wie die der Rentner, stünde ein nie dagewesener Sieg Sanders' ins Haus. Nur, es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das klappt. Denn diese auch von Sanders selbst oft vorgebrachte Wahlbeteiligung zeigte sich bei den Vorwahlen bisher überhaupt nicht. Das Argument, dass die Jungwähler zwar den Vorwahlen fern blieben, sich dann aber begeistert im November registrieren werden, ist etwas löchrig.
Aber auch die Idee einer breiten Koalition mit Rückgewinnung der Wähler, die aktuell zu den Republicans abgewandert sind, halte ich in dem Ausmaß, wie Sanders sich das vorstellt, für abwegig. Das Problem ist schlicht, dass die Interessen innerhalb der Democrats auf der einen und dieser Wähler auf der anderen Seite zu disparat sind. Viele der über die vergangenen zwei Dekaden vor allem im Mittleren Westen verloren gegangenen Wähler wollen schlichtweg nicht Teil einer multiethnischen Koalition sein, wie sie die demokratische Partei heute darstellt.
Und genau mit diesem Teil der demokratischen Partei hat Sanders auch seine größte Schwäche. Das kann als bewiesen angesehen werden. Seine Performance in den Vorwahlen 2016 und 2020 gleicht sich, und die von ihm unterstützten Kandidaten 2018 wiesen dieselben Probleme auf. Es sind vorrangig schwarze Wähler, die ihm beharrlich die Unterstützung verweigern. Und auf deren Wahlbeteiligung ruht jeder Sieg. Ein Kandidat also, der bei diesen Wählern nicht zu reüssieren vermag, hat einen inhärenten Nachteil gegenüber Trump, den er durch große Gewinne in dessen Lager ausgleichen müsste. Jede Strategie, die das ermöglicht, stößt aber gerade die Schichten vor den Kopf, die Sanders dringend braucht. Dieses Dilemma ist ein altbekanntes.
Ein weiterer Faktor, der gegen Sanders' Erfolgswahrscheinlichkeit gegenüber Trump spricht, ist seine wenig überzeugende Wahlkampfführung. Diese verhagelt ihm aktuell vor allem die Wahlchancen in den Primaries, aber sie deutet auch massive Probleme in der Zukunft an. Ezra Klein erklärt die taktischen Probleme:
It's not that Sanders is running a weak campaign. But he is, in a way, running the wrong campaign. He's the frontrunner for the Democratic nomination - at least he was until tonight - but he's still running as an insurgent. The political revolution was supposed to close the gap between these realities: If Sanders could turn out enough new voters, he could sweep away the Democratic establishment and build his own party in its place. But going all the way back to Iowa, that strategy failed. Sanders won as a Democrat, not a revolutionary, and he needed to pivot to a strategy that would unite the existing Democratic Party around him. [...] But to win the Democratic primary and govern as a Democratic president, you need to win over Democrats who aren't your natural allies, who didn't start out in your corner. Biden knows that and acts accordingly. The Sanders campaign is going to have to learn the same lesson, and fast.
Man könnte jetzt erwidern, dass Trump dasselbe Kunststück gelungen ist. Nur, die republikanische Partei war durch anderthalb Dekaden Extremismus bereits sturmreif geschossen. Sie wartete geradezu nur auf einen opportunistischen Volkstribun; die Vorwahlen von 2012 waren da bereits ein (aus der Rückschau sichtbarer) Vorgeschmack. Die demokratische Partei zeigt wenig Anstalten, jubelnd das Establishment niederzureißen. Stattdessen feiert das Establishment 2016, 2018 und 2020 Triumph um Triumph. Wo bei den Republicans die aufständischen Tea-Party-Kandidaten über ein Drittel der Abgeordneten ausmachten und den republikanischen Kongress dominierten, machen die Jungsozialisten kaum zehn Prozent der Democrats aus und haben kaum Einfluss auf das Geschehen im Kongress. Wo Boehner und Ryan völlig die Kontrolle verloren, behält die Eiserne Lady Pelosi alle Fäden in der Hand. Das spricht alles nicht für Sanders' Fähigkeit, die Partei umzukrempeln.
Und wenn er sie nicht umkrempeln kann, dann muss er mit ihr zusammenarbeiten. Und da sieht es nach wie vor düster aus. Sanders war bislang, in offenkundigem Kontrast zu Biden, nicht in der Lage, relevante endorsements einzusammeln. Er bekam früh die Unterstützung von Ocasio-Cortez, die ich zwar sehr schätze, die aber mit über die miesesten landesweiten Beliebtheitswerte verfügt. Unter den ehemaligen Kandidaten unterstützte ihn nur Marianne Williamson - eine Art New-Age-Lifestyle-Guru, die vor allem durch völlig abwegige Äußerungen über kosmische Strahlung in den Debatten auffiel.
Von den ernstzunehmenden Kandidaten, die Sanders näher wären als Biden - Booker, Harris, Warren - gibt es keine Unterstützung, sondern nur Schweigen. Möglich, dass man sich auf einen opportunen Moment verständigt hat. Aber wenn das so wäre, hätte man sich in der Auswahl dieses Moments zumindest im ersten Anlauf verschätzt. Aktuell muss man es als Indikator dafür nehmen, dass Sanders nicht in der Lage ist, die demokratische Partei unter seiner Führung zu einigen. Und mit einer gespaltenen Partei in den Wahlkampf zu gehen, das würde die eingangs bemühte Parallele zum McGovern-Desaster doch wieder unangenehm aktuell machen.
Als letzter Faktor muss angebracht werden, dass die eine Gestaltung der Wahl als Referendum über Trump, für das die Democrats gute Karten haben, mit Bernie Sanders nur schwer möglich wäre. Es entspricht weder seinem Stil noch seinen Verwundbarkeiten. Sanders müsste die Wahl zwingend als Entscheidung für ihn gegen Trump inszenieren. Im ersten Teil des Artikels haben wir dargestellt, warum das klappen könnte. Die Argumentation gegen den Erfolg dieses Szenarios ist einfacher und lässt sich in einem Satz zusammenfassen, den ich auf Twitter gelesen habe und der sich an Prägnanz kaum toppen lässt: Wenn die Amerikaner die Wahl zwischen einem Arschloch und einem Sozialisten haben, werden sie das Arschloch wählen.
Etwas ausführlicher bekommen wir das Problem von Andrew Sullivan geschildert:
The major difference between Bernie and Corbyn, of course, is their relative popularity. Bernie is much more liked than Corbyn ever was among the public at large, and polls better than Trump in a way that Corbyn never managed against David Cameron, Theresa May, or Boris Johnson. When Corbyn first emerged as the Labour Party leader in 2015, in a party membership vote that he won by a landslide larger than Tony Blair's in 1994, the general public was less impressed than his fellow Labourites were. In YouGov's polling, Corbyn started out at a negative 8 percent approval/disapproval rating. But his Labour leadership opponents had never unleashed the kind of warfare the Tories were about to, in exactly the same way Bernie has so far managed to dodge the worst of the charges and smears that will be brought to bear by the GOP in the summer and fall. Before too long, as the public grew more aware of who Corbyn was, his ratings began to plummet. Between September 2015 and January 2016, as opposition research took its toll, and the Tory tabloids stuck the knife in, he dropped to a net negative 39 percent. It took just five months to define him indelibly, and destroy him politically. There are now just less than nine months before the U.S. election.
Der Punkt ist schlicht, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Sanders' aktuell hohe Beliebtheitswerte einen starken Sinkflug hinlegen, sobald er der Kandidat ist, ist sehr hoch. Es wird gerne vergessen, dass Hillary Clinton zu Beginn des Wahlkampfs Zustimmungswerte von 70% in der amerikanischen Bevölkerung hatte. Es war eine unablässige und höchst erfolgreiche Schmutzkampagne, die ihre Werte so dezimierte. Als weißer Mann ist Sanders etwas besser geschützt als sie, und Sullivan weist zurecht darauf hin, dass Sanders einige Qualitäten hat, die ihm helfen dürften. Aber anzunehmen, dass er signifikant viel sauberer gesehen würde als Trump, ist in höchstem Maße naiv.
Auch hier ein Fazit. Es kommt darauf an, ob die Prämisse über die eigene theory of change stimmt oder nicht. Wenn die Wahl, wovon das demokratische Establishment offensichtlich ausgeht, ein Referendum über Trump sein muss und es keine Mehrheit für eine sozialdemokratische Umgestaltung des Landes gibt, dann wäre Sanders ein Weg in den Untergang, der mit Corbyns völliger Vernichtung in der Wahl 2019 vergleichbar wäre. Und ich will nicht hören, dass Corbyn so hoch gar nicht verloren hat, wenn es um absolute Prozentwerte geht. Hillary Clinton hat drei Millionen Stimmen mehr als Trump und kann sich von dieser Errungenschaft nicht mal ein Sandwich kaufen.
Aber wäre er ein guter Präsident?
Wir haben bisher die Frage gestellt, ob Sanders Präsident werden kann. Ja, kann er, ohne Zweifel. Seine Chancen sind dabei schwierig zu ermessen, aber es ist nicht so unvorstellbar, wie es vor recht kurzer Zeit noch war.
Wir kommen zum dritten Mal bei dem Thema der Kommentare zu Kuba und der Sowjetunion an. Statt uns dieses Mal zu fragen, welche Auswirkungen das auf Sanders' Wahlkampf haben würde, möchte ich stattdessen eine Problematik anschneiden, die auf Sanders' mögliche Präsidentschaft ausstrahlt. Es gilt, was David Faris sagt:
There's an easy way for Sanders to handle this kind of question: "I was wrong to say anything positive about Fidel Castro, who was a brutal tyrant. But American foreign policy in these countries was still catastrophic and we should never side with dictators no matter what side of the political spectrum they happen to fall on." Easy peasy lemon squeezy right? Not for this guy. He can't do it. He can't walk back a mistake. And it's terrifying.
Selbst wenn man nicht überzeugt ist, dass Sanders ein kommunistisches U-Boot ist (wozu es schon eine gehörige Basis ideologische Verblendung braucht), sind seine Relativierungen der kommunistischen Diktaturen aus dem oben genannten Grund problematisch. Sie verweisen mindestens auf einen generellen Unwillen, vielleicht auch eine Unfähigkeit, Fehler einzugestehen. Man kommt damit in manchen Fällen durch. Aber halt nicht in allen. Wir haben jetzt vier Jahre lang erlebt, welche Auswirkungen eine solche Haltung hat. It wasn't pretty.
Und Sanders ist einfach kein Teamtyp. Zwar ist sein Ruf als sozialistischer Querschütze völlig übertrieben; im Kongress war er tatsächlich einen Großteil der Abstimmungen ein loyaler Unterstützer der Partei. Aber er gehört nicht zur Partei, und er wich in recht wichtigen Fragen sehr publikumswirksam ab (manchmal durchaus zu Recht, siehe Irakkrieg). Es ist allerdings ein Zeichen dafür, dass er nicht übermäßig flexibel sein dürfte.
Auf der anderen Seite ist Flexibilität in unseren polarisierten Zeiten auch überbewertet. Joe Biden halluziniert, wenn er glaubt, Kompromisse mit den Republicans schließen zu können. Der nächste Präsident wird angesichts der Mehrheitsverhältnisse so oder so auf seine Durchsetzungskraft bei den executive orders angewiesen sein. Doch auch hier lässt Bernie Sanders' bisherige Haltung nicht vermuten, dass er übermäßig gut geeignet wäre, das zu tun - er hängt genauso an den alten Normen wie Biden oder Obama das taten, ein merkwürdiger innerer Widerspruch in diesem sonst so eher aufständischen Typen.
Noch wesentlich schlimmer: Sanders hat kaum Erfahrung in Exekutivfunktionen und kennt diese nicht einmal wie der Verfassungsrechtler Obama von der theoretischen Warte her. Noch dramatischer wirkt sich aus, dass er wegen seiner geringen Verankerung in der Partei auch über keinen großen Pool von Experten verfügt, auf den er zurückgreifen kann.
Tatsächlich ist Sanders' größtes Problem in meinen Augen, dass ihm das nötige Personal fehlt. Die Konsequenzen dieses Problems hat Michael Lewis in seinem Buch " Erhöhtes Risiko" (im englischen Original " The Fifth Risk") beschrieben, denn dasselbe Problem hatte Trump auch. Als von Außen kommender, der die Partei in seinem Sinne umkrempelte und auf seine Linie brachte, eroberte er zwar die politische Macht. Aber der Präsident muss im amerikanischen System (ohne Übertreibung) tausende Stellen mit persönlichen Ernennungen füllen, anders als in Deutschland, wo, wie wir gelernt haben, Berufsbeamte von jeder neuen Regierung geerbt werden.
Und für diese tausende von Stellen braucht es vorbereitete Listen, braucht es Kandidaten. Mehrere pro Stelle im Idealfall, weil man nie weiß, ob man alle durchkriegt (viele müssen im Senat bestätigt werden, und die Chancen stehen schlecht, dass ein Präsident Sanders da eine Mehrheit hätte). Ich wäre überrascht, wenn Sanders eine dreistellige Zahl kompetente Leute hätte, die er auf diese Posten hieven könnte. Damit würde seine Administration in dasselbe Problem laufen, in das die Trumps auch rannte.
Nur: Trump ist ein Saboteur. Er und seine Partei WOLLEN, dass das ganze System nicht funktioniert. Eine kopflose Behörde, die keinen Plan, keine Führung, keine Vernetzung zu anderen Behörden und keine Verbindungen in den Kongress hat ist eine nutzlose Behörde. Und hier, fürchte ich, wird ein Präsident Sanders gegen eine Mauer laufen, werden seine Maßnahmen im Sande verlaufen.
Das liegt schlicht daran, dass Sanders letztlich den falschen Weg wählt, die Partei zu ändern. Eine Partei wird nicht top-down revolutioniert, sondern bottum-up. Wie gesagt, die Republicans wurden über Jahrzehnte radikalisiert, ehe die wahren Demagogen an die Macht kamen. Und selbst dann blieb ihre Ersatzbank reichlich flach. Davon ist bei den Democrats noch nicht einmal ein Ansatz zu spüren. Der Wandel, den Sanders zu erreichen sucht, muss in meinen Augen organisch von unten kommen.
Fazit
Aber - nichts von alledem muss so kommen. Es gibt schlicht keine Erfahrungswerte mit irgendetwas davon. Sanders kann überragend gewinnen, und er kann überragend verlieren. Von allen Kandidaten hat er die größte Bandbreite möglicher Ergebnisse. Er kann ein transformativer Präsident werden, ein linker Ronald Reagan, oder er kann ein gescheiterter Präsident werden, ein Jimmy Carter 2.0. Das Potenzial ist in alle Richtungen da.
Und die generell wenig spannungserregende Auswahl, die sich einem bietet - es ist hart, sich für Joe Biden zu begeistern - macht es auch weniger problematisch, sollte er die Präsidentschaftswahl gewinnen. Ich bin skeptisch. Aber ich würde mich sehr freuen, eines Besseren belehrt zu werden.