Kangyur und Tengyur – Sammlungen tibetischer Dharma-Schriften

Von Rangdroldorje

Buddha-Wort und Kommentare sind in zwei großen Schriftgruppen der tibetischen Dharma-Sammlung zusammengefasst. Der Kangyur – das Buddha-Wort – umfasst 1.169 Texte mit insgesamt 70.000 Seiten und die Kommentarliteratur der indischen Meister – der Tengyur – umfasst 4.093 Texte mit 161.800 Seiten.
Grundsätzlich kann man sagen, dass Kangyur und Tengyur kanonische Schriftsammlungen darstellen, aber keine abgeschlossenen Sammlungen wie die Bibel oder der Koran sind. Der Begriff des Kanons leitet sich daraus ab, dass Kangyur und Tengyur eine besonderen verbindlichen und zuverlässigen Status darstellen. Ihre Autorität und ihre Heiligkeit leiten sich teilweise von ihrer Herkunft ab, aber auch zu einem guten Teil von ihrer wahrgenommenen verwandelnden Kraft. Gerade dieser letztgenannte Aspekt ist weniger formalisiert und wird nicht als völlig unveränderlich und abgeschlossen gegenüber weiteren Hinzufügungen betrachtet; eine Ausnahme bildet dabei der Pali-Kanon.
Um solche Textsammlungen angemessen verstehen zu können, werden verschiedene Ebenen heiliger Autorität darin gesehen. So sind die Sutras (und in einigen Fällen die Tantras) die wichtigsten, dann folgen die Texte des Vinaya, schließlich der Abhidharma und am Ende die Kommentare und Abhandlungen.

Kangyur

Im Kangyur sind die „übersetzten Worte Buddhas“ und diese Sammlung wird als Buddhavacana angesehen, die in die tibetische Sprache übersetzt worden ist. Allerdings befinden sich unter den Reden, die der Buddha selbst gehalten hat auch Beiträge, die Lehren und Erklärungen von anderen – seinen Schülern und anderer erleuchteter Wesen – sind. Zusätzlich finden sich in dieser Sammlung auch noch spezielle Themen, wie z.B. die Regeln der klösterlichen Ordnung der Vinaya-Texte.
Der Kangyur sind folgende Kategorien:

  • Vinaya – behandelt hauptsächlich die klösterliche Disziplin;
  • Prajnaparamita – die transzendente, vollkommene Weisheit;
  • Avatamsaka – eine „Blumengirlande“-Sammlung zusammengehöriger Sutras;
  • Ratnakuta – die Juwelenhaufen-Klasse der Sutras;
  • diverse Sutras;
  • Tantra – Texte, die zum Vajrayana gehören;
  • Nyingma-Tantra – jene Texte, die in der frühen Übersetzungswelle nach Tibet gebracht wurden;
  • Dharani – kurze Texte, die Mantra-Rezitationen oder Gebetsformeln sind;
  • Kalachakra – Tantras, die zur Klasse des Kalachakra gehören.

Tengyur

Im Tengyur befinden sich die „übersetzten Abhandlungen“. Das sind tibetische Übersetzungen von Schriften buddhistischer Meister Indiens, sowie Erklärungen und Ausführungen der Worte Buddhas.
Im Tengyur sind folgende Kategorien enthalten:

  • Lobpreisungen;
  • Tantra – Vajrayana-Abhandlungen;
  • Prajnaparamita – Abhandlungen über die transzendente, vollkommene Weisheit;
  • Madhyamaka – Abhandlungen, die auf Nagarjunas mittlerem Weg beruhen;
  • Sutra-Kommentare – allgemeine Abhandlungen;
  • Cittamatra – Abhandlungen der Nur-Geist-Schule bzw. einige von Asangas Schriften;
  • Abhidharma – Zusammenfassungen und systematische Zusammenstellungen der Lehre;
  • Vinaya – Abhandlugnen, die von der klösterlichen Disziplin handeln;
  • Jataka – Geschichten, die von Buddhas früheren Leben als Bodhisattva handeln;
  • Briefe;
  • Logik;
  • Sprache;
  • Medizin;
  • Handwerk; und
  • weltliche Abhandlungen.

Übersetzungsperioden

Viele Texte wurden bereits in früher Zeit von Indien nach Tibet gebracht und die erste Welle der Übersetzung begann bereits unter dem Dharma-König Songtsen Gampo und erreichte schließlich im 8./9. Jhdt. ihren Höhepunkt unter dem Dharma-König Trisong Detsen. Diese erste Periode der Übersetzung des Dharmas nach Tibet wird auch „Nyingma“ bezeichnet. Nach einer Zeit politischer Unruhen im 9. Jhdt. begann ab dem 10. Jhdt. eine zweite Übersetzungsperiode, die als „neuere Übersetzung“ oder Sarma bezeichnet wird.
Obwohl eine Vielzahl an Kopien der übersetzten Texte für verschiedene Klöster angefertigt wurden war, wurden sie für einige Jahrhunderte zunächst nicht als eine formelle Sammlung betrachtet. Erst später begann man diese Werke zu ordnen und zu klassifizieren. Ab dem 14. Jhdt. wurden große Anstrengungen unternommen, eine endgültige Sammlung durch das Sammeln der Kopien und das Bearbeiten der Texte zu erstellen. Wahrscheinlich war man vom Beispiel der chinesischen Gelehrten dazu angeregt worden, aber vielleicht wollte man auch die Lehren mehr vereinheitlichen.
Besonders aktiv dabei waren die Klöster von Narthang, Tshal Gungthang und Zhalu. Als besonders herausragend bei dieser Arbeit wird Butön gesehen, der ein Gelehrter des Klosters Zhalu war. Hilfreich für eine Standartisierung der Sammlungen war die Drucktechnik per Holzschnitt, die aus China eingeführt worden war. Doch war damit der Prozess nicht abgeschlossen. So wurden sogar noch im 19. Jhdt. neue Texte entdeckt, die man in den Kanon einfügte.

Verbreitung

Mittlerweile gibt es ein paar Versionen von Kangyur und Tengyur. Darunter ist die Version von Derge die wohl am weitesten verbreitete. Zusätzlich dazu gibt es noch in Beijing, Lithang, Chone, Narthang, Urga und Lhasa Ausgaben des Kangyur und in Chone, Narthang und Beijing sind in einigen Büchereien Ausgaben des Tengyur erhältlich.
Für wohl die meisten Leute ist es am einfachsten, diese Sammlungen online über die Webseite des Tibetan Buddhist Resource Center abzurufen.