Neues Deutschland, 20.07.2015
Will die Linke Griechenland und den europäischen Gedanken retten, muss sie sich dem von Deutschland geführten Wirtschaftskrieg stellen
BoycottGermany – nur im europaweiten Widerstand gegen das deutsche Hegemonialstreben könnte die Idee eines emanzipatorischen Europas noch gerettet werden.
Seit dem 13. Juli dürfte jedem einigermaßen klar denkenden Beobachter aufgegangen sein: Deutschland führt Krieg. Es ist ein brutaler Wirtschaftskrieg, mit dem Berlin das realisieren will, woran Deutschlands Eliten bereits zwei Mal gescheitert sind – die Hegemonie in Europa. Dies ist keine alarmistische Übertreibung, sondern ein nüchtern zu konstatierendes Faktum, das selbst der Medienmainstream der imperialen Konkurrenz jenseits des Atlantiks inzwischen offen ausspricht. »USA Today« schrieb von einem deutschen Sieg in einem »Krieg«, nachdem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und Kanzlerin Angela Merkel während des Marathongipfels vor einer Woche in Brüssel den griechischen Premier zur Annahme eines absurden Diktats nötigten. Die »Washington Post« warnte vor der Rückkehr des »grausamen Deutschen«, bei der in Dekaden akkumuliertes politisches Kapital verspielt würde.
Mittels des aggressiven deutschen Vabanquespiels, das den Bruch mit Frankreich offen riskierte, wurde ein Exempel statuiert. Niemals wieder soll die Bevölkerung eines Krisenlandes es wagen, eine Linksregierung zu wählen, die Deutschlands desaströses Krisendiktat in »seiner« Eurozone herausfordert. Deshalb wagte es ja Schäuble auf dem Brüsseler Gipfel, die in Kooperation mit französischen Regierungsbeamten entworfene Kapitulationsurkunde der griechischen Linksregierung, die alle deutschen Forderungen nahezu vollständig erfüllte, mit der unangekündigten Idee eines »Grexit auf Zeit« sowie des Privatisierungsfonds zu kontern.
Unterstützt wurde der deutsche Sparkommissar von einer mit Rechtspopulisten durchsetzten finnischen Regierung und all jenen osteuropäischen »Hilfsvölkern«, die schon beim letzten deutschen Anlauf zur Weltmacht aufgrund der weit verbreiteten Kollaboration mit dem NS-Regime eine höchst unrühmliche Rolle spielten. Die Botschaft an die Krisenstaaten Europas war klar: Wer Widerstand leistet und nicht bereit ist, für Deutschlands Größe zu hungern, der wird fertiggemacht und fliegt raus, um als ein gescheiterter Staat Teil des globalen Südens zu werden.
Deutschland führt seinen brutalen Wirtschaftskrieg um ein autoritär formiertes deutsches Europa nicht erst seit jenem Juli-Tag, sondern seit der Einführung des Euro. Vermittels exzessiver deutscher Handelsüberschüsse, die durch das autoritäre Kahlschlagprogramm der Agenda 2010 angefacht wurden, konnte Deutschland die Eurozone in die gegenwärtige Schuldknechtschaft treiben. Es ist eine modernisierte Version des archaischen Merkantilismus, den die Militärdespotien der frühen Neuzeit als eine Fortsetzung des ewigen europäischen Krieges mit ökonomischen Mitteln praktizierten.
Über die deutschen Handelsüberschüsse – sie summieren sich seit der Euro-Einführung inzwischen auf knapp 900 Milliarden Euro – wurden Schulden, Arbeitslosigkeit und Deindustrialisierung exportiert. Nachdem die nicht zuletzt durch deutsche Banken genährten Schuldenblasen platzten, die diese europäischen Defizitkreisläufe erst ermöglichten, konnte Berlin als Garantiegeber der Eurozone auftreten und mit der autoritären Transformation dieses Währungsraumes entlang der Interessen des deutschen Kapitals beginnen.
Dem deutschen Krieg nach außen ging ein Krieg nach innen voraus. Der deutsche Sparsadismus, der nun Europa verwüstet, stellt eine extreme Variante der brutalen Reformen dar, die den deutschen Sozialstaat verwüsteten und die Entrechtung wie Prekarisierung des Arbeitslebens forcierten, die Deutschlands Exportoffensiven aufgrund sinkender Lohnstückkosten ermöglichte. Nach der Durchsetzung der autoritären »Reformen« der Agenda 2010, die mit ähnlichen Hasstiraden gegen »Sozialschmarotzer« einhergingen, wie sie derzeit gegenüber Südeuropäern üblich sind, setzte in der durch zunehmenden Leistungsdruck und Prekarisierungsängste verunsicherten Mittelklasse ein Prozess autoritärer Identifikation mit der Ökonomie ein, bei dem die verbissene Bejahung des bestehenden Systems mit einem zunehmenden Hass auf die Krisenopfer einhergeht.
Schäuble ist inzwischen der beliebteste deutsche Politiker Deutschlands – gerade weil er gnadenlos gegenüber Griechenland vorgeht. Die CDU/CSU könnte laut aktuellen Umfragen bei einer Bundestagswahl auf die absolute Mehrheit hoffen. Es ist offensichtlich – und die Linke sollte sich hier keine Illusionen machen: Die Mehrheit der Deutschen will diese Politik, wie sie von Merkel und Schäuble praktiziert wird.
Neben ideologischer Verblendung spielt hier die chauvinistische und nationalistische Welle eine wichtige Rolle, die durch die BRD schwappt. Die Lügenpresse-Rufe deutscher Nazis sind verstummt. Die Allianz zwischen Mob und Elite, die so charakteristisch für den deutschen Präfaschismus ist, zeichnet sich überdeutlich ab. Viele ganz gewöhnliche Deutsche spekulieren einfach auch darauf, gemeinsam mit Deutschland aufsteigen zu können.
In was für einem Zustand befindet sich dieses deutsche Europa? Nach dem 13. Juli ist ebenfalls klar geworden, dass mensch hier nicht mehr von einer funktionierenden bürgerlichen Demokratie sprechen kann. Der Kontinent befindet sich auf dem Weg in einen Faschismus des 21. Jahrhunderts. Der Begriff Postdemokratie scheint für den gegenwärtigen Zustand angemessen: Die Institutionen sind noch vorhanden, aber sie stellen bloße Attrappen dar, hinter denen gnadenlose Machtpolitik und eskalierende Krisendynamik ineinandergreifen. Deutschland führt somit auch einen Krieg gegen die Demokratie, wie es an den Reaktionen Schäubles und Merkels auf das Referendum in Griechenland deutlich wurde.
Nicht nur die Interviewäußerungen des geschassten griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis, dem von Schäuble klargemacht wurde, dass Wahlen nichts an Deutschlands Spardiktat ändern dürften, belegen dieses tief sitzende antidemokratische Ressentiment in Deutschlands Funktionselite. Auch die Absonderungen der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ), als eines der deutschen Leitmedien, schockieren. Dort hieß es mit Blick auf das griechische Referendum lapidar: »Es gibt ein paar Dinge auf der Welt, wo die Demokratie nichts zu suchen hat. Schulden zum Beispiel.« (»Dieter Nuhr hat recht!« 12.07.2015) Hierbei wurde die bizarre schwäbische Hausfrauenökonomie bemüht und ein verschuldeter Häuslebauer mit einer Volkswirtschaft gleichgesetzt. Die Intention ist klar: Über Deutschlands Krisendiktat darf in den Krisenstaaten nicht abgestimmt werden.
Wie weit die Erosion bürgerlich-demokratischer Freiheitsreste vorangeschritten ist, kann am Beispiel des deutschen Musterknaben Spanien studiert werden, wo drakonische Gesetzesänderungen mit der schweigenden Zustimmung Berlins de facto zur Abschaffung des Demonstrationsrechts und der Redefreiheit führten. Die durch die Berliner Krisenpolitik forcierte autoritäre Transformation Europas ist somit keine düstere Zukunftsvision. Sie findet jetzt statt. Das deutsche Diktat des 13. Juli stellt einen offenen qualitativen Bruch dar, der diese autoritären Tendenzen massiv befördern wird. Und es wird mittelfristig noch schlimmer werden. Die eskalierenden nationalen Auseinandersetzungen in der Eurozone werden durch den evidenten Krisenprozess befeuert, in dem sich der Spätkapitalismus befindet (Deswegen sind Analogien zu den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts durchaus zutreffend). Das an seiner konkurrenzvermittelten Produktivitätsentfaltung kollabierende kapitalistische Weltsystem stößt an seine Entwicklungsgrenzen, die es nur durch eine beispiellose Verschuldungsorgie ausdehnen konnte.
Die gegenwärtige spätkapitalistische Welt wird keinen Bestand haben, sie geht an ihren eigenen Widersprüchen zugrunde. Entscheidend ist, was hiernach folgt. Für die Linke stellt sich die Aufgabe, diesen ergebnisoffenen »systemischen« Krisen- und Transformationsprozess, der in Europa von Deutschland in eine autoritär-präfaschistische Richtung gelenkt wurde, nach der furchtbaren Niederlage in Hellas wieder in eine progressive Richtung zu lenken.
Absolut evident ist nun, dass die Nation als ein positiver Bezugsrahmen für transformatorische linke Politik tot ist. Ein europaweites, ja globales koordiniertes Agieren der Linken ist essenziell, da national organisierter Widerstand gegen Deutscheuropa sehr schnell von Berlin ökonomisch erwürgt werden kann.
Das Berliner Hegemonialstreben, der aggressive Merkantilismus Deutschlands, verfügen über eine Achillesferse: die deutschen Handelsüberschüsse, die auf Auslandsschulden beruhen. Auf die Eskalationsstrategie Berlins muss die europäische Linke mit einer tatsächlichen Eskalation antworten, mit einer europäisch koordinierten und organisierten Boykottkampagne, wie sie spontan in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag BoycottGermany propagiert wurde.
Die Linke muss unbedingt dem deutschen Wirtschaftskrieg adäquate Kampfformen entwickeln. Eine EU-weite Boykottkampagne gegen deutsches Kapital wäre das erste große gemeinsame Projekt einer europäischen Linken, in der sie sich als relevante transformatorische Kraft konstituieren könnte. Es ist die letzte Chance, eine Verfestigung des deutschen Europa – oder dessen Zerfall in Chauvinismus und nationalen Wahn – zu verhindern.
Nur mittels massiver Absatzeinbrüche können die deutschen Kapitalverbände dazu genötigt werden, ihr autoritäres Dominanzstreben noch zu revidieren. Ulrich Grillo, Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, sprach sich in der FAZ schon Mitte Juni dafür aus, den »Austritt Griechenlands aus dem Euro« zu organisieren, den Schäuble nun so vehement fordert. Zudem könnte so der irrsinnige deutsche Krisendiskurs inklusive seines ausartenden Opferwahns mit der Realität der exzessiven deutschen Handelsüberschüsse konfrontiert werden. Vielleicht könnten dann auch die Mehrheitsverhältnisse in der BRD sich wieder wandeln.
Die Linke sollte die von Berlin zugerichtete EU folglich als ein Kampffeld betrachten, auf dem eventuell die Idee eines solidarischen und emanzipatorischen Europa in einem europaweiten Kampf gegen das deutsche Spardiktat, gegen autoritäre Tendenzen und Demokratieverfall geformt werden könnte. Hierzu muss ein Perspektivenwechsel vollzogen werden, bei dem mensch nicht mehr als Teil einer nationalen, sondern der europäischen oder gar globalen Linken agiert. Die Rückkehr zur Nation, der das ökonomische Fundament längst abhandengekommen ist, ist nur noch als reaktionäres Projekt möglich. Nach dem 13. Juli, nach dem, was Berlin Europa angetan hat, ist kein Rückzug, kein Ausweichen mehr möglich.