Kalter-Kriegs-Logik in der Ukraine

Die Geschehnisse in der Ukraine sind undurchsichtig und chaotisch, gewiss. Sie sind aber gleichzeitig dem Ablauf einer Krise nach den außenpolitischen Spielregeln des Kalten Kriegs erstaunlich ähnlich. Rekapitulieren wir die bisherigen Ereignisse. Seit dem Zerfall der Sowjetunion, verstärkt aber seit der Expansion von NATO und EU nach Osten, findet ein Tauziehen um die politische Zukunft der Ukraine statt. Das Land mäanderte zwischen einem russlandfreundlichen und einem EU-freundlichen Kurs hin und her, und erst die Ereignisse auf dem Maidan sorgten für das Zerhacken des Gordischen Knotens: Russland, das seine Felle mit dem Fall Janukowitschs davonschwimmen sah, schnappte sich das strategisch für es bedeutsamste Stück der Ukraine, die Krim. Dies geschah nach der Aufstellung angeblicher oder realer Milizen der Krimbevölkerung und einem förmlichen Hilfeersuchen an Russland - ein klassischer Beginn, den wir so auch in Vietnam in den 1960er Jahren oder Afghanistan 1979 finden würden.
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Russland, das mindestens vorher informiert war, vermutlich aber seine Hände auch im Spiel hatte, intervenierte in atemberaubender Geschwindigkeit und schaffte einen fait accompli, den der Westen ohne militärische Aktionen nicht würde rückgängig machen können - ein ähnlicher gamble, wie er auch der Stationierung von Mittelstreckenraketen auf Kuba 1962 zugrundelag. Der Einsatz war niedriger - keine Atomwaffen sind im Spiel - und der Westen war definitiv nicht bereit, für die Krim einen Krieg zu riskieren. Im Hinblick auf die der Krim ähnliche Situation in der Ostukraine musste jedoch eine erneute russische Intervention ausgeschlossen werden, weswegen der Westen gehörig mit dem Säbel rasselte und für den Fall einer weiteren russischen direkten Verwicklung mit Krieg drohte, eine Drohung, die mit Sanktionen verdeutlicht wurde. Dies erinnert etwa an das Säbelrasseln Chinas im Vietnamkrieg, das die Amerikaner über dessen gesamte Dauer von einem direkten Angriff auf Nordvietnam abhielt und den Krieg im Süden behielt (freilich mit exzessiven Bombardements des Nordens). Die Linien waren damit abgesteckt: eine direkte Intervention kam für keine Seite in Frage (die Russen hatten vorsorglich selbst ihren Säbel rasseln lassen und den Westen vor einer Stationierung von Truppen oder direkten Hilfsaktionen für Kiew abgeschreckt). Die Russen stationierten Truppen an Ostgrenze der Ukraine; der Westen verlegte NATO-Streitkräfte nach Polen und in die baltischen Staaten. Der Konflikt selbst war damit zu einem klassischen Stellvertreterkonflikt geworden und erfolgreich "ukrainisiert": ab sofort würden sich nur noch Ukrainer gegenseitig töten, was die Dauer des Konflikts deutlich erhöhte, ebenso seine Virulenz und Gewalttätigkeit. Das haben Bürgerkriege schlicht an sich, und um einen solchen handelt es sich. Es ist nicht weit hergeholt anzunehmen, dass Russland die Separatisten mit Gerät und Rat unterstützt, während die wichtigste Hilfe des Westens für Kiew darin besteht, der Regierung internationale Legitimität zu verleihen und Russland von einer offenen Intervention nach dem Beispiel der Krim abzuhalten. Gestärkt durch die westliche Rückendeckung konsolidierte sich die Regierung in Kiew und setzte ihr Militär gegen die Separatisten in Gang. Seither brennen Straßenzüge, sterben Zivilisten und werden Attentate noch und nöcher verübt. Der Konflikt bleibt aber lokal begrenzt und lässt sich gut ignorieren. Mittelfristig wird Kiew ihn militärisch zwangsläufig gewinnen, aber der Preis steigt ebenso langsam, aber stetig an. Vermutlich ist die russische Strategie, Kiew mit den Separatisten an den Verhandlungstisch zu zwingen, indem die Niederlage der Separatisten immer weiter hinausgezögert wird - auch das ein beliebtes Mittel aus der Zeit des Kalten Kriegs. Kiew gleichzeitig hat jedes Interesse, eine Anerkennung der Separatisten außerhalb Russlands zu verhindern und diese ohne allzu viel Aufsehens zu bekämpfen, ein Plan, der so weit aufgegangen ist. Doch nun hat sich die Gleichung durch den Abschuss der MH17-Maschine völlig verändert. 300 Zivilisten sind tot, und niemand weiß, wer verantwortlich ist. Gemäß den Spielregeln zeigt jeder auf den anderen, aber es gibt eigentlich nur eine Seite, die von dem Wirbel wirklich profitiert: die der Hardliner, gleich welcher Seite. Der Konflikt ist so nämlich wieder auf die Titelseiten der Zeitungen gedrängt und zwingt die Teilnehmer, Stellung zu beziehen. Russland und der Westen befinden sich sofort wieder in einer Frontstellung, die einen Kompromiss unmöglich macht, der einem jeden Extremisten grundsätzlich Anathema sein muss, gleich ob er die Vernichtung der Separatisten oder die Abspaltung der Ostukraine wünscht. Beide Seiten taten ihnen denn auch den Gefallen: in den USA wurden noch am selben Tag klare Angriffe auf Russland veröffentlicht, die Europäer stellten sich, klugerweise Militäreinsätze sofort präventiv ausschließend, wieder hinter Kiew und die Russen wiesen jede Verantwortung von sich, waren aber mitgefangen-mitgehangen und haben, sofern sie die Separatisten nicht fallen lassen wollen, kaum eine andere Wahl als diesen weiterhin zu helfen. Ob MH17 dabei absichtlich abgeschossen wurde oder nicht spielt eine allenfalls technische Rolle. Am wahrscheinlichsten ist ein versehentlicher Abschuss der Separatisten, die glaubten, eine ukrainische Militärmaschine zu erwischen. Die Ukrainer fallen als Verdächtige aus, sofern man ihnen nicht die Fingierung eines Zwischenfalls unterstellt, weil die Separatisten keine Luftwaffe haben, die man abschießen müsste. Auch die Russen dürften klüger sein als das. Auszuschließen ist natürlich trotzdem keine dieser Optionen, aber die sinnvollste Annahme bleibt schlichtweg die oben beschriebene. Was weiter geschieht hängt massiv von der Vernunft der Beteiligten ab. Weder der Westen noch Russland sind an einer Eskalation in der Ukraine interessiert; beide mochten den langsam schwelenden Bürgerkrieg als am wenigsten schlimme Option. Es bleibt also abzuwarten, ob die Extremisten es schaffen, einen der Akteure zu einer Dummheit zu bewegen, die eine Eskalation unvermeidlich macht. Aktuell sieht es, Gott sei dank, nicht danach aus.

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