Was ist man eigentlich bereit zu tun für die „eine“ Chance im Leben? Wie viel ist man bereit hinter sich zu lassen um etwas zu erreichen?
Das ist eine der zentrale Fragestellungen, die sich mir zunächst aus Oskar Roehlers neuem Film „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ ergeben.
Doch Stück für Stück.
Oberflächlich gesehen, wird die Geschichte des Schauspielers Ferdinand Marian erzählt. Dieser österreichische Schauspieler wurde von den Nazis angefragt im als Propaganda konzipierten Film „Jud Süß“ den jüdischen Hauptdarsteller zu spielen. Im vorliegenden Film ist das in der Eingangsszene in einem Theater dargestellt. Joseph Goebbels, gespielt von Moritz Bleibtreu schaut samt seinem Gefolge bei den Proben zum Hamlet zu, in dem Marian (Tobias Moretti) und Wilhelm Deutscher (Heribert Sasse) spielen. Damit bringt diese Szene bereits die drei männlichen Hauptcharaktere zusammen. Während Wilhelm Deutscher nach der Probe abserviert wird und aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Judentum mit einem Spielverbot belegt wird, versucht Goebbels in der Folge Ferdinand Marian Honig um den Mund zu schmieren, um ihn für die Rolle zu ködern.
Viele, damals namenhafte, Schauspieler hatten der Hauptrolle im Propagandafilm bereits eine Absage erteilt, woraufhin Goebbels gezwungen war mit Marian endlich eine Besetzung zu finden. Dementsprechend bekommt dieser den Hof gemacht. Das Problem scheint aber von Anfang an Marians wankelmütiger Geist zu sein. Er fühlt sich durch die Parteibonzen geschmeichelt, tritt gern, vor allem Frauen gegenüber als großer Schauspieler und Charmeur auf. Doch gleichzeitig hat er eine, im Film halb-jüdische, Ehefrau, die weder die Rolle noch Marians Hang zu anderen Frauen begrüßt.
Marian beginnt nach und nach an der Rolle zu zweifeln, sein Gewissen nagt an ihm. Vor allem, als sein Kollege Wilhelm Deutscher, der bei ihm wohnte, in Haft genommen wird und seine Tochter aus der Schule antisemitische Gedichte und Lieder mitbringt. Er ist entschlossen die Rolle abzulehnen und damit auf die mögliche Aufmerksamkeit zu verzichten. Selbst als Goebbels ihn stark unter Druck setzt, widersteht er und lehnt eindrucksvoll ab. Doch kaum fünf Filmminuten später hat sich alles in Luft aufgelöst, weil Marian sich erneut von Glanz und großen Tönen vereinnahmen lässt. Er lässt sich die Rolle quasi einreden, wehrt sich nicht und reagiert schon gar nicht mehr auf die ausdrucksstarke Mimik seiner Frau in diesem Moment. Doch sein Gesicht zeigt, dass er ab dem Zeitpunkt die Kontrolle verloren hat. Damit beginnt der für den Zuschauer eigentlich klare Abstieg Marians, was er wahrscheinlich selbst ahnt. Als Zuschauer kann man hier und da noch hoffen, dass er sich womöglich besinnt. Doch letztendlich wird es vergeblich sein. Der Mensch Marian geht unter, auch und vor allem weil er sich hingibt und treiben lässt, anstatt etwas zu tun.
Betrachtet man den Verlauf des Filmes wird ein klassisches Drama geboten, nicht viel mehr, nicht weniger. Im Vordergrund stehen ganz klar die männlichen Hauptrollen. Vor allem Moritz Bleibtreu und Tobias Moretti stechen heraus. Bleibtreu gibt einen Joseph Goebbels, der schon teilweise in eine Karikatur abgleitet. Aber genau diese Freiheit sollte ein Spielfilm gegenüber einer Dokumentation haben. Ein solcher Film kann es sich erlauben Personen eine Färbung zu geben und damit im Beispiel des Goebbels die übertriebenen Selbstherrlichkeit und das Machtgehabe der Nazis mit einer gewisse Lächerlichkeit zu versehen.
Tobias Moretti hingegen spielt eine ernsthafte, glaubwürdige und vor allem dramatische Rolle. Er versteht es die Grundzüge, wie die Zerrissenheit und das gleichzeitige Erfolgsbestreben, des Schauspielers Ferdinand Marian zu transportieren. Er schafft damit einen Charakter mit dem das Publikum mitfiebern kann und den es in der nächsten Minute wieder verabscheuen kann.
Auf technischer Seite bietet der Film zwar einerseits wenig überwältigendes, was allerdings auch seine Stärke ist. Es werden meist klare, einfache Bilder gezeigt, die die jeweiligen Personen in den Vordergrund rücken. Die entsprechende Stimmung wird durch die sehr präsente Arbeit mit Licht und Schatten erzeugt. Die Farben Schwarz/Weiß beziehungsweise die Hell-Dunkel-Kontraste tragen eine Großteil der Handlung und steuern in ihrer Symbolhaftigkeit viel zur Interpretation des Inhaltes bei. Alles in allem ist die Stimmung eher sachlich, nüchtern und wird an den entscheidenden Handlungsstellen aufgebrochen.
Leider leistet sich der Film aber auch zwei unschöne Szenen. Zum einen wird visuell stark übertrieben, in einer Szene in der Marian Verkehr mit der Frau einer Nazi-Größe am Fenster, während eines Bombenangriffs, hat. Der Angriff wird durch Effekte aufgeblasen und gleicht eher einem Feuerwerk. Dabei ist gerade diese Szene wichtig, weil moralisch heikel, aber durch die übertriebene Visualisierung kommt meiner Meinung nach der eigentliche Inhalt nicht im richtigen Maße zur Geltung.
Eine andere nach meinem Dafürhalten unglückliche Szene ist die Schlussszene. Marian begeht Selbstmord, indem er mit seinem Auto gegen einen Baum fährt. In Konsequenz geht allerdings sein Wagen, im Stil schlechter Fernsehserien, in einer Explosion auf. Auch hier kann man, zumindest eine visuelle Entgleisung feststellen.
Zusammenfassend kann man dem Film allerdings ein durchweg gutes Urteil aussprechen. Doch dies möchte ich etwas differenzieren.
Ersteinmal ist der Film als Drama gelungen. Er hält die Spannung zumindest über weite Stecken aufrecht. Auch visuell und technisch bietet er solides, sehr ansehnliches Kino. Zu dem gesellen sich wie ich finde großartige schauspielerische Leistungen, ganz besonders jene von Moritz Bleibtreu und Tobias Moretti.
Doch man kommt bei diesem Film nicht umhin auch die moralische Seite zu betrachten. Ich denke, dass ist auch der größte Streitpunkt des Films. Ich sehe den Inhalt, also die Geschichte rund um den Propagandafilm „Jud Süß“ eher metaphorisch, beziehungsweise als Träger für eine viel tiefergehendes Themenspektrum. Der Film zeigt einerseits exemplarisch den Einfluss von Medien auf die Gesellschaft. Er zeigt wie Medien nach belieben manipuliert, missbraucht und benutzt werden. Es wird eindringlich deutlich wie Menschen mit den Medien als Informations- und Unterhaltungsträger umgehen. An diesem Punkt kommt auch das Konzept des Films selbst zum tragen. Man erlaubt, glücklicherweise den Medien, vor allem aber der Kunst volle Freiheit. Diese Freiheit ist es allerdings auch die, wie bei der realen Vorlage „Jud Süß“ gesehen, benutzt wird um Dinge zu transportieren, die eventuell nicht unserem positiven Bildern und Meinungen entsprechen. Genau hier liegt der Punkt: der Film nimmt sich die Freiheit die Vorlage zu modifizieren, zu dramatisieren und zeigt gleichzeitig welche Auswirkungen eine solche Modifikation von Stoff haben kann und was durch die Kunst möglich ist: der Transport und vor allem die Interpretation von Fakten. Der Film kommt damit also seiner Aufgabe nach, eine Realität zu schaffen, die wenngleich sie eine Wertung beinhaltet noch genügend Interpretationsspielraum lässt. Dieser Spielraum, der durch die Zuspitzung/Dramatisierung geschaffen wird ist doch auch das, was Filme ausmacht. Insofern kann ich die Meinungen einiger Kritiker [1,2]nicht teilen, die gerade diesen Gestaltungsspielraum kritisiert haben indem sie dem Film Realitätsferne vorgeworfen haben. Man muss doch ganz klar unterscheiden zwischen dokumentarischer und künstlerischer Herangehensweise. Natürlich verlangt diese Art der Aufarbeitung des Themengebietes weit mehr Kompetenz und Anstrengung vom „Konsumenten“, als die oft gezeigt populärwissenschaftliche Aufarbeitung im Dokumentarischen. Allerdings möchte ich diese Kompetenz einem Großteil des Kinopublikums unterstellen…
Ein weitere Wichtiger Punkt, den der Film behandelt ist der Umgang von Menschen mit sogenannten Systemen. Der Film zeigt meiner Meinung nach klar auf, dass System zunächst recht abstrakt sind und erst durch die Beteiligung oder Nicht-Beteiligung von Menschen zu konkreten Gebilden werden. Er zeigt, dass der Film „Jud Süß“ und damit die gesteuerte Propaganda erst durch Menschen wirksam werden kann. Erst durch die Schauspieler, die anscheinend mehr auf ihre Karriere als auf ihre Rollen fixiert sind, wird die Propaganda wirksam. Natürlich steht im Hintergrund, das gern personifizierte Böse in Form von reichen Nazis, die das ganze Steuern, aber erst die die sich steuern lassen machen aus den Strippenziehern ein funktionierendes Puppentheater. Am eindrucksvollsten stellt das der Film in einer Szene dar, in der Goebbels den versammelten Medienvertretern seine Realität quasi diktiert.
Mögen auch einige Szenen im Film im Zuge der Dramatisierung überspitzt sein und nicht einhundert Prozent der realen Vorlage entsprechen, so muss man doch sagen, dass genau damit wichtige Themen zur weiteren Erörterung gestellt werden und der Kinobesucher den Film auf jeden Fall nachdenklich verlässt.
Alles in allem wohl einer der besten Filme des Jahres!