Der holländische Psychologieforscher Douwe Draaisma hat in seinem Buch "Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird" auf einen interessanten Effekt hingewiesen: Wir versäumen, die alltäglichen Dinge zu fotografieren, die bestimmte Lebensabschnitte repräsentieren. (Meine Rezension: Wie Nostalgieeffekte entstehen).
Zu diesen Dingen gehört in meinem Leben die Juchostraße in Dortmund Wambel. Ich bin in unmittelbarer Nähe des Borsigplatzes geboren. Meine allerersten Sinneswahrnehmungen waren durchdrungen von Lärm. Stahlwerke, Autos, Straßenbahn. Aber auch das Rauschen der Pappeln im Hoeschpark.
Später zogen wir in die Rüschebrinkstraße, die den Hellweg mit dem Hoesch Werk Westfalenhütte verband. Westlich von uns lagen Maschinen- und Stahlfirmen. Östlich die Wohnungen und Häuser der Wambeler Arbeiter und Angestellten.
Wenn es Herbst wurde, radelten wir die Kastanienbäume ab. Besonders üppige standen an der Juchostraße, Ecke Hellweg. An der Juchostraße lagen und liegen eine Maschinenfabrik, Autohändler, eine Niederlassung eines LKW-Herstellers. Aber vor allem: Eine Gruppe von Kastanienbäumen, alt und hochgewachsen. Wir nannten diesen Ort "Kastanienplatz". Dahinter lag das Grundstück einer alten Villa. Stand man unter den Kastanienbäumen und schaute hoch, sah man keinen Himmel sondern die undurchdringlichen, rostbraun gefärbten Kronen der Bäume. Übersäht von leuchtend grünen Kastanien, die darauf warteten von uns mit Knüppeln, alten Fahrradlenkern und Fußbällen runtergeholt zu werden. Der Vorteil war, dass man hier auf nichts Rücksicht nehmen musste, außer darauf, dass einem niemand die Beute klaute, die nach einem erfolgreichen Wurf klackend vom Himmel fiel. Von diesen Erlebnissen existiert kein Foto.
Zehn Jahre später wurde die Juchostraße wieder interessant für mich. Als ich einen Praktikumsplatz für mein Studium suchte. Der Vater eines Freundes hatte Beziehungen zu "Holstein und Kappert". So hieß die Maschinenfabrik, ein Hersteller von Getränkeabfüllanlagen. Mein Kumpel und ich gingen dort drei Monate in die Lehre. Genauer gesagt in die Lehrwerkstatt. Drehbank, Schweißgerät, Schaltschränke waren mein Programm. Wenn wir morgens mit dem Fahrrad über den Hellweg zur Juchostraße fuhren, kamen wir an einer der größten Baustellen Dortmunds vorbei: Dem unterirdischen Ausbau der B236, der die Rüschebrinkstraße entlasten sollte. Die B236 sollte den Schwerverkehr aufnehmen, der von der B1 - und nicht zuletzt vom Hoesch Werk Phoenix in Hörde zur Westfalenhütte wollte. Als die B236 irgendwann fertig war, beschloss Hoesch, sein Phoenix Werk nach China zu verkaufen.
Wir aber radelten morgens vorbei an endlosen Schlangen von Betonmischern, die den Tunnel unter Wambel versorgen sollten. Auch aus dieser Zeit, in der das Gesicht von Wambel erheblich verändert wurde: Kein Foto.
Holstein & Kappert ("Holstein, es klappert") wurde später von KHS (Link) übernommen. Heute ist die Firma eine der letzten größeren Industrieunternehmen in Dortmund, die in alle Welt exportieren, und sie liegt in Wambel. Aber wie das so ist, wer nicht auf sie angewiesen ist, den kümmert sie auch nicht weiter. Die Altwambeler sind schon lange ab von Stahl, Maschinen und so Zeugs. Deshalb sieht die SPD auch keine Not, einem etwas ungewöhnlichen Antrag von KHS nachzukommen. Die Firma ist gewachsen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo früher nur Lager, waren, ist ausgebaut worden. Das Kreuzen der Straße wird immer hinderliche, und jetzt sind noch neue Gesetze hinzugekommen, die für die Anlagenhersteller im Nahrungsmittelsektor eine lückenlose Kontrolle und Sicherheit bei der Produktion vorschreiben. Deshalb hat KHS beantragt, die Juchostraße "einzuziehen" und ein durchgängiges Firmengelände daraus zu machen (Link: Lokalkompass).
Die Anwohner der Rüschebrinkstraße sind dagegen, weil sie den Verkehr der Juchostraße übernehmen müssten. Ich bin gespannt, wie sich die SPD entscheidet und wer in ihr die Mehrheit hat: Arbeiter und Angestellten oder Rentner.