Carlos und José sind zwei Studenten aus wohlhabenden Familien im Lima des Jahres 1904.
Einer von vielen Gründen, warum man dieses Buch unbedingt lesen sollte, sind Zeit und Ort der Handlung, denn der junge spanische Autor Barcéna entführt uns an den Anfang des vorigen Jahrhunderts, als Briefe noch mit Tinte und Feder geschrieben, versiegelt und per Schiff zwischen den Kontinenten hin und her geschickt wurden. Es ist eine Zeit, in der alles ruhiger fließt. Die heutige Eile und die Hochgeschwindigkeit der Übermittlung von Gedanken existieren einfach nicht. Eine wundervolle Art der Langsamkeit durchzieht die rasant erzählte Geschichte, lässt vergangene Bilder von Postkutschen und riesigen Ozeandampfern vor dem inneren Auge erstehen. Klug, witzig, sprachlich außergewöhnlich, passt sich die Story dem langsamen Tempo des frühen 20. Jahrhunderts an und ist doch an keiner Stelle langatmig. Man hat das Gefühl, zugleich in einem Klassiker von Flaubert oder Tolstoi und ganz im Hier und Jetzt zu sein.
Beide Studenten lesen und verehren Baudelaire, Yeats, Mallarmé, Rimbaud sowie den großen spanischen Dichter Juan Ramón Jiménez. Sie ersehnen ein von ihm signiertes Exemplar seines aktuellen Gedichtbandes, vermuten aber, dass sie für Ramón einfach nur zwei unbedeutende Studenten jenseits des Atlantik seien. Warum sollte er ausgerechnet ihnen ein Buch schenken?
Eine Phantasiefigur muss her. Ein junges Mädchen voller Leidenschaft, welches Ramóns Verse liebt und sich verzehrt nach einem vom großen Meister signierten Exemplar. Georgina Hübner ist geboren! Der Plan der Studenten geht auf und schon wenige Wochen später ist das Buch da.
Über viele Monate hinweg entwickelt sich nun eine Romanze zwischen Georgina und Juan Ramón. Georgina ist in ihren Briefen mal zart zurückhaltend, dann wieder forsch und ihre Liebe bekennend. Je nach Stimmung der beiden jungen Literaten gibt sie sich manchmal wie eine blasse Schöne in einer einsamen Villa, dann wieder wie ein ungehorsames Dienstmädchen oder gar wie eine Hure. Das geht so lange gut, bis der spanische Dichter ankündigt, endlich seiner geliebten Aug in Auge gegenüber stehen zu wollen und eine Schiffspassage bucht –
Was nun? Geht Georgina ins Kloster, wird sie schnell und unglücklich verheiratet? Muss sie sterben?
José ist in dieser Hinsicht recht pragmatisch. Doch der phantasievolle Carlos, dessen großer Wunsch es ist, selbst ein Dichter zu werden, leidet unter jeder dieser Ideen. Georgina ist ihm bereits so vertraut wie eine echte Frau. Ohne zu wissen warum, denkt er an Georgina. An die fünfzehn Monate ihres Briefwechsels. An die Nächte, in denen er mit dem Gefühl einschlief, dass sie irgendwo in Lima schreibt und atmet (S. 252). Doch dann erinnert José ihn an die Schicksale von Anna Karenina und Emma Bovary. Er fängt an, zu spekulieren und überzeugt Carlos schließlich, dass eine unglückliche und absolut schmerzhaft endende Liebe die Phantasie des Dichters Ramón möglicherweise ins Endlose steigern würde. Was gäbe es wohl zukünftig von ihm zu lesen, dank eines so unermesslichen Schmerzes? Und ist nicht sogar Schmerz der notwendige Antrieb aller wahren Musiker, Maler und Dichter?
Barcéna erzählt eine Geschichte in einer Geschichte und spielt dabei geschickt mit der Komponente der Phantasie. Wie wirklich kann eine Romanfigur werden? Was ist Wahrheit und was Schein? Wie weit darf ein Dichter gehen? Als ich die letzte Zeile des Romans lese, bin ich mir gar nicht mehr sicher, was an dieser Geschichte fiktiv oder real ist. Schließlich entdecke ich, dass Juan Ramón Jiménez (1881-1958) ein spanischer Autor ist, der in Madrid und auch in Washington gelebt hat. Und der in einem Artikel bei zeit online als der Einsiedlerkrebs der modernen spanischen Poesie bezeichnet wird.
Und so denke ich schließlich mit einem Lächeln daran zurück, wie sehr ich vor einigen Jahren bei einem Spaziergang durch die Kreuzberger Dieffenbachstraße gehofft hatte, der “tiefbegabte” Rico und sein kluger Freund Oskar würden jeden Moment aus einer der Haustüren gestürmt kommen. Mich hatten zu jener Zeit die Hörbücher von Andreas Steinhöfel sehr begeistert, ich hörte sie in jeder freien Minute. Verdammt, habe ich mich dann gefragt, wie kannst du das denken! Es sind Romanfiguren! Doch es war nicht das erste Mal, dass mir das passierte. Auch Calliope aus dem Roman Middlesex von Jeffrey Eugenides und Hiro Tanaka aus Der Samurai von Savannah (T.C. Boyle) sind reine Fiktionen. Und doch bin ich ihnen damals beim Lesen so nah gekommen wie echten Freunden im wirklichen Leben. Noch heute denke ich manchmal, Calliope – bist du es? Hiro – stehe ich dir gerade gegenüber?
Es ist großartig, wenn einem Autor das Unmögliche gelingt. Wenn er zulässt, dass ich mit einer Figur fühle, denke und auch leide. Wenn ich ihr Glück teilen darf und ihren Schmerz. Es passiert leider viel zu selten, doch Barcéna hat mir diese Imagination geschenkt. Wie ein kleines Wunder kommt es mir vor, wenn Verlage solche besonderen Bücher entdecken und den Mut haben, sie zu übersetzen und zu verlegen. #wereadindie
Juan Gómez Bárcena. Der Himmel von Lima. Aus dem Spanischen von Steven Uhly. Secession Verlag für Literatur. Berlin und Zürich 2016. 319 Seiten. 23,- €