Unsere zeitgeschichtliche Forschung ist in einem beklagenswerten Zustand. Vergleichsweise unwichtige Informationen verstopfen unsere Geschichtsbücher und die Geschichtssendungen im Fernsehen. Oft werden Meinungen als Informationen verkauft, historische Ereignisse dienen als Projektionsfläche für Emotionen. Die wirklich wichtigen Informationen jedoch, die unser Verständnis für vergangene und gegenwärtige Krisen und Konflikte vertiefen könnten, werden - bewusst oder unbewusst - unterdrückt.
Der folgende Text (entnommen aus der Fischnetz-Theorie) erläutert das Wirken von J. P. Morgan jr. und dem Nye-Komitee:
Es lohnt sich auch, die Karriere von J. P. Morgan jr. (1867 – 1943) näher zu betrachten. Dieser amerikanische Bankier war vermutlich einer der größten Kriegstreiber aller Zeiten – dennoch ist er heute nahezu unbekannt. Morgan hatte sich im Ersten Weltkrieg frühzeitig auf die Seite Britanniens gestellt und unterstützte die Alliierten auf zwei Wegen: Er belieferte sie mit Waffen, Munition, Verpflegung etc. und verschaffte ihnen Kredite, um die Waren zu finanzieren (QV 160,161). Dafür kassierte Morgan Provisionen und Zinsen, viele der zuliefernden Unternehmen gehörten ihm oder seiner Bank (QV 171). Die USA waren somit nicht – wie vielfach behauptet – neutral, sondern zweifellos parteiisch. 1917 geriet Morgans Geschäftsmodell ins Wanken, als sich das Kriegsglück zu Gunsten von Deutschland wandelte. In Russland kam es zur Revolution, die Ostfront brach zusammen, deutsche Truppen konnten an die Westfront geschickt werden, wo sie die Franzosen und Briten in ernsthafte Bedrängnis brachten. Nur ein Eingriffen der US-Armee konnte die Gewinne der amerikanischen Wirtschaft jetzt noch retten (QV 162).
Propaganda als Information getarnt
Aber warum sollte sich ein junger US-Bürger freiwillig in das europäische Schlachthaus begeben? So verrückt war niemand. Also musste man die Leute verrückt machen. Die Regierung gründete ein Informationskomitee (Creel-Kommission, vergleichbar mit dem OWI, S. 16) und stellte 75.000 sogenannte Vier-Minuten-Männer ein, deren Aufgabe es war, durch das Land zu reisen, dabei hetzerische Reden gegen die Mittelmächte zu halten und die Demokratie zu preisen (QV 163).
Gleichzeitig jedoch baute man demokratische Rechte in den USA ab. Neue Gesetze wurden erlassen: Select Service Act, Sediction Act, War Revenue Act, Espionage Act, Railroad Administration. Damit war Kritik an der Regierung praktisch verboten, der Postverkehr und die Verkehrswege wurden überwacht, die Steuern stiegen drastisch an – und wer sich widersetzte, dem drohten hohe Strafen (QV 164). Der Erfolg blieb nicht aus. Die Stimmung in den USA wandelte sich, war das Volk zuvor neutral, wurde es nun deutschfeindlich. Die Kriegserklärung erfolgte am 6. April 1917 (QV 165).
Massenmord als Geschäftsmodell
Profitiert haben davon vor allem J. P. Morgan und sein Konsortium. Die Gewinne waren gigantisch – die Verluste aber auch. Über 100.000 junge Amerikaner bezahlten Morgans Gewinnstreben mit ihrem Leben. Bestätigt wurde all dies vom Nye-Komitee, einem Ausschuss des amerikanischen Kongresses, der von 1934 bis 1937 versuchte, die Verbindungen zwischen Politik und Kriegswirtschaft offenzulegen. Der Ausschuss fand heraus, dass Deutschland von den USA Kredite in Höhe von 27 Millionen Dollar bekommen hatte, Britannien hingegen 2,3 Milliarden Dollar, also das 85-fache. Regierung und Parlament wurden dabei maßgeblich von Banken und Rüstungsindustrie beeinflusst (QV 165,166,167,168).
Die USA haben somit erheblich zur Eskalation des Ersten Weltkrieges beigetragen – und sind damit ungeheuer reich geworden. Innerhalb weniger Jahre schafften sie den Sprung von einer Schuldnernation zur größten Gläubigernation (QV 169). Der Krieg war ein sehr gutes Geschäft für die amerikanischen Unternehmen, alle Branchen erlebten einen gewaltigen Aufschwung (QV 170, 171). Dadurch haben die USA aber auch zur Verarmung Europas beigetragen. Nur ein sehr kleiner Teil der Kriegsgewinne floss zurück in die alte Welt (QV 172). Millionen Menschen lebten in Unsicherheit, sie wussten nicht, ob sie morgen noch ein Dach über dem Kopf besäßen oder ihre Kinder versorgen könnten. Damit war die Grundlage für die Ausbreitung zweier gegensätzlicher Bewegungen geschaffen: Faschismus und Kommunismus. Trotzdem glaubt immer noch eine Mehrheit der Menschen an die Hollywood-Version der Geschichte – Casablanca-Prinzip (siehe auch Casablanca - Der gefährlichste Film aller Zeiten).
Auch hier lässt sich die Verstrickung von J. P. Morgan jr. belegen. Ein wesentlicher Grund für die absurden Reparationsforderungen der Briten und Franzosen war die Notwendigkeit, ihre Schulden zurückzahlen zu müssen – an Morgan und Konsorten. Um die jährliche Tilgung sicherzustellen, nahm Mr. Morgan persönlich an den Verhandlungen über den Dawes- und den Young-Plan teil (QV 173). Selbst an der Dawes-Anleihe (ein Kredit zur Leistung der Reparationen) war das Bankhaus Morgan beteiligt (QV 174). Von der Kriegsrüstung, über die Kriegserklärung bis zu den Reparationen – alles in einer Hand.
Ist-Zustand: Durch die Vergabe von Krediten und durch Lieferung von Waffen, Munition und Material haben die USA den Ersten Weltkrieg nicht verursacht – aber verlängert.
Alternative: Das gesamte Kriegsgebiet boykottieren. Nur Nahrungsmittel und Medikamente liefern. Hilfe bei Verhandlungen anbieten.
Folge: Die Kämpfe wären frühzeitig zum Erliegen gekommen. Selbst ein schlechter Frieden wäre besser gewesen als ein guter Krieg.
Die QV-Nummern verweisen auf das Quellenverzeichnis. Beispiel QV 171:
Nr. 171
„Der Getreidepreis hatte sich von 1914 an verdreifacht, der Baumwollpreis sogar vervierfacht. Riesige Gewinne wurden auf dem Stahl- und Kupfersektor gemacht. Die Stahlerzeugung war durch raffinierte Transaktionen größtenteils in den Besitz von Morgan & Co gelangt. Bernard Baruch, der Leiter des Kriegsindustrieamtes, hatte schon vor dem Kriegseintritt der USA ein Syndikat aus Kupferproduzenten gebildet. Ihm gehörten die drei Brüder Guggenheim an, die als Kupferkönige ihre Monopolstellung ausnutzen konnten. Durch Baruchs Hände gingen zehn Milliarden Dollar zur Finanzierung des Krieges gegen Deutschland. Wohl zu Recht behauptete er, dass vor ihm keine Einzelpersönlichkeit der Geschichte mehr Macht besessen habe.“
Wolfgang Effenberger, Konrad Löw
„Pax americana“, S. 178. Herbig, München, 2004.
Entnommen aus:
Die Fischnetz-Theorie - Vierte Auflage von 2013
192 Seiten - 190 Einträge im Quellenverzeichnis. Fast alle Zitate entstammen der seriösen Sachbuchliteratur.
Gedrucktes Buch EUR 11,90. E-Book EUR 5,99.
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