John Steinbeck

Bis vor ein paar Jahren hätte ich keine Sekunde auf die Frage nach meinem Lieblingsschriftsteller gezögert und unweigerlich John Steinbeck genannt. Von niemandem habe ich bis heute so viele Bücher gelesen und das in bemerkenswert kurzer Zeit. Heute bin ich etwas zurückhaltender, wenn man mich fragt. Leseinteressen ändern sich nunmal, aber da kann Steinbeck ja nichts dafür.


Biographie

John Ernst Steinbeck, amerikanischer Erzähler deutsch-irischer Abstammung, geboren am 27. Februar 1902 in Salinas, wuchs in Kalifornien auf. 1918-24 Studium der Naturwissenschaften an der Stanford University, Gelegenheitsarbeiter, danach freier Schriftsteller in Los Gatos bei Monterey. Im Zweiten Weltkrieg Kriegsberichterstatter, 1962 Nobelpreis für Literatur, gestorben am 20. Dezember 1968 in New York. (Quelle: dtv).


Was hatte ich nicht schon alles gelesen! Große, gewichtige Romane über Sanatorien in den Schweizer Alpen oder den quälend langen Tag eines Dubliners. Und dann kommt dieses vergleichsweise dünne und scheinbar banale „Tortilla Flat“ daher und trifft mich mitten ins Mark! Es existiert keine Handlung, die Charaktere sind nahezu stereotyp und es ist dennoch bis heute eines der schönsten Bücher, die ich je gelesen habe. „Tortilla Flat“ bezieht seine Schönheit aus einer archaischen Einfachheit, die weit entfernt von Banalität das Wesentliche propagiert. Steinbeck schreibt präzise und so prägnante Sätze, dass zwischen ihnen der Blick frei wird auf unverfälschtes, reines Leben. Er erschafft Bilder, in denen man leben kann, die noch monatelang in einem nachhallen und die Spuren hinterlassen wie ein schöner Urlaub.

Der Nachmittag trat so unmerklich ein, wie das Alter einen Glücklichen überschleicht. Im Sonnenlicht funkelte ein wenig mehr Gold. Das Blau der Bucht vertiefte sich, vom Küstenwind gekräuselt. Die einsamen Fischer, die des Glaubens waren, die Fische bissen nur während der Flut an, verließen ihre Felsensitze, und anderen nahmen, in der Meinung, die Fische zur Zeit der Ebbe besser zu ködern, ihre Plätze ein.

Das Fehlen einer Story wird kompensiert durch die Aneinanderreihung liebevoller Anekdoten, die anfänglich ein Schmunzeln auslösen, das aber schon bald einer schleichenden Wehmütigkeit weicht. Steinbeck weckt Sehnsüchte nach eben diesem ursprünglichen und einfachen Leben. Demzufolge müsste das den Leser quälen, ihn beim Lesen anklagen, da es uns schonungslos die Entfremdung unserer Lebensweise von eben diesem ursprünglichem Leben vor Augen führt. Doch dies geschieht nicht. Steinbeck zu lesen gerät nie zur Qual, sondern zu einer Hilfestellung. Es lehrt das Schöne im Alltäglichen zu erkennen und sensibilisiert für die ganz kleinen Freuden und Wunder im Leben.

Als die Sonne sich über die Kiefern erhoben hatte, der Boden erwärmt war und der Morgentau auf den Geranienblättern trocknete, begab sich Danny auf die Veranda seines Häuschens und sann, in der Sonne sitzend, über verschiedene Ereignisse nach.

Seine Vorlieben für die Belange der ungehörten kleinen Leute fand direkten Einzug in sein Hauptwerk „Früchte des Zorns“. Steinbeck erhöhte die Klasse der landlosen Wanderarbeiter zu seinen Romanfiguren und geriet ob seiner Parteinahme in den ungerechtfertigten Ruf eines Sozialisten. Den Skandal, als er trotz aller einzusteckenden Kritik ausgerechnet für dieses Buch den Nobelpreis zugesprochen bekam, kann man sich denken! Über die bis heute anhaltende Bedeutung von „Früchte des Zorns“ sowie des ebenso groß angelegten „Jenseits von Eden“ braucht man nicht zu diskutieren. Leider muss ich jedoch gestehen, dass mir ausgerechnet die beiden Bücher, denen Steinbeck seinen Ruhm verdankt, am wenigsten bedeuten.

Ich liebe Steinbeck in erster Linie für seine Novellen. Frei von von jedem sozialkritischen Anspruch schreibt er um ein Vielfaches entspannter und gemächlicher. Wenige Sätze reichen ihm bereits, das ländliche Kalifornien seiner Zeit zu beschwören. Nach einiger Zeit stellt sich Vertrautheit ein und ein späteres Lesen weiterer Bücher wirkt wie die Rückkehr zu einem Ort voller Erinnerungen. Einmal in seinem Setting angekommen, nimmt Steinbeck sich die Zeit, seinen Charakteren den Raum zu geben, den sie benötigen – und sei es für Müßiggang. Ungetrieben von einer zu verfolgenden Handlung widmet er sich dem Alltag der Säufer, Außenseiter und Taugenichtsen mit einer Achtung und mitfühlenden Liebe, die leider selten ist. So kann nur jemand schreiben, der sich der Straße verbundener fühlte als dem Feuilleton. Dass ihm das ohne jeden Pathos in einer nahezu beispielhaft naturalistischen Sprache gelingt, ist aus meiner Sicht umso höher einzuordnen.

Über die Jahre haben seine zugrunde liegenden Themen sicherlich an gesellschaftlicher Relevanz verloren. An der sprachlichen und vor allem atmosphärischen Rezeption seiner Werke ändert das allerdings nichts. Gestern wie heute sind seine Beschreibungen der Lebenswelten der Unterprivilegierten in ihrer Dichte ein literarischer Genuss. Zudem bleibt Steinbeck für mich ein Gradmesser für die dringend notwendige Einordnung der allerorts geforderten Gleichzeitigkeit in unserer Leistungsgesellschaft. Steinbeck zu lesen heißt vor allem entschleunigen lernen – das war nie wichtiger als heute.


Lesetipps

Tortilla Flat (Original: Tortilla Flat). 1935.

Von Mäusen und Menschen (Original: Of Mice and Men). 1937.

Die Straße der Ölsardinen (Original: Cannery Row). 1945.

Meine Reise mit Charley (Original: Travels with Charley: In Search of America). 1962.


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