Vor dem Zweiten Weltkrieg und dem Einmarsch der Deutschen galt Amsterdam als das “Jerusalem Europas”. Für den Journalisten Egon Erwin Kisch war die niederländische Metropole die Stadt der “Fahrräder und Juden.” Vor dem Einmarsch der Deutschen schien Amsterdam die Heimat der Juden schlechthin zu sein, wo sie sich mühelos assimilieren konnten. Die relative Toleranz, die Juden in den Niederlanden genossen wurde ihnen allerdings zum Verhängnis, da sie seit Jahrhunderten kein Pogrom gegen sie erlebten, fehlte ihnen das Vorstellungsvermögen für derartige Gräuel. Von den 140.000 Juden, die vor dem Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden gezählt wurden, endeten 107.000 in den NS-Vernichtungslagern, von den 80.000 Amsterdamer Juden überlebten nur 5.000 den antisemitischen Terror. Mit 75% war der Anteil der niederländischen Juden, die Opfer der “Endlösung” wurden, höher als in jedem anderen westeuropäischen Land. 98 Deportationszüge mit gut 100.000 Juden konnten die Niederlande ohne nennenswerten Zwischenfall verlassen. Die Deportation der Juden lief “wie am Schnürchen”, erklärte Adolf Eichmann stolz. Nach der Befreiung wurde fast eine halbe Millionen Niederländer registriert, die in irgendeiner Weise mit den Besatzern kollaboriert hatten. 120.000 von ihnen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt und 34 wurden exekutiert.
Juden lebten vor allem im Südosten Amsterdams und genau dort war das Fußballstadion von Ajax Amsterdam. Die einzigen Institutionen im Amsterdamer Osten, in denen man vor dem Zweiten Weltkrieg keine jüdische Kultur vorfand, waren die holländische Nazi-Partei NSR und die Kirchen. Ajax wurde zwar von der starken jüdischen Kultur erfasst, war aber kein jüdischer Klub, gleichwohl verschiedene Juden den Klub geprägt haben. Von Anfang an hatte Ajax eine große jüdische Fanbasis. Der jüdische Künstler Rebbe Meyer de Hond, der 1943 in Sobibor ums Leben kam, beschwerte sich 1926 darüber, dass sich die Juden zu sehr um Ajax und zu wenig der Synagoge widmen würden. Rekordspieler von Ajax, wie Sjaak Swart, Bennie Muller und Johan Neeskens waren jüdischer Herkunft wie die Präsidenten Jaap van Praag oder Uri Coronel. Der milliardenschwere Immobilienmagnat Maup Caransa, der fast seine gesamte Familie im Holocaust verloren hatte war ein wichtiger Mäzen in den goldenen 1970er Jahren. Nicht Ajax als Klub, wohl aber ein informelles Netzwerk von Ajax-Mitgliedern und Anhängern, rettete viele Juden vor der Deportation in die Vernichtungslager. Einer dieser “rettenden Engel” war Kuki Krol, Vater des späteren Ajax-Stars Ruud Krol, Kapitän der niederländischen Nationalmannschaft und Vize-Weltmeister 1978. Ruud Krol wuchs in der Nicuwinarket-Gegend auf und war mit Juden seit frühester Jugend bekannt. Kuki Krol, Mitglied einer Amsterdamer Widerstandsgruppe, versteckte während der Besatzung 14 Juden und rettete ihnen das Leben. Darunter auch George Horn, Bruder von Leo Horn, dem berühmtesten Schiedsrichter der niederländischen Fußballgeschichte.
Der Club gilt vielen Fußballfans aufgrund seiner Vergangenheit von daher als “Juden-Club” und ist infolgedessen der am massivsten mit Antisemitismus konfrontierte Spitzenklub des internationalen Fußballs. “Ajax ist ein Judenklub!”, “Hamas, Hamas – alle Juden ab ins Gas!”, “Wir jagen die Juden!”, “Der Ajax-Zug nach Auschwitz ist abfahrbereit!” – solche und ähnliche Schmährufe begegnen den Fans und Spielern von Ajax Amsterdam bei ihren Auftritten in fremden Stadien. Eine lange Tradition haben die durchdringenden Zischlaute, mit denen die Ajax-Gegner auf den Rängen das Geräusch ausströmenden Gases imitieren. Tausende von Feyenoord-Fans hüpfen im Takt zum Schlachtruf “Wer nicht mit springt, ist ein Jude”. Ein großer Teil der Ajax-Fans beantwortet den Antisemitismus mit “Juden! Juden! Wir sind Super-Juden!” und ähnlichen Sprechchören. Die Nationalflagge Israels und der Davidstern sind längst ein fester Bestandteile der Ajax-Folklore. Die Fans von Ajax lassen sich Davidsterne tätowieren und nennen sich selbst “Juden”, ohne welche zu sein. Die niederländische Fan-Gruppe “F-Side” bezeichnet sich selbst als “geselliges Chaos” und “kreativste und anarchistischste” Fangruppe. Das Logo der “F-Side” ist ein Davidstern mit einem “F” in seiner Mitte, auch Ajax-Stern genannt. Ajax und Juden sowie Davidstern und Ajax-Stern werden in den Niederlanden häufig wie Synonyme behandelt. So beklagte sich ein Rabbi schon einmal darüber, dass Menschen auf der Straße bei seinem Anblick “Ajax” gerufen hätten. Mit der Zeit wurden die prosemitischen Demonstrationen der »F-Side« mehr und mehr auch von den Mainstream-Fans getragen. Eine bestimmte Verbundenheit besteht im Verhältnis zwischen Israel und den Niederlanden, was speziell im Fußball seinen Ausdruck findet. Als Ex-Ajax-Star und Nationalspieler Ronald de Boer einmal die Äußerung tätigte: “Mein Schwiegervater heißt Cohen und sein Schwiegervater Polak. Es muss irgendeine Form von Bande zwischen mir und Israel geben”, füllte diese Bemerkung eine komplette Seite der israelischen Zeitung “Jediot Achronot”, schreibt Dietrich Schulze-Marmeling in “Davidstern und Lederball”.
Ajax Amsterdam ist neben dieser Historie vor allem mit einem Namen verbunden, mit Johan Cruyff, dem “Fußballer des Jahrhunderts”. Johan Cruyff war ein Kind des Amsterdamer Ostens, er wurde unweit vom Ajax-Stadion am 25. April 1947 in Akkerstraat geboren. Cruyffs Vater war ein kleiner Gemüsehändler, der starb als Sohn Johan zwölf Jahre alt war. Seine Mutter verdiente nach dem Tod ihres Mannes mit Putz- und Kantinenarbeiten bei Ajax das nötige Geld zum Leben. Johan Cruyff besaß mehr jüdische Freunde und jüdische Verwandte als so mancher niederländische Jude. Seine Tante war mit einem jüdischen Diamantenhändler verheiratet. Seine Schwägerin hatte ebenfalls einen Juden zum Mann. Ihr Sohn, zu dem Cruyff eine enge Beziehung unterhält, wurde ein Orthodoxer und ging nach Jerusalem. Am 15. November 1964 debütierte der 18-jährige Cruyff in der ersten Liga für Ajax Amsterdam, wo er in den folgenden neun Jahren in 364 Spielen 266 Tore schoss. 1965 übernahm der “General” Rinus Michels Ajax Amsterdam und legte mit seiner offensiven Spielweise und der Auflösung der starren Positionen die Grundlagen für den “Totalen Fußball”. Johan Cruyff wurde neunmal niederländischer Meister, sechsmal niederländischer Pokalsieger, von 1971 bis 1973 dreimal Europapokalsieger der Landesmeister, spanischer Meister und Pokalsieger, Europas Fußballer des Jahres 1971,72 und 1973. Für Niederländer seiner Generation war Johan Cruyff mehr als nur ein Fußballer. Flubert Smeets, Politik- und Kulturkommentator des NRC Handelsblad, sieht in ihm den hauptsächlichen Vertreter jener kulturellen, politischen und sozialen Revolution, die die Niederlande in den 1960ern von einem rückständigen Land zu einer der progressivsten Adressen in Europa transformiert habe. Wie keinem anderen seiner Generation sei es Cruyff gelungen, eine Verbindung von Kollektivismus und Individualismus zu realisieren.
1973 wechselte der “unangepasste Mittelstürmer” von Ajax Amsterdam nach Barcelona, wo er sofort zum Publikumsliebling wurde. Der Trainer der Katalanen hieß bereits seit 1971 Rinus Michels. Es war die Zeit als die Katalanen anfingen, sich gegen das Regime des „Generalissimo“ zur Wehr zu setzen. Johan Cruyff sagte zu seinem Wechsel, „ er habe sich für Barcelona und gegen Madrid entschieden, weil er nicht für einen Club spielen könne, der mit einem Diktator assoziiert wird“. Obwohl in Franco-Spanien der Vorname Jordi (Schutzpatron Kataloniens) seinerzeit verboten war, bekam Cruyffs Sohn diesen Namen. Die Eltern umgingen das Verbot, indem sie den Namen in den Niederlanden eintragen ließen. Diese offene Auflehnung gegen Franco trug zu Johan Cruyffs Kultstatus in Katalonien und zur Verehrung als “El Salvador” bei. 85 Tore in 227 Spielen und der erste Meistertitel für Barcelona seit 1960 waren die stolze Bilanz. Johan Cruyff war einer der besten Spielmacher der Fußballgeschichte, er war der Star des „totalen Fußballs“. Ähnlich erfolgreich arbeitete er nach seiner Spielerkarriere als Trainer für Ajax Amsterdam und den FC Barcelona. 1988 wird “El Salvador” der Trainer des FC Barcelona. Die Demokratie hat sich etabliert und die Stadt erlebt eine kulturelle und soziale Renaissance. Cruyff reformierte die Nachwuchsarbeit in La Masia, der Jugendakademie des FC Barcelona. Es wird fast ausschließlich mit dem Ball trainiert. Spielkontrolle, Kurzpässe, stetes Rotieren sind die Aufgaben in allen Altersklassen. „Tiki Taka“ und der moderne “Sechser” wurden von Cruyff erfunden. Pep Guardiola, der jetzige Bayern-Trainer übernahm die Rolle als “Sechser” und wurde der Spielgestalter aus der Tiefe und Bindeglied zwischen Abwehr und Angriff. Mit Pep Guardiola verbindet Johann Cruyff bis heute eine große Freundschaft. In seiner Zeit als Barca-Trainer musste sich der Kettenraucher Cruyff einer komplizierten Herzoperation unterziehen, seitdem stellte er das Rauchen ein und beteiligt sich an Anti-Raucher-Kampagnen. Die größte sportliche Niederlage der “Nummer 14″ bleibt freilich das verlorene WM-Finale 1974 in München. Beckenbauer sagte später: “Johan war der bessere Spieler, aber ich bin Weltmeister.“
Johan Cruyff, des Hebräischen mächtig, gegenüber jüdischen Angelegenheiten aufgeschlossen und an den Problemen des jüdischen Staates stets interessiert, genießt in Israel große Popularität. Der israelische Fußballanalytiker und Philosoph Saggie Cohen ist davon überzeugt: “Würde Cruyff in Israel eine politische Partei gründen, wären ihm in der Knesset zwei bis drei Sitze garantiert. Johan Cruyff würde von vielen Israelis wie ein Ehrenbürger ihres Staates betrachtet.” Während der großen Fußballturniere hat Cruyff oft Kolumnen für Israels großen Tageszeitungen geschrieben und manchmal stand darunter: “Speziell für Israel”. Im letzten Jahr ehrte Johan Cruyff in Yad Vashem Familienangehörige, die während der Schoa ermordet wurden. Bei seiner Reise nach Israel besuchte er außerdem Sohn Jordi, der seit vergangenem Sommer als Sportdirektor bei Maccabi Tel Aviv arbeitet, um ihm zu gratulieren, denn der Club ist neuer israelischer Fußballmeister.
Wie sehr die “Nummer 14″ in Israel verehrt wird belegt eine Begebenheit während des Golfkrieges. Als Israels Bevölkerung während des Golfkrieges 1991, vor dem Fernseher saß, in ständiger Furcht vor irakischen Raketenangriffen mit Scud-Raketen und der Drohung diese Raketen seien mit Giftgas bestückt, wurden die Nachrichten unterbrochen, um das Fernsehpublikum über die Herzoperation von Johan Cruyff zu informieren.
Quelle: Dietrich Schulze-Marmeling – Davidstern und Lederball: Fahrräder, Juden, Fußball: Ajax Amsterdam – Verlag: Die Werkstatt (10. April 2003)