Jodeln, beten und morden

„Es gibt keinen Gott auf dieser Welt, es gibt nur die Hölle“. Das ist der letzte Satz, der auf der Bühne gesprochen wird. In „Tannöd“, einem Kriminalfall, den Andrea Maria Schenkel 2006 in Romanform veröffentlichte und der nun in einer Bühnenfassung im Theater Scala in Wien zu sehen ist.

Sechs Menschen wurden auf einem Bauernhof brutal abgeschlachtet. Bauer und Bäuerin, die Tochter und ihre beiden Kinder sowie eine Magd. Wie es dazu kam, erfährt man in einer Inszenierung von Rüdiger Hentzschel. Dieser schafft mit einer höchst kunstvollen Taktung des Geschehens einen Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Minute. Ganz idyllisch lässt er das Stück mit einem 8-stimmigen Jodler beginnen. Wohl fühlt man sich dabei aber trotzdem nicht, zu herb ist das ebenfalls von Hentzschel verantwortete Bühnenbild. 20 Leitern sind auf der Bühne angeordnet, ein unüberblickbares Gewirr von Holzstangen, gebettet auf stark duftendem Rindenmulch.

Tannöd am Theater Scala (c) Bettina Frenzel Tannöd am Theater Scala (c) Bettina Frenzel

Bald schon wechselt der Gesang zu kollektiv gesprochenen Gebeten und unendlich langen Fürbitten, während das Ensemble mit gefalteten Händen zwischen den Leitern hin- und her schreitet. Die authentischen Kostüme (Alexandra Fitzinger) lassen ebenfalls keinen Zweifel aufkommen; die Menschen, die hier in volksgläubiger Manier religiöse Hirnwäsche betreiben, sind bäuerlicher Abstammung. Sie sind Bewohner nicht nur eines Bauernhofes, sondern auch der benachbarten Höfe und des kleinen Ortes, in dem der Pfarrer und der Bürgermeister das Sagen haben.

Noch gibt es keine Handys, noch ist nicht jede Familie in Besitz eines Autos oder Fernsehers. Der Hof der Danners liegt abgelegen, die Familie ist eigenbrötlerisch. Niemand geht gerne zu ihnen, als geizig ist der Bauer und seine Sippschaft verschrien. Vom Leid, das die Frauen dort ertragen müssen, erfährt man aus den knappen aber eindringlichen Erzählungen der Bäuerin und ihrer Tochter Barbara. Missachtet und geschlagen die eine schon kurz nach der Hochzeit, missbraucht vom eigenen Vater als junges Mädchen die andere. Aber das Dorf, in dem über alles und jedes geredet wird, hält still.

Eine Figur nach der anderen wird langsam vorgeführt, oft nur mit wenigen Sätzen charakterisiert. Diese reichen aber aus, um nach und nach ein Bild von der dörflichen Gemeinschaft und jenes Geschehens zu bekommen, das die Bewohner des Landstrichs in ihren Grundfesten erschütterte – dem Mord an der Familie Danner, die komplett ausgelöscht wird und dem auch die Magd Marie zum Opfer fällt.

Tannöd am Theater Scala (c) Bettina Frenzel Tannöd am Theater Scala (c) Bettina Frenzel Tannöd am Theater Scala (c) Bettina Frenzel Tannöd am Theater Scala (c) Bettina Frenzel

Was zu Beginn gezeigt wird, ein Gesang und eine Gebetslitanei, erweist sich als kluger Regiegriff, mit dem höchst kunstvoll die einzelnen Szenen in weiterer Folge voneinander getrennt werden. So kann das Publikum, ohne jegliche Umbauten, die unterschiedlichen Orte und Handlungsstränge voneinander unterscheiden. Auf diese Weise wird ein- und dieselbe Bühnenausstattung zur Stube des Dannerhofes, zum Dachboden desselben, zum Haus des Bürgermeisters oder des Pfarrers und zur Kirche, in der gemeinsam der Rosenkranz gebetet wird. Eine Herausforderung dennoch für die Schauspielerinnen und Schauspieler. Wenn sie nicht gerade an der Reihe sind, müssen sie auf die Leitern klettern oder sich dahinter, so gut es geht verdeckt, vom Geschehen fernhalten.

Direkte und indirekte Rede, die dazu dient, die Handlung voranzutreiben, wechseln einander ab. Der Bauer, der auf dem Hof „der Herrgott“ war, bleibt einsilbig, wird nur angesichts von Fußspuren nervös, die zum Hof hin- aber nicht mehr wegführen. Michel, der Einbrecher, hat Zeit zu erklären, wie er zum Dieb wurde. Ihn kann man bei seinem Einbruchsversuch verfolgen, den er genau zu dem Zeitpunkt durchführen wollte, als das große Töten auf dem Hof stattfand. Zur falschen Zeit und am falschen Ort wird er Zeuge der Tat, ohne den Täter jedoch gesehen zu haben. Behauptet er zumindest.

Wer der Täter war, ist die große Frage. Denn es gibt mehrere Möglichkeiten. Vinzenz, der Barbaras Tochter gezeugt haben soll, dann aber nach Amerika auswanderte?Georg, der sich nach dem Tod seiner Frau in Barbara verliebte und mit ihr den Sohn Josef bekam? Der Einbrecher, der nach der Tat psychisch erkrankte oder jener „Fremdarbeiter“, der sich für den Tod einer jungen Frau rächen wollte, die sich auf dem Hof während des Krieges erhängte? Neben den Hauptpersonen haben rund zehn weitere ihren Auftritt, was für das extrem homogene Ensemble Mehrfachbesetzungen bedeutet.

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Dabei decken die Frauen mit ihren Rollen, Monica Anna Cammerlander, Carina Thesak, Johanna Withalm und Birgit Wolf, all jene Charaktereigenschaften ab, die es in einer sozial höchst ungesunden, kleinen Dorfstruktur zu finden gibt: Sie sind unterwürfig, ängstlich, tratschsüchtig, bigott. Barbaras Ausbruchsversuch bleibt letztlich ohne Konsequenz für sie und ihre Familie. Ohne Eitelkeit, extrem glaubhaft und berührend von Johanna Withalm dargestellt, ist sie jener ungewollte Mittelpunkt des Geschehens, der von Beginn bis zum Schluss das bittere Los eines weiblichen Opfers tragen muss. Unter die Haut geht jene Szene, in der sie sich neben ihrem Vater auszieht und wäscht, während dieser (Hermann J. Kogler) in Unterwäsche ein unangenehmes Gefühl von abstoßender, körperlicher Nähe über die Bühnenrampe bringt. Kogler schlüpft auch in die Rolle eines Knechts sowie des Pfarrers, der sich seiner giftspritzenden Köchin nicht erwehren kann. Sebastian Anton Maria Brummer, Bernie Feit und Wolfgang Lesky geben dem Monteur, dem Briefträger, dem Bürgermeister und Barbaras Liebhaber Vinzenz kantige Profile.

Der Vorfall basiert auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1922. Im Gegensatz zur Bühnenfassung, die mit der Entlarvung des Täters endet, wurden die Morde auf dem Einödhof Hinterkaufeck nie aufgeklärt.

„Tannöd“ in der Scala ist ein dunkles Stück, erstklassig besetzt, dessen Regie die knappen Textpassagen spröde aber anschaulich umsetzt. Es ist ein theatralisches Streiflicht in eine Zeit, in der ein grausames Patriarchat von einer obrigkeitshörigen Gesellschaft gedeckt wurde. Die Inszenierung hebt nicht das Mordgeschehen in den Vordergrund, sondern vielmehr die gesellschaftlichen Umstände, die zu diesem überhaupt führen konnten. Die Tötung der Danners hat zwar in letzter Konsequenz ein Mensch durchgeführt. Die Schuld am Leid der Familie verteilt sich aber auf viel mehr Schultern. Ein großer Stoff und großes Theater in einem kleinen Haus. Sehenswert!


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