20.2.2012 – Nach dem lange überfälligen Rücktritt von Christian Wulff haben Union, FDP, SPD und Grüne nur zwei Tage gebraucht, um mit Joachim Gauck einen konsensualen Nachfolger zu installieren. Konservative Presse und Konzernmedien haben über Wochen den Boden bereitet, um ihren Favoriten von 2010 als Phönix aus der Asche auferstehen zu lassen.
Parteipolitisches Gerangel
Als SPD und Grüne im Sommer 2010 Joachim Gauck aus dem Hut zogen, da wollten sie damit vor allem die Regierungskoalition schwächen und die Wahl des Parteisoldaten Christian Wulff zum Bundespräsidenten zumindest erschweren. Der Vorschlag stammte damals von Sigmar Gabriel und der schaute seinem Kandidaten nur vor die charismatische Fassade. Hätte er tiefer geblickt, dann wäre er auf eine Reihe von Eigenschaften und Standpunkten gestoßen, die es zweifelhaft erscheinen lassen, ob Gauck der Richtige für das Amt ist.
Statt nun das mehrwöchige Rücktrittstheater zu nutzen, um sich Gedanken über einen geeigneten Nachfolger für Christian Wulff zu machen, konnten SPD und Grüne nicht widerstehen, ihren Besetzungswitz von 2010 zu wiederholen. Zu groß war wohl die Versuchung, der Kanzlerin ihren präsidialen Fehlgriff möglichst wirkungsvoll unter die Nase zu reiben und Gauck mit einem deutlich vernehmbaren „Ätsch“ aus den Mündern von Andrea Nahles und Claudia Roth erneut auf Bellevue marschieren zu lassen.
Als sich dann gestern auch noch das FDP-Präsidium auf die Seite der Gauck-Verfechter schlug – die „Liberalen“ im Todeskampf sind leicht zu berechnen und tummeln sich seit Monaten grundsätzlich dort, wo sie mehr als zwei Prozent Zustimmung vermuten – wurde die Lage für die Kanzlerin schwieriger. Angela Merkel wusste genau, dass die Stimmen der SPD, der Grünen und der FDP in der Bundesversammlung für Gauck reichen würden. Sie stand also vor der Wahl, eine gute oder eine schlechte Verliererin zu sein und entschied sich letztlich für Schadensbegrenzung.
Die Tatsache, dass sich die FDP letztlich zur Unterstützung Gaucks durchgerungen hat, lässt sich dabei leicht erklären. Schließlich sind beider Definitionen von „Freiheit“ annähernd identisch und stellen vor allem die Freiheit der Märkte und ihrer Akteure in den Mittelpunkt. Wenn Joachim Gauck sagt: „Wir stellen uns nicht gerne die Frage, ob Solidarität und Fürsorglichkeit nicht auch dazu beitragen, uns erschlaffen zu lassen“, dann könnte es sich hierbei ebenso um die Präambel des Parteiprogramms der FDP handeln.
Wer nun glaubt, Angela Merkel habe angesichts der Gauck Nominierung ausschließlich gute Miene zum bösen Spiel gemacht, der kann sich spätestens im Wahlkampf 2013 eines Besseren belehren lassen. Sollten nämlich SPD und Grüne tatsächlich auf den Gedanken kommen, sozialpolitische Themen in den Mittelpunkt ihrer Wahlkampagnen zu stellen, dann wird sich Gauck, ganz im Sinne der Union, als Unterstützer der „marktkonformen Demokratie“ einsetzen lassen.
Die Nominierung von Joachim Gauck zum elften Bundespräsidenten beruht nicht auf seriösen Überlegungen darüber, welche Persönlichkeit das Land nach Außen bestmöglich vertreten, mit Fingerspitzengefühl moderieren und im Innern mit Weisheit und Einfühlungsvermögen einen und versöhnen kann, sondern einzig auf einem partei- und machtpolitischen Gerangel. Alle aktiv Beteiligten stellen dabei eindrucksvoll unter Beweis, dass sie jederzeit dazu bereit sind, die Reste demokratischer Tradition und Kultur zu opfern, wenn sich hieraus nur ein persönlicher oder ein strategischer Vorteil ziehen lässt.
Spalten statt Verbinden
Joachim Gauck sieht aus wie ein Präsident. Er hat eine sonore Stimme, ist souverän und kann mit Menschen umgehen. Er ist ein gestandener Mann mit gepflegter Kleidung und vollem Haar, strahlt Ruhe aus und wirkt bedächtig und unaufgeregt. Soviel zu seiner Eignung für das höchste Amt im Staat.
Allerdings wird er mit dem Amtseid unter anderem schwören, dass er seine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben wird. Seine hauptsächliche Aufgabe besteht also darin, Unterschiede in der Gesellschaft zu überwinden, zwischen verschiedenen Gruppen und Positionen zu vermitteln und Gerechtigkeit herzustellen.
Als Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde war Gauck zwischen 1990 und 2000 unterschiedlichen Vorwürfen ausgesetzt. Mal wurde kritisiert, er stelle bei der Amtsführung seine persönliche Abneigung gegen den Sozialismus zu sehr in den Vordergrund. Mal musste er sich dafür rechtfertigen, zahlreiche ehemalige Stasi-Mitarbeiter in der Behörde zu beschäftigen und den Bundestag hierüber nur unzureichend zu informieren.
Zusätzlich stand er im Verdacht, zu DDR-Zeiten selber Begünstigter der Stasi gewesen zu sein. Sein Antrag auf eine einstweilige Verfügung gegen entsprechende Äußerungen wurde durch das Oberlandgericht Rostock abgelehnt. Im Rahmen eines weiteren Verfahrens einigte sich Gauck letztlich gütlich mit seinem hauptsächlichen Widersacher, dem letzten Innenminister der DDR, Peter-Michael Diestel.
Über die Energiewende der Bundesregierung sagte Gauck, man solle wichtige politische Entscheidungen nicht von der „Gefühlslage der Nation“ abhängig machen. In Bezug auf die Stuttgart 21 Bewegung warnte er vor einer Protestkultur, die „aufflammt, wenn es um den eigenen Vorgarten geht“. Die Occupy-Bewegung griff er im Oktober 2011 scharf an und bezeichnete die Antikapitalismus-Debatte in diesem Zusammenhang als „unsäglich albern“. Nach seiner Auffassung ist es zweifelhaft, ob „unsere Einlagen sicherer wären“, wenn Politiker in der Finanzwirtschaft das Sagen hätten. Den Argumenten und Forderungen einer weltweiten Protestbewegung setzt er in Anspielung auf sein persönliches DDR-Trauma ein zynisches „Ich habe in einem Land gelebt, in dem die Banken besetzt waren“ entgegen.
Joachim Gauck rät Regierung und Opposition, ihre Politik verständlicher zu erklären, wenn es um unpopuläre aber notwendige Maßnahmen geht. Er spricht sich für soziale Einschnitte aus, lobt die Agenda 2010 und verteidigt die Rente mit 67. Solidarität und Fürsorglichkeit sind für ihn dagegen mit der Gefahr verbunden, „uns erschlaffen zu lassen“.
Am 20. Jahrestag der deutschen Einheit fordert Gauck mehr „Eigenverantwortung“ von Hartz-IV-Empfängern und Einwanderern. „Wir müssen uns nicht fürchten, auch in den Problemzonen der Abgehängten Forderungen zu stellen“ äußert er in Richtung auf die Empfänger von Sozialleistungen. Gegenüber Menschen mit ausländischen Wurzeln sagt er: „Bei der Versorgung wollen selbst diejenigen integriert sein, die unsere Kultur ablehnen, sie sogar bekämpfen und denunzieren“.
Thilo Sarrazin attestiert er „Mut bewiesen“ zu haben. Aus dem Erfolg seines Buches „Deutschland schafft sich ab“ sollen Politiker lernen, dass „ihre Sprache der politischen Korrektheit bei den Menschen das Gefühl weckt, dass die wirklichen Probleme verschleiert werden sollen“. Die Überwachung der Linkspartei durch den Verfassungsschutz rechtfertigt Gauck damit, dass es für den Inlandsgeheimdienst „gute Gründe“ zur Beobachtung linker Politiker geben werde und weißt die Vorstellung, es handle sich beim Verfassungsschutz um eine „Vereinigung von Leuten, die neben unserem Rechtsstaat existiert und Linke verfolgt“ vehement zurück.
Gaucks Freiheitsbegriff
Betrachtet man die vielen gesellschaftlichen Gruppen, die Joachim Gauck in den vergangenen Jahren teilweise scharf angegriffen und kritisiert hat, in ihrer Gesamtheit, dann gerät das Bild vom „Freiheitskämpfer“ und „neutralen Vermittler“, der „jedermann Gerechtigkeit widerfahren lässt“ ins Wanken.
Wie soll es jemandem gelingen, gerecht zwischen unterschiedlichen Gruppen in der Gesellschaft zu vermitteln und ihren berechtigten Forderungen Gehör und Einfluss zu verschaffen, der Arbeitslose, Aufstocker, Hartz-IV-Empfänger, Migranten, Linke, Atomkraftgegner, Stuttgart-21 Protestler, Kapitalismus-Kritiker und Demonstranten mit oft drastischen Worten zurückweist und ihre Bedürfnisse und Wünsche teilweise der Lächerlichkeit preisgibt?
Die Auffassungen und das Handeln von Joachim Gauck beruhen überwiegend auf seinem ganz persönlichen Begriff von Freiheit, der auf den abstrakten Idealen des Liberalismus basiert. Freiheit bedeutet für ihn vor allem den Schutz der Wirtschaft und der Bürger vor den Eingriffen des Staates und ist mit der Vorstellung verbunden, dass jeder selber für sein Schicksal verantwortlich ist. Wer sich von diesem Freiheitsbegriff überfordert fühlt und in der Gesellschaft unterliegt, der ist für Gauck kleinmütig, dem fehlt der Wille zur Selbstbehauptung und der ist politisch und intellektuell überfordert.
Die konservative Presse in Deutschland und die Konzernmedien, allen voran die „Bild-Zeitung“, haben Joachim Gauck schon 2010 zum „Präsidenten der Herzen“ hochgeschrieben. Abgesehen davon, dass es gute Gründe gab, die gegen Christian Wulff und seine Amtsbefähigung sprechen, ist die große Popularität von Gauck vor allem das Resultat der konzentrierten Medienkampagne der letzten Wochen. Mit ihm werden wir jetzt einen Präsidenten bekommen, der sich vor allem dazu eignet, die neoliberalen und marktkonformen Konzepte der wirtschaftshörigen Politiker in Deutschland und Europa zu zementieren, Widerstand gegen die postdemokratischen Strukturen im Keim zu ersticken und diejenigen, die sich mit gutem Grund gegen die herrschenden Verhältnisse stellen, noch weiter an den Rand der Gesellschaft zu drängen.
Joachim Gauck wird somit nicht der Präsident aller Deutschen sein. Er wird nicht verbinden sondern spalten, er wird nicht integrieren sondern ausgrenzen und er wird über 2013 hinaus dabei behilflich sein, die Macht der ungezügelten Wirtschaft über die geschwächte Demokratie zu stärken.