Jewgeni Bauer – ein russischer Filmpionier

UMIRAYUSHCHII LEBED
(dt.: Der sterbende Schwan)
Russland 1917
Mit Vera Karalli, Vitold Polonskii, Andrei Gromov, u.a.
Regie: Jewgeni Bauer
Dauer 49 min

Jewgeni Bauer – ein russischer Filmpionier

Posle smerti (dt.: Nach dem Tode), der letzte Woche hier vorgestellt wurde, handelte von einem Individuum, das vom Tod besessen ist. In diesem weiteren Film des russischen Filmpioniers Jewgeni Bauer steht wieder ein solcher Mensch im Zentrum. War Andreis morbide Neigung in Posle smerti psychologisch erklärbar, so steht hier ein offensichtlich Verrückter im Zentrum: Der Maler Glinskyi (Andrei Gromov) ist vom Tod fasziniert, seit er lebt. Als Künstler will er ihn auf die Leinwand bannen, doch es gelingt ihm einfach nicht. Da entdeckt er Gizelle (Vera Karalli, die damals legendäre Ballerina des Bolshoi Theaters), eine stumme Tänzerin, deren Verkörperung des sterbenden Schwans für Glinskyi zur Offenbarung wird: Genau das hat er gesucht, genauso will er den Tod malen, der für ihn eine Verheissung, eine Erlösung vom miserablen Erdenlebern bedeutet.

Er lädt Gizella in sein Atelier ein, wo sie für ihn den Schwan tanzt und er glaubt, seiner Vision, seinem Meisterwerk so nahe zu sein wie nie.
Glinskyis Verrücktheit zeigt Bauer nicht, indem er den Maler sich in übertrieben wildem Gebaren oder irren Gesten ergehen lässt, so, wie das im Kino damals üblich war und es zum Teil noch heute ist. Mit einer kleinen, fast unscheinbaren Szene deutet er die Verrücktheit des Malers als Realitätsverlust. Als Glinskyi seinem engsten Freund euphorisch sein künftiges Meisterwerk präsentiert, ist dieser entsetzt und hält dagegen: „Aber das ist ja völlig untalentiert – schrecklich!“

Glinskyi malt weiter. Im Nachhinein erkennt man, dass Gizellas depressive Gemütsverfassung wahrscheinlich der Hauptauslöser für Glinskyis Euphorie war. Sie, die einst von ihrem Geliebten sitzengelassen wurde, wurde schwermütig, man darf aus dem Kontext auf  Todessehnsucht schliessen. Darauf wandte sie sich, auf Anraten ihres Vaters, der Kunst zu und wurde Tänzerin.
Als am Schluss der Geliebte nämlich zu ihr zurückkehrt, überstrahlt ein glückliches Leuchten in ihren Augen den vormals matten Blick – und das bewirkt, dass sich Glinskys Inspiration augenblicklich verflüchtigt. Der irre Maler bringt sie nach einer Darbietung des sterbenden Schwans um; damit ist für ihn alles wieder im Lot und er kann sein Werk vollenden. Der Tod und der Verlust triumphieren als Lebensquell der Kunst über das Leben.

Dieser filmischen Meditation über Kunst, Tod und Leben liegt eine Novelle der zeitgenössischen Autorin Zoia Barantevich zugrunde, die auch am Drehbuch mitgearbeitet hat. Der Film interpretiert die morbide Besessenheit der damaligen Künstler deutlich als ungesunden Irrsinn, nicht nur, indem er dem Maler die Verhaftung in der Realität abspricht, sondern auch, indem er drastisch zeigt, wie die Todesbesessenheit das Glück (der Tänzerin und ihres Geliebten) jäh zerstört.
Es ist dabei interessant, zu verfolgen, wie Bauer in diesem Film Räume als Ab-Bilder für das Geschehen und die innere Welt seiner Figuren einsetzt und somit eine eigene Bildsprache kreiert – zu einer Zeit, wo die meisten anderen Filmregisseure ihre Geschichten noch als starre Tableaus aus der Totalen abfilmten. Die erste Hälfte des Films wird praktisch ausschliesslich mittels lichtdurchfluteten Aussenaufnahmen erzählt. Die glücklich Liebenden bewegen sich durch idyllische Flusslandschaften und duftige Gärten. Sobald das Glück weicht, wird das Geschehen von Innenräumen beherrscht, die immer dunkler, enger und düsterer werden, je deutlicher und drängender die Todesthematik ins Zentrum rückt.

Im Vergleich zu Posle smerti macht Bauer weniger häufigen, dafür absolut präzisen und effektiven Gebrauch seiner neu entwickelten cinéastischen Stilmittel wie Nahaufnahmen, fahrende Kamera, Lichtregie und Schnittechnik. In einer gänsehauterzeugenden Traumsequenz kommt zudem eine Mehrfachüberblendung zum Einsatz.
Es gibt Szenen, die vergisst man trotz des hohen Alters dieses Filmes nicht mehr so schnell, u.a. jene eben erwähnte Traumsequenz, in welcher der Tod sich ankündigt, oder noch mehr in der dieser Sequenz vorangehenden Gewitterszene, in welcher ein Gewitter mittel Lichteffekten und der fahrenden Kamera derart effektiv nachgeahmt wird, wie ich es in keinem anderen Stummfilm bislang so überzeugend gesehen habe – und das obwohl man die ganze Zeit über nur die schlafende Gizella in ihrem Zimmer sieht, das von kunstvollen Lichteffekten verschiedentlich erhellt wird.

Umirayushchii lebed wurde einer der letzten Filme dieses talentierten und erfindungsreichen Regisseurs. Nicht auszudenken, was er für die noch junge Filmkunst noch alles hätte leisten können. Kurz vor dem Ausbruch der Oktoberrevolution verstarb er an einer Lungentzündung; nur wenig mehr als zwanzig Filme entstanden unter seiner Regie, erhalten geblieben sind davon die wenigsten.
Der gelernte Maler Bauer gelangte übers Theater zum Film, wahrscheinlich dank seiner kunstvollen Bühnenbilder. Dort entwarf er zunächst die Sets für einen Film für die Produzenten Drankov und Taldykin über die Romanov-Dynastie, bevor er mit 48 Jahren 1913 für dieselben Produzenten sein erstes eigenes Werk drehen konnte. Im selben Jahr wurde Bauer vom einflussreichen russischen Filmproduzenten Aleksandr Khanzhonkov angeheuert und entwickelte sich mit einigen Sozialdramen zum führenden Filmregisseur Russlands. Sein Stil und seine Innovationen waren seiner Zeit weit voraus und übten grossen Einfluss auf kommende Generationen von Filmregisseuren aus, die ihre Kunst in den Dienst der Revolution stellten/stellen mussten.
Da die Filme der vorrevolutionären Zeit von den Kommunisten „weggesperrt“ (d.h,. in die Archive versenkt) wurden, fielen Bauers Werke der Vergessenheit anheim, während jene seiner Nachfolger und Schüler noch heute zumindest den Filmspezialisten wohl bekannt sind.
8/10

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Die DVD: Der hier besprochene Film wurde sehr schön restauriert und viragiert; die Bildqualität ist sehr gut. Streckenweise machen sich Laufstreifen und Zersetzungserscheinungen bemerkbar.
Die Filmmusik
wurde von Jonathan Carney (Violine), Philip Shepard (Cello) und Joby Talbot (Piano) eingespielt, mit einer Komposition von Joby Talbot.
Regionalcode
2
Extras:
Videoessay des russischen Filmhistorikers Yuri Tsivian mit kommentierten Ausschnitten aus den drei auf der DVD enthaltenen Filmen; Lebenslauf von Jewgeni Bauer (nur Text)
Verfügbarkeit:
Europa: Umirayushchi lebed ist auf der DVD Mad Love – Three Films by Evengii Bauer enthalten.  Sie wurde vom British Film Institute (bfi) herausgegeben und ist bei amazon.co.uk zu beziehen.


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