jetzt erst recht – oben bleiben!

über eine nüchterne facebook-meldung bin ich darauf aufmerksam geworden, dass am nordflügel des stuttgarter hauptbahnhofs der abrissbagger wütet. ich konnte es kaum fassen: per livestream sah ich, wie die mauer eingerissen wurde und sich immer mehr menschen versammelten. „das darf nicht wahr sein“ dachte ich müde, mir war zum heulen zumute und mir war egal, ob das manche rührselig, naiv oder ewig gestrig nennen – ich habe mich nicht beherrscht und auch wenn ichs bislang trotz vorsatz zu keiner einzigen demo oder menschenkette geschafft habe, fuhr ich um fünf rum spontan mit der u7 los, um wenigstens den paar leuten den rücken mit zu stärken, die dem bagger genau so fassungslos vor ort zuschauten. denn am stuttgarter bahnhof geht es denk ich um viel mehr als ein paar alte steine – es geht um viel zitierte bürgernähe, direkte demokratie, es geht um wertvolle mineralquellen, um bau-sicherheit, um einen wunderschönen stadtpark und um eine hinverbrannte kosten-nutzen-rechnung, kurz: es geht um den respekt vor bürger und natur, die immer mehr durch größenwahn bedroht ist. wie sagte mir die tage die sprichwörtliche frau von der straße: „in leipzig haben sie ihren kopf-bahnhof und die gebäude drumrum wunderschön renoviert und da hält jeder zug. warum also muss ausgerechnet in stuttgart alles immer super modern sein? das ist doch unser bahnhof der gehört doch zur stadt.“

als ich über die königstraße näher kam – ich wusste ja nicht, ob die bahnen noch bis hauptbahnhof fahren aber die reißen halt echt bei vollbetrieb ab – sag ich gerade noch, wie paar leutle über ein gerüst nahe des turms aufs bahnhofs-dach kletterten und dort verschwanden. ich ließ mich einfach vom trommel- und pfeifenlärm leiten und kurze zeit später sowie eine hausecke weiter sah ich die kletterer wieder: unter tosendem beifall entrollten sie an der nordseite des bahnhofs ein gelbes transparent: „brandstifter schuster raus aus dem rathaus.“ jetzt erst recht – oben bleiben! jetzt wäre der ob alleine ja fast ein bauernopfer, verdient hat er die schande aber voll und ganz – wie ein redner bemerkte, schafft es stuttgarts erster bürger zu jeder kehrwochen-veranstaltung, um sich seinen eigenen mitbürgern und der öffentlichen diskussion zu stellen, fehlt im allerdings bislang der allerwerteste in der hose. was von solchen machthabern zu halten ist, kann sich wirklich jeder selbst beantworten. immer mehr leute strömten zum bahnhof, rechts neben mir interviewte rtl, links trötete mich einer taub, aber ich spürte: hier zählt heute jeder einzelne. wirklich fast provokant schlug der bagger eine tiefe wunde in die wand, dann war schluss. fast so, als ob man die gegner absichtlich auf den plan rufen und vorführen will. die organisatoren der k21-bewegung – parkschuetzer und das bündnis – improvisierten in diesen minuten auch gleich eine bühne und die ersten redner gaben den gefühlen ausdruck, die vermutlich alle anwesenden spürten: ohnmacht, fassungslosigkeit, wut und trauer. aber es gab auch ein gutes gefühl: der sowieso geplante demomarsch wurde verschoben, weil bekannt wurde, dass von weinstadt noch ein großer demozug erwartet wird und die autobahnen um etwa 18 uhr verstopft waren, weil von überall her demonstranten nach stuttart unterwegs sind. auch mit walter sittler wurde gerechnet. da ich bei solchen veranstaltungen nicht all zu lange durchhalte, trat ich den heimweg an, als immer mehr leute anrückten und auch der alte bahnhofsvorsteher wurde mit beifall begrüßt. jetzt erst recht lautet auf jeden fall das motto, denn egal wie lange die pläne schon bekannt sind und jetzt angeblich juristisch nichts mehr zu ändern ist: mit gutem willen lässt sich auch s21 stoppen und wenn man solche entscheidungen allein paragrafen überlässt, können wir meiner meinung nach eh einpacken – jetzt geht es um ein denkmal, irgendwann später geht es um uns! deshalb zählt jeder einzelne bekennende k21-sympathisant mehr denn je! viele viele sind bereit, den widerstand über jahre aufrecht zu erhalten und selbst wenn das projekt nicht mehr zu stoppen sein sollte, schadet es nicht, für seine meinung einzustehen und nicht alles einfach hinzunehmen. denn solche s21-dinger, die werden wir in zukunft noch massenhaft bekommen, wenn sich der trend fortsetzt, dass sich der gesunde menschenverstand aus entscheider-büros mehr oder weniger plötzlich vollends verabschieden sollte.

jetzt erst recht – oben bleiben!

und die neueste pressemitteilung der parkschützer:

Presseerklärung vom 25. August 2010
Aktivisten schützen verwundeten Stuttgarter Bahnhof
Zerstörer Mappus, treten Sie zurück!

Stuttgart, 25. August 2010: Die begonnene Zerstörung am Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs ruft tausende wütender Bürger auf den Plan, 12.000 alleine direkt vor dem Nordflügel. Mit lautstarken Protesten blockieren sie, wo es nur geht. Gegen 18 Uhr gelangte eine Gruppe von siebe Aktivisten auf das Dach des verwundeten Gebäudeteils. Sie fordern den Rücktritt der S21-Politiker, namentlich Ministerpräsident Stefan Mappus und Oberbürgermeister Wolfgang Schuster. Sie sitzen jetzt schützend auf der Abrisskante, um weitere Zerstörungen zu verhindern.

Die Besetzer fordern einen Abrissstopp und den Stopp von Stuttgart 21. Sie kommen freiwillig herunter, wenn der projektverantwortliche Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer bis spätestens Freitag den Baustopp für Stuttgart 21 verkündet.

„Herr Mappus, Ihre Fassade ist gefallen! Hier zeigt sich, mit welcher Brutalität Sie Ihre persönlichen Interessen durchzupeitschen bereit sind, ohne Rücksicht auch gegen das ‘eigene’ Volk“, sagt Matthias von Herrmann, Pressesprecher der Parkschützer. „Wer seine Macht derart missbraucht, so auf Kosten und zu Ungunsten des Staates und der Gesellschaft wirtschaftet, hat keinerlei demokratische Legitimation mehr!“

Soeben begrüßte Egon Hopfensitz, ehemaliger Bahnofsvorsteher die Demonstranten: Über die politischen Entscheidungsträger in Baden-Württemberg sagt er: „Wer die Macht hat, hat Zugriff auf die Steuergelder und davon wird gerade massiv Gebrauch gemacht.“ Er wirft allen Verantwortlichen und Planern Lügen und Betrug vor.

Die Zerstörungsarbeiten begannen heute gegen 13:30 Uhr am hintersten Teil des Nordflügels. Entgegen allen bisherigen Beteuerungen, wurde die Außenfassade aus wertvollem Muschelkalk mitsamt dem dahinterliegenden Gebäudeteil ohne Rücksicht auf Verluste nieder gerissen. Insbesondere wurden dadurch auch die Fassadenbausteine zerstört.



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