Jenseits der neoliberalen Ideologie

Von Jürgen Voß
Warum Neoliberale die Krise nicht erklären können
In einem Essay der Süddeutschen formuliert Catherine Hoffman am letzten Mittwoch den entscheidenden Nachteil des Euros: „Das Grundübel des gemeinsamen Währungsraums ist nicht gelöst: Die deutsche Konjunktur kann boomen, während Spanien in die Rezession rutscht. Doch die Euro-Mitglieder haben keine Möglichkeit, darauf mit einer geeigneten Geld- und Währungspolitik zu reagieren. Ihnen bleibt nur die Fiskalpolitik als Mittel oder die Anpassung von Preisen und Löhnen. Das stellt nicht nur die nationalen Regierungen auf eine Zerreißprobe sondern die Währungsunion als Ganzes“.
Ein kluger Satz, der die Probleme auf den Punkt bringt. Leider 10 Jahre zu spät. Hat nicht die gleiche Zeitung – wie ein Blick ins Archiv sehr schnell zeigen würde - die nicht wenigen Kritiker der Währungsunion zu Beginn des Jahrtausends wie dumme Außenseiter vorgeführt, sie als uninformierte „antieuropäische“ Kritikaster fortlaufend diffamiert und ihre Bedenken als hanebüchenen Blödsinn pauschal beiseite geschoben?
Während Hoffmann noch so mutig ist, konkret zu formulieren, ist die Ratlosigkeit des neoliberalen Lagers angesichts des offenkundigen Scheiterns ihrer seit zwei Jahrzehnten (vergeblich) in die Hirne der Menschen getrommelten Ideologie von der Überlegenheit der Märkte, die quasi naturgesetzlich immer zum Gleichgewicht streben, offenkundig. Anstatt sich aber wie Schirrmacher in der FAZ selbst in Frage zu stellen, werden die Proteste einer ganzen Generation, die arbeitslos vor der Tür steht, als „Protest ohne Adressat“ beschrieben, (Thomas Steinfeld in der SZ am letzten Augustwochenende: „Wer gibt uns einem Feind mit Gesicht?“) , als wüssten diese jungen Menschen nicht, dass hier eine an sich lächerlich primitive Ideologie zusammenbricht und wer die Politiker sind, die diese seit über 20 Jahren als „alternativlos“ anpreisen. In der gleichen Ausgabe spricht Holger Gertz angesichts des Börsendebakels der letzten Wochen von einem „diffusen Phänomen“, der „Angst 2.0“, die angeblich niemand versteht.
Warum tun sich diese sonst so beredten Welterklärer so schwer mit der Analyse der Ursachen dieser erneuten weltumspannenden Krise?
An sich wäre die Sache einfach:Schon die bloße Existenz massenhafter Proteste junger, gut ausgebildeter Menschen zertrümmert eine der tragenden ideologischen Lügen der letzten Jahrzehnte, die Demografielüge („Zu wenig junge Menschen!“) ebenso wie die der neuesten Zeit („Fachkräftemangel“). Nur wer ein Verständnis vom deutschen Arbeitsmarkt wie die Einwohner von Pitcairn hat, kann angesichts Millionen arbeitsloser junger Menschen in der EU von drohendem Arbeitskräftemangel oder gar Fachkräftemangel reden.
Ähnlich hat die Finanzkrise die zweite große ideologische Erzählung unserer Zeit zerstört, die „Globalisierungslüge“, nach der die Nationalstaaten mit ihrer Politik gar nichts mehr „ausrichten könnten gegen den gewaltigen Druck globaler Märkte“. Seltsam nur, dass ausgerechnet die Banken, deren Vertreter in all diesen obskuren neoliberalen Propagandarunden des öffentlich-rechtlichen Fernsehens solchen Unsinn immer wieder von sich gegeben hatten, als es ihnen schlecht ging, genau die nationalstaatlichen Hilfen angefordert (und bekommen) haben, die doch angeblich gar nicht mehr effektiv sein konnten.
Die dritte große Lüge - sie ist gerade jetzt virulent – die Verschuldungslüge, als wesentliche Ursache der Finanzmarktspekulation, wird zur Zeit noch sorgfältig von der neoliberalen Mainstreampresse gepflegt, als würden die internationalen Finanzakteure und die Bedrohungen durch sie schlagartig verschwinden, falls es den Staaten gelänge, mal mit ihrem Geld auszukommen und die Schulden zurück zu zahlen .
In Wirklichkeit ist die gegenwärtige Krise nicht das Resultat der Globalisierung oder des demografischen Wandels oder des hohen Verschuldungsgrades einzelner Länder sondern das Ergebnis vorsätzlich herbeigeführter politischer Entscheidungen. „Nationale Regierungen haben die Kapitalmärkte liberalisiert, die Kapitalverkehrskontrollen aufgehoben, Fusionen und Übernahmen von Unternehmen wohlwollend erlaubt, … Steuergeschenke gewährt, hochspekulative Fonds zugelassen, die Kosten von Produktionsverlagerungen anrechnungsfähig gemacht und die Veräußerungen von Beteiligungen für steuerfrei erklärt“ (Friedhelm Hengsbach, 2007). All diese Maßnahmen wurden in der neoliberalen Presse begrüßt, wohlwollend erklärt und begleitet und nicht selten als seit langem überfällig bejubelt. Hierbei hat sich gerade die Süddeutsche Zeitung am meisten aus dem Fenster gelegt.
Mit anderen Worten: Die Politik (und die Medien) haben das Monstrum „Finanzmarkt“ erst geschaffen und beklagen nun die verheerenden Auswirkungen seines zerstörerischen Wirkens im Sinne eines nicht erwartbaren Naturereignisses – die Lüge gebiert die neue Lüge.
Einer Aufarbeitung dieser jeder kritischen Analyse offen stehenden Vergangenheit wird nun – psychologisch durchaus verständlich - bewusst aus dem Wege gegangen. Denn heraus käme – intellektuelle Redlichkeit vorausgesetzt – notgedrungen das Eingeständnis, all dies ideologisch, propagandistisch mitgetragen und somit mit verursacht und sich selbst damit in hohem Maße „schuldig“ gemacht zu haben.
Dies ist der Hintergrund, warum das neoliberale Lager – unangefochten und mächtig im Mainstream unserer Medien wie eh und je - nun versucht, das von ihm selbst geschaffene Dilemma bestenfalls „ratlos“ philosophisch zu interpretieren, damit nur niemand auf die Idee kommt, dass der weise Interpret des Schlamassel in Wirklichkeit sein Urheber ist.

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