Man stelle sich vor: ein bislang unveröffentlichter Autor reicht unaufgefordert sein Manuskript beim renommiertesten Verlag in Frankreich ein. Es wird gedruckt, erregt Aufsehen und der Autor wird im gleichen Jahr mit dem Prix Goncourt bedacht. Klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Und dennoch ist 2011 genau dieses moderne Märchen Alexis Jenni widerfahren. Vollkommen zurecht wie ich finde.
Klappentext
Als 1991 der erste Golfkrieg ausbricht, ist er für den jungen Erzähler von Alexis Jennis beeindruckendem Roman nicht viel mehr als ein paar harmlose Bilder im Fernsehen – ein Geschehen, weit weg, das sein Dasein nicht berührt. Er lässt sich treiben wie immer, als ginge ihn das alles nichts an. Bis er eines Tages in einem Bistro Victor Salagnon kennenlernt, einen Greis, der als junger Mann in der Résistance gegen die Deutschen kämpfte und später in Indochina und Algerien in Frankreichs schmutzigen Kolonialkriegen diente. Salagnon ist ein begnadeter Tuschezeichner, aber er kennt auch das wahre Gesicht des Krieges: Er hat noch die Kunst des Tötens gelernt und ausgeübt. Je länger der Erzähler dieser Geschichte lauscht, desto mehr begreift er, dass Salagnons Vergangenheit direkt in unsere Gegenwart zielt.
Der erste Satz
Die ersten Wochen des Jahres 1991 waren durch die Vorbereitungen auf den Golfkrieg und meine ständig zunehmende Unverantwortlichkeit gekennzeichnet.
Jennis Erzähler teilt die gleichen TV-Erinnerungen an den ersten Golfkrieg wie die meisten von uns – an die endlosen Kolonnen aufmarschierender Soldaten, die auf den Startschuss warten, die Nachtsichtaufnahmen vom Bombenhagel auf Bagdad oder die allabendlichen Pressekonferenzen mit Filmaufnahmen vermeintlicher Präzisionstreffer. Und wie die meisten von uns macht er es sich auf seiner Couch bequem und verfolgt das Geschehen interessiert, aber ansonsten teilnahmslos. Krieg findet für ihn in der Komfortzone des TV statt. Die dabei an den Tag gelegte Passivität weitet sich bei ihm allerdings mehr und mehr aus und wird bald zu seiner hervorstechendsten Charaktereigenschaft. Gelegenheitsjobs werden ebenso wie Frauen zu anstrengend und abgelegt.
Mit dieser Haltung der kompletten Verweigerung gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen begegnet er Salagnon. Dieser scheint das genaue Gegenteil zu sein und strotzt vor Lebens- und Kriegserfahrung. Als Jugendlicher hat er begeistert für die Résistance gegen die Deutschen gekämpft; danach mangels Alternativen – und deutlich weniger begeistert – im Indochinakrieg, den die Franzosen vom ersten Tag an bereits verloren hatten. Das hat ihn geprägt und machte ihn unwiderruflich zum Soldaten, so dass der Einsatz als Fallschirmjäger im vielleicht schmutzigsten Kolonialkrieg in Algerien nahezu zwangsläufig wurde. Neben dem Tötungshandwerk verstand Salagnon auch immer schon die Kunst der Tuschzeichnung. Wo andere am Sehen und Erlebten zerbrachen, nutzte er die Eindrücke, um sie künstlerisch zu verarbeiten. Und so finden sich in seiner Person Kaltblütigkeit und Empfindsamkeit nahtlos nebeneinander, die nicht nur den Erzähler, sondern auch mich faszinierten.
Die Gegensätzlichkeit der Personen findet sich in der Buchstruktur wieder. Abwechselnd treibt Jenni in den Romankapiteln die Geschichte Salagnons voran und nimmt in den dazwischen geschalteten Kommentaren das Tempo wieder heraus. Beide sind von der Anzahl der Seiten nahezu gleich gewichtet, unterscheiden sich jedoch prägnant voneinander. Die Soldatwerdung Salagnons präsentiert sich als klassischer Bildungsroman. In einer direkten und wenig verschleiernden Sprache wird die zunehmende Verrohung brachial geschildert, der zunehmend anfangs noch bestehende moralische Bedenken zum Opfer fallen. Bei den in der Gegenwart angelegten Kommentaren sind Handlungsabschnitte hingegen rar gesät. Statt dessen dominieren Monologe über den Begriff der Rasse oder Ausführungen über den Besitzanspruch an der französischen Sprache. Diese sind ohne jeden Zweifel brillant argumentiert und ein besonderes Lesevergnügen; jedoch eines, nach dem mir nicht immer der Sinn stand.
Jenni will aber auch nicht einfach nur unterhalten, sondern eine Diagnose der heutigen Rassenproblematik in Frankreich wagen, die er als direkte Konsequenz der Kolonialkriege ansieht. Angesichts einer überwältigenden Unterzahl gegenüber den „Feinden“ war übertriebene Härte die einzige Reaktion der Besetzungsmacht. Diese Haltung wurde so sehr in die französische Identität eingebrannt, dass nach wie vor ein Gefühl der Unterzahl im eigenen Land vorherrsche und die Anwendung damals verinnerlichter Reaktionsmuster. Trotz dieses intellektuellen und fast schon dogmatischen Ansatzes bleibt „Die französische Kunst des Krieges“ dennoch vor allem ein Roman. Sicherlich kein besonders zugänglicher und leicht zu lesender Roman, aber es muss ja auch nicht immer leicht sein.
Was bleibt?
Wer die inneren Konflikte Frankreichs belletristisch verstehen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Doch auch abseits aller historischer und gesellschaftspolitischer Erkenntnisse kann Jennis Debüt überzeugen. Mit der Person des Salagnon hat er einen Charakter erschaffen, der einen in seinem übergangslosen Wechsel zwischen Künstler und Folterer nicht kalt lässt. Diese Gleichzeitigkeit kann man beim Lesen zwar nicht begreifen, aber dank Jennis ungeheurer Sprachgewalt erleben. Dass dieser Autor vorher nicht veröffentlich wurde, ist nahezu unglaublich. Umso schöner ist seine jetzige Entdeckung und Würdigung.
Jenni, Alexis: Die französische Kunst des Krieges (Original: L’art française de la guerre). Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Erstmals erschienen 2011.
Taschenbuchausgabe: btb. 768 Seiten. ISBN 978-3-442-74770-2. € 14,99.
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Interview mit Alexis Jenni auf faz.net