Anfang des Jahres hatte ich ja bereits The Nobody von Jeff Lemire sehr begeistert besprochen (Rezension hier). Nun liegt endlich auch der erste deutsche Titel dieses jungen Ausnahmetalents vor. Der Wuppertaler Indieverlag Edition 52 kann sich damit schmücken, den kanadischen Autor einen breiteren Publikum vorzustellen.Überraschenderweise scheinen sich die großen Verlagshäuser in Deutschland für die tiefsinnigen, raffinierten kleinen Erzählungen (die zu Recht vielfach prämiert wurden) nicht wirklich zu interessieren, nun denn. Die deutschen Herausgeber von Essex County haben sich entschieden die Trilogie als drei getrennten Titel zu veröffentlichen, ein Vorgehens, welches ich durchaus verstehen kann. Seit Mitte Oktober liegt nun in den gutsortierten Buchhandlungen des Landes dieses grafische Kleinod aus, an welchem ich nur einen einzigen Punkt auszusetzen habe.Denn leider wurde hier für ein konstantes Computerlettering votiert, welches die erzählerische Eleganz der Geschichte ein wenig schmälert, diente doch im Original der variable, kratzige Strich auch auf der Textebene der Vermittlung von Emotionen.
Die erste Geschichte des Zyklus rund um die fiktive Region Essex County kreist um den zehnjährigen Jungen Lester, der nach dem Krebstod seiner Mutter als Waise von seinem Onkel aufgenommen wird. Lester ist unzufrieden. Er ist eingekeilt zwischen den ungeliebten täglichen Pflichten in der Landwirtschaft, dem bösartigen Spott der anderen Landkinder, die in diesem kostümtragenden Aussenseiter nur eine Schwuchtel sehen und dem schwierigen emotionalen Verhältnis zwischen ihm und seinem Onkel, diesen plötzlich ungewollten Ersatzvater. Daher flüchtet er sich in eine Alternativwelt, wird Eskaptist, Träumer, Spinner - kurz er bleibt ein Sonderling.
Er trägt Cape und Maske und ist folgerichtig natürlich auch ein großer Comicfan. Auf diesem Weg freundet er sich auch mit dem sonderbaren Tankstellenbesitzer Jimmy Lebeuf an, welcher in seiner Vergangenheit (bis zu seinem verheerenden Unfall) ein erfolgreicher Eishockeyspieler war. Inzwischen ist auch er durch die ihn umgebende Welt zu einem Sonderling gemacht worden, ein schwerfälliges, langsames Opfer des sanften Spotts und der offenen Verachtung.In Lemires Geschichten finden diese verwandten Geister stets zueinander und erwerfen sich gemeinsam eine andere Welt in der sie sicher sind vor Spott, Hohn und Zuschreibungen per Blick oder Wort. Jimmy und Lester verlieren sich in einer fiktionalen Welt, erzählen sich Tag um Tag kleine Geschichte, kommen sich näher und näher, werden Vertraute. Bis zum Tag, an dem sich alles ändert.
Diese kleine, leise, ereignisarme Erzählung wäre nicht so beeindruckend, würde sie Lemire gegen den Einbruch des Unerwarteten verwehren. Seine subtilen schwarz-weiss schraffierten Zeichnungen ergänzen den erzählerischen Stil, in dem der Einfluss des magische Realismus deutlich erkennbar ist nahezu perfekt. Dieses dichte narrative Gewebe überzeugt durch seine Stimmigkeit und seinen Doppelsinn, denn schlußendlich handelt diese Geschichte auch von einem Reifeprozess, von der Abnabelung von der trauten Welt der Kindheit und von so vielem mehr.
Lemires Geschichte sind Resonanzkörper für eine Vielzahl von Deutungen, offen für die verschiedensten Betrachtungen, eigensinnig und eigenständig und daher sehr zu empfehlen. Man mag nicht glauben, dass der Autor dieser Trilogie gerade mal die 30 überschritten hat, er erzählt bereits jetzt wie ein routinierter alter Meister und entwickelt einen grafischen Stil, der ihn weit von den aktuellen Schulen abhebt. Ich freue mich sehr darüber, dass der Verlag auch der zweite Titel der Trilogie noch in diesem Jahr veröffentlichen will (geplant für Dezember) und hoffe sehr, dass dieser stille, faszinierende Erzähler in Deutschland zahlreiche Anhänger finden wird. Für alle Neugierigen: Der erste Band der Essex County Trilogie kann hier erworben werden.