Fragt man in Österreich nach den berühmtesten Kinderbuchautorinnen, so gibt es zwei Namen, die sofort genannt werden. Astrid Lindgren und Christine Nöstlinger.
Letztere, eine Generation jünger als Lindgren, feierte am 13. Oktober – Kinder wie die Zeit vergeht – ihren 80. Geburtstag. Ein Grund, sie mit einem Stück hochleben zu lassen, das erst vor sechs Jahren veröffentlicht wurde. Ihre „Lumpenloretta“ hatte im Kasino am Schwarzenbergplatz, der Dependance des Burgtheaters, in ihrem Beisein Premiere.
Glatze, Zahn, Zecke, Locke und Loretta
Florian Appelius (Zecke), Simon Jensen (Glatze), Sarah Viktoria Frick (Loretta), Aaron Friesz (Zahn), Nélida Martinez (Locke) (c) Marcella Ruiz Cruz BurgtheaterEin Marienkäfer fliegt von Glatzes Finger geradewegs auf die große Leinwand hinter ihm und zerplatzt dort blutig, während sich die zarte Anfangsmusik in harte, rockige Klänge verwandelt. Glatze, das ist ein Junge, der in die Unterstufe des Gymnasiums geht, in einer Vorstadtsiedlung mit Einfamilienhäuschen wohnt und nach einem Läusebefall seine Haare abrasiert hat. Wachsen will er sie nicht mehr lassen, denn die Glatze ist seine Rebellion gegen seine pedante Mutter, bei der alles ihre Ordnung haben muss.
Schon der Beginn lässt ahnen, dass das Stück um die freche Nachbarin von Glatze, Loretta, alles andere als harmonisch verlaufen wird. Sie ist mit ihrer Familie frisch in die Siedlung zugezogen und wird sogleich von allen Erwachsenen schief beäugt. Die Unordnung in ihrem Vorgarten, die laute Rockmusik, ihre rotzfreche Art, sich zu nehmen, was sie braucht, alles stört die Mütter von Glatze und Locke, Glatzes Freundin mit dem schönen, blonden Lockenkopf.
Ein verwahrlostes Kind
Sarah Viktoria Frick (Loretta) (c) Marcella Ruiz Cruz BurgtheaterWährend Loretta im Garten Kunststücke übt, um später einmal in einem Zirkus arbeiten zu können und Glatze sich unsterblich in sie verliebt, übersehen die Erwachsenen das Elend, in dem das Kind aufwächst. Ihr Bruder muss von Lorettas Eltern als Säugling in eine Pflegefamilie weggegeben werden und ihr Vater, genannt Zopfers, weil er einen hüftlangen Zopf trägt, hat alle Hände voll zu tun, seine Familie mit dem Verkauf von Altwaren über Wasser zu halten. Die nur in Erzählungen präsente Mutter ist depressiv und lässt Loretta auf ihren Reisen mit ihrem Mann tagelang alleine. Dass da so etwas Ähnliches wie ein Pippi-Verschnitt anklingt, verwundert nicht. Aber leider ist die „Lumpenloretta“, von den noblen Damen der Nachbarschaft so genannt, weil sie nur getragenes Gewand ihr Eigen nennt, nicht mit übernatürlichen Kräften ausgestattet, hat kein Pferd und kein Äffchen und lernt im Selbststudium, weil ihre Eltern sie verwahrlosen lassen und in keine Schule schicken.
Nöstlingers Figuren sind wie aus dem Alltag geschnitten. Einem Alltag, der eben all-täglich ist und ohne fantastische Ausflüchte auskommen muss. Der Großvater von Locke erzählt fast – eine lustige Geschichte von seinem Katheter, die er bei seinem letzten Reha-Aufenthalt erlebte. Zecke und Zahn – die Freunde von Glatze und Locke – sind permanent mit dem Fahrrad unterwegs oder hängen in der Sommerhitze auf der Hollywoodschaukel bei Locke rum. Glatzes Vater erträgt stoisch den Kochstreik und die Launen seiner Frau und Lockes Mutter wird von ihrem „Ernsti“ betrogen.
Eine tolle, einfühlsame Regie
Nöstlinger hat die Geschichten rund um ihre Heldinnen und Helden nicht erfunden, es scheint so, als ob sie das, was in unser aller Leben so oder so ähnlich vorkommt, lediglich zu Papier gebracht hätte. Dass daraus ein höchst vergnügliches und spannendes Theaterstück wurde, hat sie Martina Gredler zu verdanken. Die Regisseurin verfolgte eine höchst einfühlsame und zugleich für Kinder, Jugendliche und Erwachsene nachvollziehbare Personenführung. Ähnlich wie bei „Pünktchen und Anton“, das in der vorigen Saison im Kasino Premiere hatte, kann man in die Wohnsituation von Glatze und Loretta Einsicht nehmen. (Bühne Jura Gröschl, Kostüme Moana Stemberger) Während in dem einen Haus alles proper und auf Hochglanz poliert ist, stapeln sich im anderen die Umzugskisten und der Müll. Während die einen mit einem silbernen Löffel im Mund auf die Welt kamen, reichte es bei Loretta eben nur für einen aus Blech, wie sich Lockes Opa ausdrückte. Er ist es, der dafür sorgt, dass Loretta durch das Einschreiten einer Sozialarbeiterin in eine Pflegefamilie kommt. Zu ihrem Glück, aber Glatzes großem Leid.
Sarah Viktoria Frick (Loretta) (c) Marcella Ruiz Cruz BurgtheaterGanz wunderbar, wie Gredler die ersten Liebesfunken der jungen Menschen in Zeitlupe gießt und mit einem Liebessong untermalen lässt. Einfach nur poetisch und witzig zugleich, wie Loretta nachts grüne Glühwürmchen fängt und in ihr T-Shirt steckt, bis sie unter ihrer Short wieder zum Vorschein kommen. Köstlich, wie Christine Nöstlinger selbst als Buschauffeurin in einem Video kurz auftaucht und verschmitzt ins Publikum lacht. Ein wunderbarer Regieeinfall folgt dem nächsten, ohne marktschreierisch oder aufgesetzt daherzukommen. Gredler erzählt mit viel Kreativität und wie aus einem Guss Nöstlingers Geschichte ohne Pathos aber mit jeder Menge Humor.
Wie und ob es Glatze schließlich gelingt, seinen Liebeskummer abzulegen, wird hier nicht verraten. Nur so viel: Jeder Liebeskummer hat ein Ablaufdatum und es kann nicht schaden, für den Zirkus zu üben. Wer weiß, wen man dort einmal treffen wird!
Schauspielerische Glanzleistungen
Ein wunderbares Stück Jugendliteratur aus Österreich von einer Autorin, die bereits mehreren Generationen mit ihren Geschichten vom Franz und Mini Freude bereitet hat. Verpackt in eine tolle Inszenierung mit ebenso tollen Schauspielern. Allen voran Sarah Viktoria Frick, die an der Burg auch in der Onkel Wanja-Inszenierung zu sehen ist. Ihre Lumpenloretta in der bunt gemusterten Wolford-Strumpfhose sprüht nur so vor Lebensfreude und Ausgelassenheit, lässt aber auch die Einsamkeit und Angst des alleine gelassenen Mädchens erahnen. Simon Jensen als Glatze darf gekonnt alle Höhen und Tiefen einer jungen, verliebten Seele aufzeigen. Nélida Martinez, noch im 3. Jahrgang des Max Reinhard Seminars, genießt ihre neue Freundin, bis ihr durch die Dauerokkupation von Loretta schließlich die Nerven durchgehen. Florian Appelius (im 4. Jahrgang der Musik und Kunst Privatuniversität Wien) und Aaron Friesz, der schon in verschiedenen Rollen im Burgtheater, aber auch im Volkstheater und auf anderen wichtigen Bühnen zu sehen war, düsen gekonnt mit ihren Fahrrädern über die Bühne und treiben das Geschehen mit ihren Erzählungen zügig voran.
Anklicken umStefan Wieland als Zopfers ist eine Idealbesetzung für einen unangepassten Gesellschaftsrebellen. Robert Reinagl als Glatze-Vater verputzt rasch noch vor Betreten seines eigenen Hauses seine unautorisiert gekauften Jausenbrote. Hans-Dieter Knebel werkelt als Opa unter der Spüle in Lorettas Haus und versteht als einziger, für das Kindswohl aktiv zu werden, während Petra Morzé als Glatze Mutter und Dunja Sowinetz als Locke Mutter alle Hände voll zu tun haben, um den Schein von funktionierenden Familien aufrecht zu erhalten.
Eine Empfehlung nicht nur für Nöstlinger-Liebhaberinnen und Liebhaber, sondern für alle, die ein intelligentes und gut gemachtes Jugend-Theaterstück sehen möchten.
Informationen und Termine auf der Homepage des Burgtheater.