Der Chefdirigent und künstlerische Leiter des OPS Marc Albrecht (c) M. Boeggreve
Interview mit Marc Albrecht, dem künstlerischen Leiter und Chefdirigenten des OPS
Herr Albrecht, Sie waren mit Ihrem Orchester, dem OPS (Orchestre philharmonique de Strasbourg) vor der Sommerpause auf einer Tournee unter anderen in Amsterdam. Amsterdam wird ab der Saison 2011/12 Ihre neue Wirkungsstätte sein. War es ein Wunsch von Ihnen, sich dort mit Ihrem jetzigen Orchester zu präsentieren?
Das OPS hat eine lange, traditionsreiche Geschichte in Verbindung mit Amsterdam und war schon viele Male eigentlich regelmäßig dort eingeladen. Es ist dieses Mal aber das erste Mal, dass wir an zwei aufeinander folgenden Tagen zwei Programme präsentierten.
Verstehen Sie diese Programme auch als Ihre eigene Visitenkarte, die Sie im Vorhinein in Amsterdam dem Publikum abgeben?
Natürlich haben wir die Programme bewusst terminiert, bis auf „Le sacre du Printemps“ von Strawinsky stammen sie auch alle aus dieser Saison in Straßburg. Sie stehen stellvertretend für die verschiedenen Pole des Orchesters selbst. Wir kamen mit einem französischen Anteil, auch der „Sacre“ hat ja einen starken französischen Einfluss, aber mit der 2. Symphonie von Brahms auch einem deutschen Part. „Iberia“ von Debussy beherbergt ein großes Reservoir an Farben und Raffinement und ich sehe auch die Scheherazade von Ravel als unbedingtes Muss im Reisegepäck des OPS auf Tournee. Es sind sozusagen „Kernstücke“ des Orchesters, mit denen es in den Niederlanden aufgetreten ist. Die 2. Symphonie von Brahms lag mir persönlich sehr am Herzen, wodurch auch das deutsche Repertoire aufgezeigt wurde, das vom Orchester immer traditionsgemäß gespielt wurde.
Im Programmheft der neuen Saison 2010/11 erwähnen Sie im Vorwort, dass sich das Programm wieder außerhalb von ausgetretenen Pfaden bewegen wird. Dies war auch eines Ihrer Hauptcharakteristika in der Saisonplanung der Vergangenheit in Straßburg. War es für Sie schwierig, diese „Sonderprogramme“ einzufordern, was ja immer auch ein Risiko gegenüber dem Publikum bedeutet?
Nein, überhaupt nicht. Von Beginn an hatte ich eine wunderbare Unterstützung hier. Man war immer positiv dem Neuen gegenüber aufgeschlossen. Gleich am Anfang waren wir in der Konzeption sehr wagemutig. Wir spielten schon in der ersten Saison relativ unbekannte Stücke, hatten auch keine weltbekannten Solistennamen auf dem Programm und trotzdem lief es gut. Das Publikum hat sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt und weiß heute, was angeboten wird, hat eine herausragende Qualität, auch wenn sich keine „Reißer“ im Programm finden. Es hat vollstes Vertrauen. Das OPS hat sich dadurch ein gutes „standing“ erarbeitet. Es geht dadurch bei vielen Stücken ganz frisch ans Werk und hat dadurch auch eine andere Energie. Ich halte es für notwendig, frische Luft ran zu lassen.
Sie werden sich am Ende der Saison 10/11 mit einem gewaltigen Werk vom Straßburger Publikum verabschieden, den Gurreliedern von Arnold Schönberg. Es gilt ja als eines der dichtest instrumentierten Werke überhaupt und arbeitet somit mit einem riesigen Klangapparat. Wie kam diese Entscheidung, die ja sicherlich ein bewusstes Statement ist, zustande?
Ja das stimmt vollkommen, dieser Schönberg ist ein ganz bewusstes Statement. Ich hatte sozusagen, wenn Sie so wollen, einen Wunsch für mein Abschiedskonzert frei und habe die Gurrelieder gewählt, weil mir die Belebung der Zweiten Wiener Schule am Herzen liegt und wichtig erscheint. Diese Idee stand auch am Anfang meiner Arbeit in Straßburg. Bis auf das Violinkonzert von Alban Berg ist vieles komplett in Vergessenheit geraten. Die Gurrelieder wurden zudem noch nie zuvor vom OPS aufgeführt, reihen sich also auch in diese Programmatik des weniger Bekannten hier vor Ort ein. Sie verlangen einen riesigen Apparat, der aber sanft atmet und schwebt, was das Unglaubliche daran ist. Natürlich entsteht dabei auch monströser Lärm, sozusagen eine richtige Entgrenzung der Musik. Aber die Feinheiten zu behalten und hörbar zu machen, das Zarte, gerade das ist es, was die Herausforderung daran bedeutet.
Sie arbeiten mit diesem Werk ja mit dem vollen Klang. Der volle Klang ist etwas, das Sie in Ihrer Programmatik auszeichnet. Ins Volle zu greifen, um bildlich zu sprechen, lieben Sie sehr!
Ja, das stimmt, wobei ja jedes Orchester schon seinen eigenen vollen Klang hat. Jeder Dirigent trägt seinen eigenen Klang in sich und jedes Werk zusätzlich. Die Kombination dieser unterschiedlichen Elemente macht schlussendlich den großen Reiz aus. Hier in Straßburg hat das OPS ja aufgrund mehrerer Faktoren einen ganz bestimmten Klang. Zum einen meine deutsche Direktion, die auf ein französisches Orchester einwirkt, das wiederum viel deutsch- österreichisches Programm spielt. Diese Kombination ist sicher einzigartig und erzeugt auch einen ganz besonderen Klang. Der Klang steht für mich immer auch gleichwertig mit der Struktur eines Werkes. Carlos Kleiber oder Claudio Abbado hätten ebenfalls nie eine Säule zugunsten der anderen aufgegeben. Wenn ich an die Gurrelieder denke, so tragen sie für mich stark den Wiener Klang der Spätromantik in sich. Sie sind nicht kühl und nicht allein über die Struktur des Werkes zu definieren. Heute arbeitet man gern mit einem von oben herab blickenden Sichtwinkel, was ich in diesem Falle nicht richtig finde. Das Durchsuchen der Struktur und das gleichzeitige Herausarbeiten der klanglichen Finessen in ihrer Fülle, sodass nicht alles nur laut und intensiv klingt, kostet natürlich Zeit. Und das wird immer schwieriger, weil heute alles auch viel schneller gehen muss. Es funktioniert aber mit diesem Orchester besonders gut, weil wir aufeinander eingespielt sind, weil wir aufeinander reagieren und ein gegenseitiges Verständnis besitzen. Es ist schon ein besonderes Arbeiten, das sich auf diese Vertrautheit begründet, denn darauf kann man aufbauen, was extrem wertvoll ist.
Wie hoch ist der Anteil an neuem Repertoire, das Sie pro Jahr dirigieren?
Der Anteil ist meiner Meinung nach hoch, denn ca. 1/3 der Werke, die ich pro Saison dirigiere, erarbeite ich mir neu. Ich glaube aber, dass sich das einmal ändern wird. Natürlich habe ich Prioritäten, gewisse Werke sind mir näher als andere und wenn ich es mir aussuchen kann, dann tue ich das auch. Sibelius oder Schostakowitsch zum Beispiel finde ich grandios, zähle sie aber nicht zu meinen Favoriten, genauso wie ich mich nicht als Experte für russische Musik halte. Ein kompositorisches Werk muss mich berühren, damit ich es wirklich gut machen kann. „Kunst kommt von Müssen“ und das ist zugleich auch der Motor, etwas zu machen und aufzuführen. Ein Werk, in dem ich das nicht finde, kann ich auch nicht erarbeiten, sodass es gut wird. Im Fall des OPS bin ich froh, dass die Gastdirigenten mit dem Orchester dies ausgleichen können, sodass auch das Orchester selbst nicht darben muss. Das hat hier immer sehr gut funktioniert. Ich bin nach wie vor sehr neugierig, Neues zu erarbeiten. In Kürze werde ich in Paris die „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“ von Schönberg dirigieren, die etwas Neues für mich ist. Mein Hauptaufgabenfeld ist die Zweite Wiener Schule, das Repertoire der großen französischen Impressionisten, darauf habe ich richtig Lust. Man kann auch nicht alles machen. Günter Wand, einer jener Dirigenten, den ich sehr verehrte, zog sich im Alter zurück und konzentrierte sich nur mehr auf immer dieselben 10, 12 Stücke. Das finde ich besonders bemerkenswert, die Fragen, die sich stellen intensiv an wenigen Stücken abzuarbeiten. Ich sehe das eigentlich auch für mich als Ziel. Jetzt arbeite ich noch in der Breite und das möchte ich sicherlich noch lange machen, aber im Alter kann ich mir das gut vorstellen. Was bleiben wird, ist sicher Bruckner und auch Beethoven, der Rest, das werde ich noch sehen.
Sie wurden ja auch durch einige Operninterpretationen bekannt. Was machen Sie lieber? Arbeiten Sie lieber in der Oper oder im Konzertsaal mit den symphonischen Werken?
Mein Herz schlägt für Opern und für Symphonien gleich. Das eine ist nicht ohne das andere für mich denkbar, das eine bezieht sich auf das andere, beeinflusst in der Arbeit auch das andere. In der Oper besteht ein viel größerer Bezug zur Szene und der intensive Austausch mit dem Regisseur ist mir dabei enorm wichtig. Allerdings ist das Risiko bei einer Oper auch wesentlich höher. Das Ideal zu erreichen, gelingt dort ungleich schwerer. Der Einsatz dafür ist enorm. Opern sind vom Arbeitsaufwand her Zeitfresser erster Rangordnung. Ich erinnere mich, als ich „St. Francois d´Assise“ von Messiaen erarbeitete, habe ich mich monatelang in jeder freien Minute in die Partitur vergraben, egal ob im Flugzeug oder zu Hause. Dann kommt dazu, dass die Stimmen der Sänger fragil und anfällig sind und es daher natürlich vorkommt, dass manches Mal nicht die Idealbesetzung zum Zug komm auf der Bühne steht. Die Oper ist so etwas wie ein großes Mannschaftsspiel und es fügt sich nur dann gut zusammen, wenn die Sängerinnen und Sänger das mittragen. Im Konzertsaal hingegen ist der Dirigent der Alleinherrscher. Wenn man nach einer Opernproduktion eine Symphonie dirigiert kommt einem das vor wie purer Luxus. Man hat alles selbst in der Hand und arbeitet auf das vorbestimmte Ergebnis hin.
Wie würden Sie sich selbst als Dirigent beschreiben?
Das kann ich selbst schwer sagen. Man sagt, ich hätte die Begabung, dichte Strukturen durchhörbar zu machen, egal ob das Henze, Strauß oder auch die Gurrelieder sind. Je genauer ich vorher, schon vor den Proben mit den Musikern, die Dinge „höre“ umso besser wird die Übertragung und damit auch das Ergebnis. Bei den Proben weiß ich dann ganz konkret, wie es klingen soll, da habe ich dann auch keine Objektivität mehr, da gibt es sozusagen auch kein Zurück mehr. Dann gibt es für mich nur mehr diese eine Version hier und keine andere. Ich muss dann auch mit einer gewissen Art von Egozentrik durch, egal ob es dem Publikum und den Musikern gefällt oder nicht, das ist völlig zweitrangig.
Wenn Sie Ihre Zeit in Straßburg kurz rekapitulieren lassen, woran werden Sie sich in 30 Jahren noch erinnern?
Auf alle Fälle an die Stadt an sich, die ja einen großen Charme ausstrahlt. Aber dann natürlich auch an für mich sehr wichtige künstlerische Ereignisse. An die Aufführung des „Sacre du Printemps“, die für mich etwas ganz Besonderes war. Dass wir sie jetzt auf der kommenden Tournee noch einmal spielen, finde ich wunderbar. Natürlich denke ich auch an die 3. Symphonie von Mahler und an die 7. von Bruckner, sowie an die konzertante Salomé ganz am Anfang. Eine Sonderrolle spielte auch der Fidelio, die einzige Oper, die ich in Straßburg an der Opéra national du Rhin dirigierte. Das war eine Ausnahmeveranstaltung, die ich selber sehr gemocht habe.
Finden Sie es schade, dass es heutzutage keine langen Bindungen an Orchester mit ihren Dirigenten mehr gibt, Bindungen, die über 10 Jahre und länger dauern?
Nein, eigentlich gar nicht. Alles hat 2 Seiten. Natürlich ist es schön, wenn man sich gut kennt und wenn man aufeinander eingespielt ist. Aber so ein gutes Kennen läuft sich nach einer gewissen Zeit auch tot und es tritt eine gewisse Art von Sättigung ein. Man hat dann alles erarbeitet, was einem am Herzen liegt und dann beginnen die Wiederholungen. Aber Wiederholungen bedeuten Routine, das ist aber der Todfeind, der Gefahr bringt. Nach 10 Jahren braucht ein Orchester wieder einen frischen Wind. Man hat das auch bei der lebenslangen Zusammenarbeit mit Karajan und den Berliner Philharmonikern beobachten können, die ja auch nicht gerade unproblematisch war. Eine solche Bindung ist zugleich auch eine schwere Belastung.
Das bedeutet, die Zusammenarbeit mit einem Orchester könnte man nicht mit einer Ehe vergleichen?
Ja und nein zugleich. Wenn man 10 Jahre verheiratet ist und sich tag- täglich sieht, dann kann es auch sein, dass man nach 10 Jahren eine Bestandsaufnahme machen muss und sich fragen muss: Bis hierher sind wir so und so gegangen, wo soll es in Zukunft hingehen? Bei einem Orchester jedoch ist so eine lange Bindung nicht notwendig, um ein Projekt zu einem guten Ende zu bringen. Das hat nichts mit der heutigen Globalisierung oder einem Jet-Set zu tun, dem man frönen möchte. Sondern es geht auch darum, künstlerische Projekte neu aufstellen und neu definieren zu können.
Was reizt Sie an Ihrer neuen Aufgabe in Amsterdam, in der Sie ja das Niederländische Philharmonische Orchester und das Kammerorcbester und die Niederländische Oper leiten werden?
Es bedeutet für mich eine große Herausforderung, da ja das Orchester mit beiden musikalischen Säulen ausgestattet ist. Die Arbeit im Graben wird jener im Konzertsaal zugute kommen und auch umgekehrt. Ich bin dazu verpflichtet, jeweils die Hälfte des Jahres anwesend zu sein, was eine große Intensität bedeutet. In Amsterdam arbeitet man an der Oper auf sehr hohem Niveau mit dem Staggione-Prinzip, so wie hier auch in Straßburg, anders als in Deutschland. Das ist sehr gut, weil man bei diesem Prinzip auch noch bei der 8. Vorstellung eine wunderbare Aufführung erleben kann, die unter Umständen noch besser ist als bei der Premiere. Dazu kommt noch, dass wir alle Konzerte im großen, schönen Saal des Concertgebouw spielen können, was natürlich ein richtiger Luxus ist.
Sie kennen viele Orchester auf der ganzen Welt und auch das Publikum. Können Sie darin auch Unterschiede erkennen?
Ja, es gibt große Unterschiede. Einerseits von den Sälen an sich her und andererseits aber auch vom Publikum. Ein Konzertsaal ist ein Instrument, das großen Einfluss auf den Klang hat. Hier in Straßburg haben wir es mit einer räumlichen Situation zu tun, in der das Publikum sehr weitläufig vom Orchester entfernt in diesen großen, gepolsterten Sesseln sitzt. Der Raum hat aber den Nachteil, dass der Schall sich schon nach wenigen Reihen minimiert. Da sollte in Zukunft vielleicht auch eine Modifikation stattfinden. In Paris hingegen sitzt einem das Publikum direkt auf den Fersen und die Ovationen sind schier nicht enden wollend. Im Concertgebouw wiederum haben wir es auch mit einem Raum zu tun, in dem das Publikum direkt spürbar ist, ja sogar das Atmen hörbar werden kann. Dort sind die Menschen aber anders, sie stehen auf, geben Standing ovations, kurz aber heftig. Egal aber wo man dirigiert, es ist immer ein besonderes Erlebnis, wenn man merkt, dass das Publikum ganz bei der Sache ist, das Konzert intensiv mitverfolgt. Ob es ungeduldig hustet oder aber dieses beredte Schweigen herrscht macht einen großen Unterschied.
Haben Sie Wünsche, die das OPS nach Ihrer Zeit begleiten soll?
Das Orchester liegt mir sehr am Herzen und es gibt einiges, was ich ihm für die Zukunft wünsche. Es wäre schön, wenn das neue Opernhaus gebaut würde, von dem man schon so lange spricht. Vieles ist in dem jetzigen alten Haus nicht machbar. Auch, dass das Orchester in zu kleinen und akustisch unzulänglichen Sälen proben muss, ist nicht gut und sollte geändert werden. Und es gibt verschiedene Bestrebungen, die nicht gut für den Klangkörper an sich sind. Man diskutiert zum Beispiel aus Einsparungsgründen die Anzahl der fixen Musiker zu kürzen und die großen Projekte mit Aushilfen zu spielen. Aber das funktioniert überhaupt nicht, denn diese Aushilfen haben ja nicht dasselbe Niveau. Wenn man das macht, leidet die Qualität hörbar, das merken nicht nur die Musiker, sondern das wird auch das Publikum bemerken. Solchen Bestrebungen muss man ganz entschieden von Anfang an entgegentreten, mit aller Kraft. Das OPS, eines der traditionsreichsten Orchester in Frankreich ist ein Leuchtturm für das ganze Elsass und es wäre wirklich schade, wenn man mit weniger Licht auskommen wollte.
Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.
Verfasser: Michaela Preiner
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