Jede Zumutung ist Arbeit

oder Aus der Gosse des Arbeitsmarktes.
Der Roman Faktotum könnte als Dokument der heutigen Arbeitswelt durchgehen. Könnte. Es gibt nur ein Problem. Er ist schon aus dem Jahr 1975 und beschreibt die Situation der arbeitenden Unterschicht im Amerika der Vierzigerjahre. Na ja, und er stammt zudem vom Dirty Old Man, der ja nicht jedermanns Geschmack ist.
Jede Zumutung ist ArbeitCharles Bukowkis Alter Ego Henry Chinaski hangelt sich von Job zu Job. Meist arbeitet er für einige lausige Mücken. Kündigungsfristen oder gar -schutz gibt es nicht. Dafür Blut, Schweiß und Tränen. Und Bosse, die ihre Belegschaft als Arbeitssklaven verbraten. Chinaski arbeitet in Lagern oder fährt Sachen durch die Gegend, tut das, was keiner machen will - und das ist fast alles. Alles was anstrengend ist, stinkt, entwürdigt oder gefährlich ist. Er ist ein Allestuer, ein Faktotum. Unterbezahlt und desillusioniert.

Dieser Arbeitswelt der US-amerikanischen Vierzigerjahre gleicht sich unsere Zeit und unser Arbeitsmarkt immer mehr an. Man fliegt und kommt schnell wieder unter. Man wird gehiret und gefiret. Einen Scheißjob findet man immer wieder, es wird im unteren Segment des Arbeitsmarktes nur selten im Vorleben bei anderen Arbeitgebern geforscht. Bosse sind froh, wenn sie jemanden finden, die den Mist erledigen, den sonst keiner machen will. Heute fährt man Pakete aus und schleppt sie in den achten Stock, morgen schon zieht man sich ein Lagerregal hoch, um nach irgendwelchen Kunststoffblenden zu sehen.
Der schöne neue Arbeitsmarkt, der in den Niedriglohnsektor expandiert, ist nicht nur eine Sackgasse, sondern eine Reminiszenz an einen Arbeitsmarkt, der schon vor Jahrzehnten direkt in der Gosse seine Zelte aufschlug. So wie für Chinaski, gibt es heute für viele Menschen keine Kontinuität, ständige Umstellung, unstete Arbeitszeiten und häufige Arbeitsplatzwechsel. Auch sie werden geheuert und gefeuert, ja nach Laune - Kündigungsschutz gibt es im Niedriglohnsektor zwar auf dem Papier, nicht aber als tatsächliche Sicherheit.
Bukowski beschreibt in Faktotum eine Schicht urbaner Gelegenheitsarbeiter und Tagelöhner, Kulis und Hilfsarbeiter, die auf Grundlage fast schon feudaler Strukturen im Groß- und Kleinstadtdschungel ausgebeutet werden. Seit einigen Jahren kristallisiert sich auch in Europa und Deutschland eine solche Schicht ungesicherter und sprunghafter Menschen heraus. Sie sind das Opfer eine Ökonomie, die diese Masse an zu kurz gehaltenem Proletariat benötigt, um die Nachfragen der Mittel- und Oberschicht zu bedienen - um deren Kinder zu hüten, Straßen zu reinigen oder um für sie Verkaufsregale schnellstmöglich wieder aufzufüllen.
Faktotum kommt aus dem Lateinischen, bedeutet wortwörtlich Tu alles! und meint dabei ein Mädchen für alles. Jede Arbeit ist zumutbar schreibt jenes Konzept der Unterschichtverwaltung vor, die vulgo Hartz IV genannt wird. Die Unterschicht soll dazu verdammt sein, sich als Faktotum zu verdingen. Als Mädchen für alles und somit als Mädchen für nichts. Für die, die man in die Gosse des Arbeitsmarktes stoßen will, ist nicht jede Arbeit zumutbar, sondern so gut wie jede Zumutung nennt sich dort Arbeit. Niemand sonst würde tun, was Chinaski und der Unterschicht zugemutet wird.
Ob Bukowksi wohl an Fuck totum!, Fickt euch doch alle! gedacht hat, als er seinen Roman taufte? Unter dieser Losung firmiert der Gemeinsinn in einer Schicht, die keine pekuniäre Sicherheit, keine Planbarkeit kennt und halb rechtlos gehalten wird. Wieviel mehr sollte man dort unten auch von einer solchen Gesellschaft halten?

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