Foto: Kung Shing - Überall sind Uhren. Die Zeit läuft und läuft - und wir hecheln immer nur hinterher.
Bald ist es wieder soweit, die Uhren werden umgestellt. Dann wird wieder über den Sinn und Unsinn der Zeitumstellung diskutiert. Ein guter Anlass findet SoSUE Redakteur Knuth, sich ein paar Gedanken, um die Zeit zu machen.
Die Schritte wurden schneller. Jemand wollte mich überholen. Es war ein Mann mit seinem Paket. Er drängelte sich beim Betreten der Postfiliale an mir vorbei. Nun stand er vor mir und wippte von einem Fuß auf den anderen. Es ging nur langsam voran. Die Warteschlange war lang.
„Jetzt steh ich schon seit 15 Minuten hier! Ich habe wirklich keine Zeit! Scheiß Post!“, grummelte er laut. „Wir warten aber erst nur drei Minuten“, widersprach ich. Ein ungläubiger Blick huschte über seine Schulter. „Zeit ist eben relativ“, scherzte ich. Keine Regung. Beim Warten kennen die Leute keinen Spaß. Ich vertrieb mir die Zeit mit einem meiner vielen Warteschlangen-Hobbys. Dazu gehört, dass ich die Wartezeit messe. Tatsächlich warte ich bei meiner Post im Schnitt 10 Minuten.
Endlich war der Mann an der Reihe. Er nahm sein Paket und schleppte es zum Schalter.
Ich fragte mich, warum dieser arme Kerl Warten als Zeitverschwendung empfindet. Er kämpft anscheinend um jede Minute. Vielleicht ist das auch nur eine deutsche Eigenart, dass wir die Zeit über alles stellen, dachte ich. Angeblich sollen wir in Deutschland die meisten öffentlichen Uhren weltweit haben. Außerdem erklären wir jedem Menschen auf der Welt, dass Pünktlichkeit, eine urdeutsche Tugend sei. Selbst die Indianer in den Winnetou-Western sind mit den Zeitangaben ganz genau. Ein wildes „bis Sonnenaufgang“ gibt es nicht, es heißt: „Wenn die Sonne morgen früh einen Handbreit über dem Horizont steht“. Die deutsche Filmrothaut hat auch in der Prärie ohne Uhrenzeiger die Zeit stets genau im Blick.
Ich glaube nicht, dass nur wir so ticken. Ich glaube, die ganze Welt tickt so.
Foto: Kung Shing - Unsere Religion: Stunde, Minute und Sekunde sind feste Größen geworden und wir tun fast alles dafür.
Wir haben Angst, dass die Zeit zu schnell vergeht, wir viel zu wenig davon haben oder dass wir sie nicht stoppen können. Wir leiden alle an Chronophobie. So nennt die Wissenschaft die Angst vor der Zeit. Die Uhr kennt kein Erbarmen. Der Zeiger rückt immer weiter vor. Da bekommt der Mensch schon mal schnell die Panik, weil er sich seiner eigenen Endlichkeit und Vergänglichkeit bewusst wird. Sie taucht immer dann auf, wenn zum Beispiel die ersten Falten zu sehen sind oder die Kinder volljährig werden. Neu ist nur, dass wir das Gefühl haben, dass uns die Stunde jetzt in jeder Sekunde schlägt.
Mit zunehmendem Einfluss der Technik sind Stunde, Minute und Sekunde nicht nur feste Größen geworden, um das Leben zu organisieren. Die Zeit als Maßeinheit hat unser Leben durchdrungen. Das Internet mit seiner Beschleunigung und Gleichzeitigkeit hat diesen Trend nur noch weiter verstärkt.
Wir verwenden viel Energie und auch Zeit darauf, um mehr Zeit für uns zu gewinnen: Wir schreiben To-do-Listen, entwickeln den Drang alles sofort zu erledigen, entwickeln uns zu Multitaskern, essen Fastfood oder shoppen Online. Ein Leben im Doppelklickmodus. Am Ende hocken wir überfordert auf dem Klo und beantworten E-Mails. Wir stellen dann wieder fest, dass alle unsere Anstrengungen nichts geholfen haben und machen weiter Überstunden. Sisyphos, der antike König von Korinth, hatte dagegen mehr Spaß im Leben, als er wieder und immer wieder seinen Felsen den Berg hochrollte.
Meine merkwürdigste Beobachtung ist aber, dass Menschen in ihrer „freien Zeit“ noch engagierter sind, um keine Zeit zu vergeuden. Wochenenden und Urlaube werden bis ins Detail akribisch geplant, damit die Zeit auch richtig ausgenutzt werden kann. Endlich mal Zeit für sich zu haben, hat dann die oberste Priorität. Natürlich sind die Nervenzusammenbrüche dann größer, wenn der Freizeitstundenplan nicht funktioniert. Nichts darf den eigenen Flow des Lebens aufhalten, schon gar nicht bei einem Kurztrip.
Mach mal Pause: Die Zeiten können wir nicht ändern, aber wir können unser Verhalten ändern.
Der Zeit ist unser Treiben recht egal. Sie ist da und sie ist unendlich, ob sie nun von Atomuhren gemessen wird oder nicht. Sicherlich hilft das mir nicht weiter, wenn sich mein Flieger verspätet oder ich eine Deadline einhalten muss, aber es sollte einen beruhigen. Außerdem können wir der Situation nicht entkommen. Wenn es um Zeit geht, sollten wir einfach gelassener werden. Manchmal reicht es aus, mal nichts zu machen, egal wie viel Minuten oder Stunden vergehen, die Nerven werden es einem danken. Aufschieben und faulenzen sind keine Sünde.
„Sie sind jetzt dran!“, ein Stimme unterbrach meine Gedanken. Ich war jetzt an der Reihe.
Der Schalterbeamte fragte mich, warum ich denn noch kein Onlinebanking mache, dann müsste ich nicht immer so lange anstehen und könnte meine Zeit doch sinnvoller verbringen, als hier wertvolle Minuten mit Warten zu verplempern.
Ich antwortete nur: „Dafür habe ich einfach zu wenig Zeit.“