„Jawohl, mein Vater!“

Die schwere Last der kindlichen Prägung

„Jawohl, mein Vater!“ „Jawohl, mein Vater!“ „Jawohl, mein Vater!“ „Jawohl, mein Vater!“„Jawohl, mein Vater!“„Jawohl, mein Vater!“
In einer kleinen Gruppe, wohl behütet von Laternenträgerinnen und -trägern begleitet, wandert das Schauspielhauspublikum nächtens von der Porzellangasse über die Liechtensteinstraße und Strudlhofstiege hin zum Arne-Carlsson-Park. Tim Breyvogel, der junge, deutsche Schauspieler, der an diesem Abend „Ulrich“ spielen wird, ist bemüht, den Spaziergängerinnen und Spaziergängern ein Wanderlied zu entlocken. „Kein schöner Land“ sollen sie singen und sich des alten Wanderbrauches wieder bewusst werden, bei dem man fröhliche Lieder angestimmt hätte, der aber leider schon ausgestorben sei. Und tatsächlich gibt es einige, die mit ihm die Melodie anstimmen, nicht wissend oder schon vergessen habend, dass es sich dabei um eines jener Lieder handelte, das sich gerade zur Zeit des Nationalsozialismus größter Beliebtheit erfreute. Wer musikhistorisch etwas bewandert ist weiß, dass dies eines jener Lieder war, das in der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts gedichtet und vertont worden war, dann wieder durch die Wandervogelbewegung in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts zu neuem Leben erweckt und schließlich in der Zeit des Nationalsozialismus mit hinterhältigem Heimatkolorit versehen wurde. „Tot sind unsre Lieder, unsre alten Lieder. Lehrer haben sie zerbissen, Kurzbehoste sie verklampft, braune Horden totgeschrien, Stiefel in den Dreck gestampft.“ – So brachte der deutsche Liedermacher Franz Josef Degenhardt seinen Unmut über die Vereinnahmung deutschen Liedgutes durch die Nationalsozialisten in literarischer Reimform zum Ausdruck. An diesem Abend, an dem es raschen Schrittes zu einem unbekannten Spielort geht, ist die Historie dieses Liedes wohl nur einigen wenigen präsent. Erste Zweifel an der Redlichkeit Ulrichs kommen aber prompt auf – schon beim Eingang in den ehemaligen Luftschutzkeller, der sich im Park befindet. Dort nämlich verteilt er ein kleines Pamphlet, in welchem deutlich wird, wer zu rechtschaffenen Menschen gehört und wer nicht. Und – was noch schlimmer anmutet – er verteidigt bei der Ausgabe der kleinen Zettelchen die Parolen jenes norwegischen Mörders, den sich die Autorin dieser Zeilen beharrlich weigert namentlich zu nennen, um seine Fama nicht noch weiter zu verbreiten. 77 Menschen hat dieser Mann auf dem Gewissen und wenngleich verurteilt und eingesperrt, feiern seine Gedanken fröhliche Urstände. Auch Ulrich scheint von seinem Gedankengut beseelt und scheut sich nicht, wie man noch sehen wird, dieses vehement verbal noch zu verteidigen.

Bis es aber so weit ist, wird man noch Zeuge einer Begegnung zwischen den Generationen, denen es nicht gelingt, direkt miteinander zu kommunizieren, die aber dennoch durch ein starkes, unsichtbares familiäres Band miteinander unsäglich verknüpft sind. Michael Gempart spielt in der 2. Folge „Die Welt der Sicherheit“ im Zyklus „Die Welt von Gestern“ nach Stefan Zweig des Schauspielhauses Wien „Erwin“, einen 100jährigen Mann, der sein Gedächtnis nur bis ins Jahr 1944 abrufen kann. An den Rollstuhl gefesselt, breitet er im kalten Luftschutzkellergang, in dem sich das Publikum an langen Bänken gegenübersitzt, seine Erinnerungen aus, die in die Kaiserzeit zurückreichen. Sein Vater, Hofzeremonienmeister, und seine Mutter hatten sich bei Kriegsende beide erhängt. Mit der langen, goldenen Vorhangkordel des Hofzeremonienmeisterdienstzimmers. Wissend, dass ihre Daseinsberechtigung nicht mehr gegeben war. „Ein kleiner Wicht“ sei er damals gewesen, erinnert sich der alte Erwin, „ein kleiner Wicht“ der fürderhin von seinem Onkel, einem Posamentierer – auch das ein Beruf, von dem es nur mehr einige wenige Ausübende im deutschsprachigen Raum mehr gibt – aufgezogen wurde. Das Monarchische aber, die Liebe zum Kaiser, blieb ihm zeitlebens in seine Blutbahn eingeschrieben und so wundert es nicht, dass er schließlich einer jener Aktiven war, die sich in der Burschenschaft „Carolina“ für die Wiedererrichtung der Monarchie engagierten.

Philipp Weiss, der in dieser Saison Hausautor am Schauspielhaus ist, schuf in Anlehnung an die wahre Begebenheit rund um die Vereinigung „ CV Ottonia“, die von Erwin Drahowzal von Allsperg, Oskar Kozurik und Karl Burian gegründet worden war, eine Figur namens Erwin Kutschera, der sich eine gefühlte Ewigkeit lang vor den Nazis in einem Keller versteckt halten musste, schließlich aber doch entdeckt und so misshandelt worden war, dass er seine Beine nicht mehr gebrauchen konnte. Rosa, seine Schwägerin, kümmerte sich um den jungen Mann, brachte ihm zu essen und verliebte sich unglücklicherweise in ihn. Das aus dieser Verbindung stammende Kind – ein Großelternteil von Ulrich – musste ohne Mutter aufwachsen. Sie war von ihrem Mann, einem „aufrechten Nazi“ nach der Geburt ihres Kindes erschlagen worden. Weiss lässt bereits in dieser frühen Geschichtsphase des 20. Jahrhunderts die beiden ungleichen Brüder aufeinanderprallen und den Samen der zukünftigen Auseinandersetzungen spontan sprießen. Gewalt pflanzt Gewalt – und so steht an letzter Stelle in der Familie jener Ulrich, der wiederum von seinem Vater zum Geburtstag eine Mauser erhält, zu Weihnachten einen Kampfanzug, um an den Übungen der Wehrsportgruppe teilnehmen zu können und ganz nebenbei die Gehirnwäsche mit rechter Gesinnung, für die er bereit ist, Gewalt anzuwenden, sogar gegen sein eigen Fleisch und Blut. Was sich im radikal gekürzten Überblick so schlüssig liest, eröffnet sich dem Publikum nur nach und nach. Die Sprache, die Weiss für sein Drama verwendet ist direkt, aber karg. Lesen, Hören und Kombinieren muss man zwischen den Zeilen. Die Idee, dass Rechtsextremismus sich über Generationen fortsetzt, also quasi mit der Muttermilch aufgesogen wird, klingt zwar stimmig, kann aber nicht 1:1 als Erklärungsmatritze für dieses heutige Phänomen herangezogen werden.

Der Abend lebt aber nicht nur von dieser sich langsam aufbauenden Spannung, sondern vor allem von der schauspielerischen Leistung von Michael Gempart. Bereits im ersten Teil der fünfteiligen Serie beeindruckte er mit der Darstellung eines Dementen, im Luftschutzkeller wird er nicht nur zum hilflosen Krüppel, der durch ein Trauma seine Erinnerung verloren hat, sondern ganz zum Schluss noch zum Helden. Trotz der grausamen Behandlung durch seinen Urenkel, der sich noch nach drei Generationen voller Wut über die Unbeugsamkeit seines Urgroßvaters gegenüber den Nationalsozialisten an ihm rächt, ist doch er es, der Milde walten lässt und dem jungen Menschen Hilfe angedeihen lassen möchte.

Anne Habermehl, die in dieser Produktion die Regie führte, hat ganze Arbeit geleistet. Es gibt wohl kaum schwieriger zu bespielende Orte als den Gang eines Luftschutzkellers – dennoch ist es ihr gelungen, die beiden Protagonisten sowohl sicht- als auch hörbar agieren zu lassen. Das subtile Drama, das durch die Familiengeschichte von Erwin und Ulrich ein ganzes Jahrhundert umspannt, macht besonders jene betroffen, die im Hier und Jetzt muslimische Familienmitglieder haben. Weiss ist nicht der erste und einzige, der die Zeichen der Zeit an der Wand benennt und seine jugendliche Hauptfigur im Hass gegen Moslems suhlen lässt. Bei aller Vergangenheitsbewältigung sollte ein Abend wie dieser dazu genutzt werden alles nur erdenklich Mögliche zu unternehmen, um dieser xenophoben und menschenverachtenden Gedankenwelt vehement entgegenzutreten – wo immer es einem persönlich auch nur möglich ist.

Links:

Schauspielhaus
Die Welt von Gestern – Teil 1


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