Javier de Lucas: «Die EU ist de facto im Kriegszustand gegen MigrantInnen»

Internationale Organisationen rechnen mit etwa 3’800 Flüchtlingen und MigrantInnen, die letztes Jahr beim Versuch, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren, umgekommen sind. Die Europäische Union ist an dieser Tragödie mitschuldig. Ist eine andere Migrations- und Asylpolitik möglich? Amador Fernández-Savater, spanischer Journalist, hat Javier de Lucas, Professor für Rechts- und politische Philosophie in Valencia, zum Gespräch über Migrations- und Flüchtlingspolitik, Widerstandsformen gegen staatliche Gewalt und die Veränderungen der globalen Landschaft nach den Attentaten von Paris getroffen. Übersetzung aus dem Spanischen: Walter B.

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Javier de Lucas

Javier de Lucas arbeitet seit 2004 im Institut für Menschenrechte der Universität von Valencia. Er ist Professor für Rechts- und politische Philosophie mit Schwerpunkt auf Fragestellungen im Zusammenhang mit Menschenrechten, Migrationspolitik, Multikulturalität und Demokratie.

Als er im Dezember 2015 an der Buchmesse von Guadalajara in Mexiko eingeladen war, sein neustes Buch El mediterráneo: el naufragio de Europa [Das Mittelmeer: Der Schiffbruch Europas] vorzustellen, gab Javier de Lucas an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko zudem ein Seminar über Migrationspolitik. Amarela Varela, Forscherin und Professorin, Aktivistin und meine gute Freundin, hatte ihn zum Seminar eingeladen.

Bei dieser Gelegenheit führten Amarala Varela, Javier de Lucas und ich das folgende Gespräch über Migrations- und Flüchtlingspolitik, Widerstandsformen gegen staatliche Gewalt und die Veränderungen der globalen Landschaft nach den Attentaten von Paris.

Flüchtlingskrise?

  1. Javier, was möchtest du, in kurze Worte gefasst, mit deinem Buch erreichen?

Javier de Lucas: Ja, ich erkläre das ganz kurz. Das wichtigste Ziel des Buches ist, aus der Sicht der Migrations- und Asylpolitik aufzuzeigen, dass die Europäische Union als politisches Projekt gescheitert ist, nämlich als Projekt eines gemeinsamen Raumes von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit auf der Grundlage der Menschenrechte. Tatsächlich erleben wir im Gegensatz dazu besonders in den letzten zehn Jahren eine Renationalisierung der Migrationspolitik. Der Vorwand lautet, die Migration betreffe die Souveränität der Einzelstaaten. Gewiss! Aber es ist davon auszugehen, dass die EU ein politisches Projekt war, das gerade diese je eigene Handlungslogik der Nationalstaaten überwinden wollte.

  1. In jüngster Vergangenheit spricht man von einer «Flüchtlingskrise» und einer noch nie dagewesenen humanitären Herausforderung für Europa.

Javier de Lucas: Ich bin mir sicher, dass eine Flüchtlingskrise besteht, seit es Flüchtlinge gibt. Wenn wir zurzeit vermehrt darüber sprechen, so nicht, weil sie neu ist, sondern weil es nun ganz in unserer Nähe einen Faktor gibt, der Fluchtbewegungen auslöst: der unsägliche Bürgerkrieg in Syrien. Es gibt vier Millionen sechshunderttausend syrische Staatsangehörige, die das Land notgedrungen verlassen mussten.

Aber es trifft nicht zu, dass Europa bei der Aufnahme von Flüchtlingen an eine Kapazitätsgrenze gestossen ist. 85 Prozent der syrischen Flüchtlinge wurden von vier Ländern aufgenommen, die an das Konfliktgebiet angrenzen: Libanon, Jordanien, Irak und die Türkei, die allein zweieinhalb Millionen Menschen aufgenommen hat. In diesen Ländern herrscht tatsächlich eine Notsituation. Die EU hat nur angeboten, 160’000 Personen aufzunehmen.

Die institutionelle und mediale Botschaft, wir seien von einem Flüchtlingsstrom bedroht, der unsere Aufnahmekapazität überschreitet, ist eine demagogische Lüge und sehr gefährlich. Sie ist auch ethnozentrisch und kurzsichtig. Es geht nicht um eine Flüchtlingskrise, sondern um eine Krise des politischen Projektes der EU.

Permanenter Ausnahmezustand

  1. In welchem Sinne sprichst du im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise von einem «Scheitern» der EU?

Javier de Lucas: Wenn die EU mehr ist als bloss das Projekt eines Marktes, um gemeinsame Gewinne zu erzielen, wenn sie nicht minder ein politisches Projekt auf der Grundlage des Rechtsstaates darstellt, so muss laut und deutlich gesagt werden, dass als erstes in dieser Krise die Menschenrechte Schiffbruch erlitten haben, und zwar nicht nur die Menschenrechte «der anderen», sondern die Rechtskultur der Achtung der Menschenrechte und der institutionellen Architektur, die diese garantieren.

Anlässlich der Krise wurde das geschaffen, was einige Juristen den «permanenten Ausnahmezustand» des rechtlichen Status der Zuwanderer und Flüchtlinge nennen. Hierbei handelt es sich um ein Ausnahmeregime, das den Anforderungen eines Rechtsstaates in keiner Weise genügt. Denn die Gültigkeit der gemeinsamen Regeln wird damit aufgehoben und die Figur der «Rechtssubjekte zweiter Klasse» eingeführt, welche in einem administrativrechtlichen Labyrinth hängen bleiben. Das ist eine diskriminierende Ungleichbehandlung und strafrechtliche Stigmatisierung.

  1. Was für konkrete Auswirkungen hat dieser Ausnahmezustand auf die Flüchtlinge und MigrantInnen?

Javier de Lucas: Grundsätzliche Elemente des Rechtsstaates – das Prinzip der Unschuldsvermutung, das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz usw. – werden aufgehoben, aber nicht vorläufig, sondern als künftige Rechtspraxis, gültig für alle MigrantInnen und – als Gipfel der rechtlichen Perversion – auch für Flüchtlinge. Einerseits werden auf diese Art die Rechte missachtet, welche MigrantInnen haben, und zwar ebenso ihre Persönlichkeitsrechte wie ihre Rechte als MigrantInnen. Anderseits wird der besondere rechtliche Status der Flüchtlinge missachtet, der für alle Staaten verbindlich ist, welche Teil des internationalen Rechtssystems sind, das mit der Genfer Konvention (1951) und dem Protokoll von New York (1966) geschaffen wurde.

Welche Auswirkungen hat das? Zum Beispiel werden die ankommenden Flüchtlinge bezüglich ihrer Nationalität, Religion und Herkunft unterschieden. Bei den einen wird der Flüchtlingsstatus voll anerkannt, und bei den anderen wird um den rechtlichen Status gefeilscht, bis hin zur Rückschaffung, besser gesagt: bis hin zur Ausweisung in eben das Land, das sie verfolgt. Der grösste Teil der ankommenden Flüchtlinge ist dieser zweiten Behandlung ausgesetzt.

Reisefreiheit und die Pflicht auf Hilfeleistung

  1. Ausserdem wird, wie du im Buch erklärst, ein perverser Weg beschritten, um den Flüchtlingen das Recht auf Asyl zu verweigern: die «Politik der Auslagerung». Worin besteht diese Politik der Auslagerung?

Javier de Lucas: Das ist eine Politik, die bereits gegen Migrationsströme erprobt ist. Mit finanziellen Anreizen oder finanzieller Hilfe, getarnt als Entwicklungszusammenarbeit, versucht man zu erreichen, dass die Herkunfts- und/oder Transitländer Polizeifunktionen übernehmen, sei es gegen die eigenen Staatsangehörigen, indem ihre Reisefreiheit unterbunden wird, sei es gegen Bürger von Drittländern, um sie an der Weiterreise in die EU zu hindern.

All das ist nicht geheim. Vielmehr ist es das explizite Ziel der Verhandlungen der EU mit den Herkunfts- oder Transitländern von Migrationsströmen, wie der jüngste Gipfel von La Valletta in Malta zeigt. Dort konnte die EU zum Preis von 1,8 Milliarden Euro mit den Ländern der Afrikanischen Union vereinbaren, dass diese zu Gendarmen ihrer eigenen Bürger oder von Durchreisenden aus anderen Ländern werden.

Die bilateralen Verträge, die Spanien mit Mauretanien, Nigeria, Senegal und Marokko ausgehandelt hat, folgen demselben Muster. Ebenso der Vertrag zwischen Frankreich und Mali sowie jener, der Italien mit Libyens Gadhaffi-Regime ausgehandelt hatte. Ein riesiger Skandal! Diese Politik der bilateralen Verträge grenzt ans Verbrecherische, weil sie die Reisefreiheit zu unterbinden sucht.

  1. Doch das ist nicht das einzige Beispiel einer kriminellen Migrationspolitik. In deinem Buch erwähnst du auch, was aus der Operation Mare Nostrum wurde.

Javier de Lucas: Während des Jahres 2014 führte Italien vor der eigenen und der libyschen Küste die Operation Mare Nostrum zur Rettung und Bergung von Flüchtlingen in Seenot durch. Italien tat dies auf eigene Faust und zu Kosten von ungefähr 120 Millionen Euro. Zu einem gewissen Zeitpunkt bat die Regierung Renzi die EU, die Operation im selben Umfang weiterzuführen und so die Kosten gerecht auf die 28 Mitgliedsländer zu verteilen.

Und was geschah? Grossbritannien, Frankreich und Spanien weigerten sich zunächst, Italien zu entlasten, indem sie ganz offen die These aufstellten, die Rettungs- und Bergungsoperation übe einen Anziehungseffekt aus. Diese Länder sagten also, man müsse die Pflicht zu Hilfeleistungen aufheben, sonst kämen noch mehr Leute.

Wenn mit einer Politik der Auslagerung die Reisefreiheit unterbunden wird, wenn Hilfeleistungen unterlassen werden, um zu verhindern, dass noch mehr Leute kommen, so sind das zwei sprechende Beispiele einer Politik, die das Gesetz verletzt. Es sind zwei Beispiele dafür, dass die europäische Politik von Absichten geprägt ist, die mit den Garantien eines Rechtsstaats klar unvereinbar sind.

Die EU im Krieg gegen Zuwanderer

  1. MigrEurop, ein Netzwerk von solidarischen und antirassistischen Organisationen in Europa, geht so weit zu sagen, die EU befände sich im Kriegszustand gegen Flüchtlinge und MigrantInnen. Ist das übertrieben?

Javier de Lucas: Nein. Die EU ist de facto im Kriegszustand gegen MigrantInnen. Und das ist ein Kampf mit allen Mitteln, auch jenseits rechtlicher Normen, mit dem einzigen Ziel, die vermeintliche Zuwanderungs- und Flüchtlingslawine aufzuhalten. Zu den bevorzugten Mitteln gehören dabei die polizeilichen Kontrollmechanismen, die sich von militärischen Mitteln kaum noch unterscheiden.

Ein Beispiel: Die EU ersetzte letztlich die Operation Mare Nostrum durch zwei Operationen mit polizeilichem Charakter, die eine sogar mit militärischem Charakter. Gemeint ist die Operation Sophia, in deren Rahmen im südlichen zentralen Mittelmeer zwischen der italienischen und der tunesischen und libyschen Küste polizeiliche Interventionen erwogen werden, um mit Hilfe von militärischen Kräften die «Todesboote» zu zerstören, die dort unterwegs sind oder ankern – mit dem Risiko, dass die Schlepper die Zuwanderer als menschliche Schutzschilder verwenden.

Man braucht kein Experte zu sein, um festzustellen, dass eine Operation von dieser Tragweite zum Scheitern verurteilt ist, zielt sie doch darauf ab, die zerstreute Infrastruktur dieser mafiaähnlichen Schlepperorganisationen zu zerstören, die oft mit den örtlichen Militär- und Stammesstrukturen verbandelt sind. Der Präzedenzfall der Interventionen in Libyen und Syrien ist so verheerend, dass es für mich keine Frage ist, dass die vorgesehenen Operationen weitaus schlimmere Konsequenzen hätten als die beiden unrechtmässigen Kriege im Irak.

  1. In den vergangenen Jahren haben wir den Aufbau eines gemeinschaftlichen Europas erlebt, das man zwar als fähig erachtet, mit den grossen Wirtschaftsmächten mitzuziehen, beispielsweise beim von den USA auferlegten Transatlantischen Freihandelsabkommen. Gleichzeitig erklären sich die Architekten der Eurozone als «nicht zuständig», wenn es darum geht, ein gemeinsames Programm zum Schutz des Rechts auf Asyl auszuarbeiten. Das heisst, es gibt keine gemeinsame europäische Politik, um das Recht auf politisches Asyl zu schützen und zu garantieren. Sehr wohl hingegen gibt es eine solche, um polizeilich-militärische Operationen in die Wege zu leiten oder um «Ökonomien in der Krise» zu kontrollieren, wie etwa in Griechenland.

Javier de Lucas: Genau so ist es. Man möchte die Zuwanderer zum Sündenbock für die Krise machen – und hat dabei die einfachen Leute und inzwischen auch die Mittelschicht im Sinne, die sich nicht mehr mit dem Staat identifizieren, weil dieser die sozialen und wirtschaftlichen Rechte nicht mehr garantiert. Man muss die Idee in die Welt setzen, die Migrationsströme seien eine Bedrohung für die nationale Souveränität, weil sie Kriminalität, widerrechtliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt mit sich brächten oder die eigene Identität bedrohten. Das sind Augenwischereien, die in der täglich gelebten Wirklichkeit der europäischen Länder keine Entsprechung finden.

Letztlich fehlt der repressiven Politik gegenüber den Migrationsströmen die demokratische Grundlage. Die Leute werden kriminalisiert, nur weil sie anders sind. Und sie werden mit rechtlichen Sanktionen bestraft, bis hin zum Freiheitsentzug, ohne jeglichen Gerichtsenscheid. Dies geschieht in jenen Sonderzonen, welche die Abschiebegefängnisse darstellen, auf halbem Weg zwischen den ordentlichen Gefängnissen und den Aufnahmezentren. Dies ist der wirkliche Schiffbruch Europas.

Jenseits des Staates, die Antwort der BürgerInnen

    1. Es gibt einen Akteur, Javier, von dem du in deinem Buch nicht sprichst und zu dem wir ein paar Fragen an dich hätten. Wie reagiert die europäische Bevölkerung auf diese Situation? Es gibt Widerstand zugunsten der MigrantInnen. Es wurden Empfangsnetze geschaffen. Welche Rolle misst du dem bei?

Javier de Lucas: Ich bin einer derer, die denken, dass Europa fünf Minuten vom Abgrund entfernt ist. Die Antwort auf die Flüchtlingskrise ist eine Absage an das, was vom europäischen Projekt übrig geblieben ist. Doch wie besagt doch eine bekannte Textzeile von Hölderlin: «Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.» In den Bürgerbewegungen, die entstanden sind, gibt es Elemente der Kritik und auch der Suche nach einem anderen politischen Modell für Europa. Es bleibt nicht bei Wehklage oder Empörung gegenüber punktuellen Geschehnissen, die emotional und symbolisch stark aufgeladen sind, etwa als die Fotografie des Leichnams des Jungen Aylan Kurdi veröffentlicht wurde, der an der türkischen Küste angespült worden war.

Sehr positiv finde ich beispielsweise die behördliche Reaktion in Form einer Initiative von Ada Colau, der Bürgermeisterin von Barcelona, sekundiert von Manuela Carmena, Madrid, und zwei weiteren Verwaltungen wichtiger Städte, La Coruña und Valecia. Diese Stadtverwaltungen lancierten unter dem Druck von Bürgerbewegungen, die entstanden, um die ankommenden Flüchtlinge zu empfangen, den Vorschlag, ein europäisches Städtenetz für Flüchtlinge zu schaffen. Ich glaube, wenn dieser Vorschlag Schule macht, so hat er unglaubliches Potenzial. Das würde nämlich aufzeigen, dass man Initiativen aufgleisen kann, die über die Grenzen staatlichen Handelns hinausgehen und die ausserdem europaweit kordiniert werden können, indem man auf öffentliche und zivilgesellschaftliche Ressourcen zählen kann.

      1. Würdest du sagen, diese Initiativen haben rein karitativen oder auch politischen Charakter?

Javier de Lucas: Der erste Impuls ist bestimmt humanitärer Art: die Aktivierung von Kenntnissen und Mitteln aller Art im Dienste von Schutzbedürftigen. Doch ich glaube, es bleibt nicht dabei. Denn wenn eine kritische solidarische Masse mit den Stadtverwaltungen in Kontakt tritt und interpelliert, so stellt das eine politische Herausforderung dar, die dabei helfen kann, auf lokaler Ebene politische Weichen zu stellen, andere Prioritäten zu setzen und die Mittelzuteilung zu verändern.

Eine deutliche Grenze solcher zivilgesellschaftlicher Aktivitäten des Widerstands besteht allerdings darin, dass die internationalen Flüchtlingsmechanismen sämtliche Kompetenz den nationalstaatlichen Institutionen zuweisen. Der Staat entscheidet, wer Flüchtling ist und wer nicht. Deshalb ist es äusserst wichtig, zivile Aufnahmestrukturen aufzubauen, um die Ankommenden zu empfangen. Aber ebenso müssen der juristisch-institutionelle Rahmen wie auch die Logik des staatlichen Handelns auf politischem Weg verändert werden.

Denn die operative Logik des Nationalstaates ist gegenüber globalen Phänomenen wie dem der Flüchtlinge und der Migration ungenügend. Man muss die zombiehaften politischen Kategorien verändern, die mit dem Nationalstaat vebunden sind. Dieses europäische Städtenetz für Flüchtlinge wäre ein Beispiel transnationaler, kosmopolitischer Politik im Dienste von Personen und Rechten, die über die nationalen Grenzen hinaus gehen und Antworten einer anderen Kategorie erfordern. Die transnationalen Netzwerke des Widerstandes sind dieser Kategorie, dieser Stufe näher als die Nationalstaaten.

Migrationspolitik nach den Attentaten von Paris

      1. Schliesslich möchten wir dich über die terroristischen Angriffe von Paris befragen. Nach unterschiedlichen Einschätzungen gelten sie als Ereignisse von der Dimension des 11. September 2001. Es ist bereits ein Gemeinplatz, obschon alles andere als gewiss, dass seit dem 11. September die Migrationsströme einem sicherheitsorientierten Management unterworfen werden. Wir bitten dich um eine Prognose und etwas Hexerei: Welche Auswirkung, glaubst du, werden die terroristischen Angriffe und der in Paris ausgerufene Ausnahmezustand auf die Steuerung der Flüchtlings- und Migrationsströme haben?

Javier de Lucas: Ich fürchte, das Schlimmste ist schon Tatsache geworden: Es wird eine extreme militärische Logik wirksam, die in der Diskussion um die Flüchtlings- und Migrationspolitik schmerzlich viel Anklang findet. Hollande hat erklärt, Frankreich befinde sich im Krieg, und den Notstand ausgerufen. Eben dieser Ausnahmezustand, so haben wir vorher gesehen, hat die Migrations- und Asylpolitik verseucht.

Der rechtliche Ausnahmezustand geht immer mit einem Polizeistaat (und/oder einer Militärdiktatur) einher. Als würden wir vor einem «Feind» stehen, dem gegenüber normale Waffen nichts taugen. Vielmehr erfordert er aussergewöhnliche Waffen, die auch das Ende des Rechtsstaats voraussetzen: die Unschuldsvermutung, die Rechtsgarantien, ein ordentlicher und gerechter Prozess, das Gleichheitsprinzip usw. Vom einem gemeinsamen und mit Garantien gestützten Strafrecht gehen wir über zum sogenannten «Feindstrafrecht». Die Migrationsströme werden kriminalisiert und eben in diese Kategorie «Feind» eingeteilt, gegen den alle Mittel recht sind.

      1. Glaubst du, diese Politik wird fortgeführt werden? Oder handelt es sich um eine momentane, emotionale und punktuelle Reaktion auf die Attentate?

Javier de Lucas: Ich fürchte, es wird so weitergehen. Und das ist ein düsteres Szenario. Das Kriegsszenario ist ein Szenario des Todes, denn es greift in primitivster Weise auf eine manichäische Sichtweise zurück von einem Wir, das Gute, gegenüber einem monströsen Ihr, dem Feind. Damit verbunden ist die Logik des Sündenbocks, die Logik der äusseren Bedrohung, die Logik der Effizienz vor allem anderen und über allem anderen. Damit verbunden ist ebenso die Fremdenfeindlichkeit und der Diskurs der Angst als Politik des Staates.

Das ist eine fürchterliche Vereinfachung eines äusserst verworrenen Lage. Denn wir befinden uns in keiner Weise in einem binären oder bipolaren Szenario mit zwei Seiten, einer guten und einer schlechten. Zwischen den Parteien bestehen tausend unheilige Alianzen. Denken wir nur an die schizophrene Rolle Saudi-Arabiens, das terroristische Netzwerke finanziell unterstützt und gleichzeitig Verbündeter der USA ist. Und ganz ähnlich steht es mit Russland, mit Israel, mit der Türkei … Es ist ein Gemenge komplex durchmischter Interessen.

Haben wir etwas von Nine-Eleven gelernt? Gerne würde ich daran glauben, dass sich eine vorsichtige Politik mit Augenmass durchsetzen wird. Doch ich denke, das wird nicht so sein. Sollten Frankreich oder andere westliche Streitkräfte ihren Fuss aufs Gebiet setzen, so werden die Konsequenzen mindestens so gravierend sein wie beim Golf- oder beim Irak-Krieg: Zunächst würde sich der Jihadismus unaufhaltsam ausbreiten, gefolgt vom Zerfall der Rechte und Freiheiten, der vor allem Immigranten und Flüchtlinge treffen würde, aber unerbittlich auch alle BürgerInnen, angefangen bei den verletzlichsten. Ein solcher Krieg der Mitgliedsstaaten der EU würde zum Verfall des Rechtsstaats und der Demokratie führen. Drum wären nicht nur «die anderen» die Geschädigten, sondern wir alle.

***

Dieses Gespräch ist dem Andenken der Tausenden Menschen gewidmet, unter ihnen eine beträchtliche Anzahl von Kindern, die im Mittelmeer ertrunken sind, die letzten vor wenigen Tagen vor den Küsten Griechenlands.

Das Original des Interviews in spanischer Sprache ist auf dem Blog Interferencias bei eldiario.es erschienen.


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