Üblicherweise gebe ich einem Buch 10 Prozent seiner Seitenzahl, und wenn es mich dann immer noch nicht packt, dann darf ich es auch sein lassen. Für das Ulysses-Projekt hätte ich diese Regel allerdings nicht anwenden dürfen, denn da brauchte es die Hälfte des Buchs, bis ich ihm endlich etwas abgewinnen konnte. Erst dann begann sich Leopold Bloom, die Hauptfigur des Romans, auf den ich zunächst verächtlich herabschauen zu können glaubte, für mich als ein Mensch der Gegenwart zu entpuppen, wie er auch heute noch, 110 Jahre nach dem Handlungstag des Romans, existiert – und im Grunde einem wie mir selbst gar nicht so unähnlich ist…
“Introibo ad altare Dei”
Gleich der erste Satz, der im Roman gesprochen wird, schlägt eines der Hauptthemen an. Buck Mulligan, eine der eher wichtigen Nebenfiguren, kommt zur Morgenrasur auf die Dachterrasse und intoniert ironisch: „Introibo ad altare Dei.“ Als Ministrant habe ich den Satz vom Priester sicher hundertmal gehört: „Zum Altare Gottes will ich treten.“ Gleich wird deutlich: Hier macht sich einer über die katholische Kirche lustig. Nach 1000 Seiten weiß man: Es ist nicht nur die Figur des Buck Mulligan, sondern es ist der Autor James Joyce selbst, der von der Kirche nichts hält. Ich bin zwar kein Fan kirchenkritischer Zynismen, die meist aus einer Unkenntnis des Entwicklungsstandes der gegenwärtigen Theologie resultieren, hier aber muss ich doch Verständnis haben: Ein halbwegs selbständig denkender Mensch wird anno 1904, wo der Roman spielt, oder 1914-21, wo er verfasst wurde, die Atmosphäre im erzkatholischen Irland kaum ertragen haben. Was lag näher, als sich a) zu besaufen und b) in antiklerikale Zynismen zu flüchten. Joyce tat beides ausgiebig.
Literarische Innovationen
Doch nicht für seine kirchenkritische Haltung ist der „Ulysses“ berühmt, sondern für seine literarischen Innovationen.
Angesichts der Leistungen der großen Erzähler des 19. Jahrhunderts noch etwas Eigenständiges und Hervorragendes schaffen zu wollen, war ja fast vermessen. Joyce hat es dennoch versucht, und eine Sammlung der Ergebnisse haben wir auf diesen 1000 Seiten vor uns. Berühmt und wohl allgemein bekannt ist das letzte, 18., Kapitel: der 70 Seiten lange innere Monolog von Molly Bloom, der Gattin Leopold Blooms. 70 Seiten ohne Punkt und Komma – wie kann man das lesen? Problemlos, muss ich sagen, denn Mollys Gedankenstrom mag zwar ziemlich herummäandern, aber halbwegs in vollständigen Sätzen zu denken ist sie immer noch in der Lage, obwohl es drei Uhr in der Früh ist und sie eigentlich schlafen sollte. Aber eben nicht kann, weil Leopold nach einer nächtlichen Sauftour endlich zu ihr ins eheliche Bett gekrochen ist, übrigens andersrum orientiert: neben ihrem Kopf seine Füße. Eine Praxis, die a) einiges über die Innigkeit der Ehe der Blooms sagt, aber b) bei einem relativ schmalen Bett und relativ beleibten Schläfern gar nicht so dumm ist und c) aus des Autors eigener Schlafpraxis stammt!
Da könnte man doch glatt meinen, Joyce habe sich in Bloom selbst portraitiert. Um das beurteilen zu können, bin ich nicht Kenner genug, aber eins ist klar: Im Ulysses gibt es ja noch eine zweite „Hauptperson“, den jungen Lehrer Stephen Dedalus, Sohn von Leopolds Freund Simon Dedalus. Und Stephen wird wohl genauso viel mit Joyce zu tun haben wie Bloom.
Das Problem mit dem Erzählen
Zurück zu den literarischen Experimenten: Das Problem in der Literatur um 1900 war die Rolle des Erzählers und der Sprache überhaupt. Hofmannsthal behauptete, die Worte zerfielen ihm im Mund „wie modrige Pilze“. Man hatte das Vertrauen auf die schiere Möglichkeit des simplen Erzählens verloren. Was macht einer, wenn er erzählt? Macht er den Zuhörern bzw. Lesern nicht einfach einen sprachlichen Hokuspokus vor, entwirft ein Lügengespinst, das mit der angeblich erzählten „Wirklichkeit“ nichts zu tun hat? Ok, mag sich jemand wie Joyce gesagt haben: Dann weg mit dem Erzähler! Wir sammeln nur noch Fakten! Wir notieren, was auf uns einstürzt, aber wir überlassen es dem Leser, draus etwas zu basteln. Literarisches Brainstorming, sozusagen. Der Roman als Stichwortliste der Wirklichkeit. Über weite Strecken wirkt der „Ulysses“ tatsächlich wie eine Notizensammlung eines Menschen, der durch Dublin flaniert und schlicht alles festhält, was er sieht, hört, riecht und sonstwie wahrnimmt. Der Autor schaut dabei gewissermaßen seinem jeweiligen Protagonisten, sei es Stephen oder Leopold, über die Schulter oder ins Gehirn und notiert, was dieser eine Mensch gerade wahrnehmen könnte. Fragmentarisch, denn alles vollständig notieren, dazu bräuchte es zehntausend Seiten, nicht bloße tausend. Daher werden häufig wirklich nur Stichwörter oder Satzfragmente geboten.
Wenn man sich gegen übermächtige Vorbilder absetzen will, kann man das aber nicht nur durch ganz was Neues, sondern auch durch eine Parodie machen. Daher gibt es auch Kapitel, wo Joyce den Erzählton des 19. Jahrhunderts verulkt, indem er ihn ins Sentimental-Pathetische übertreibt.
Weitere Möglichkeit der Innovation: Man erzählt nicht, sondern wechselt in eine ganz andere Gattung, in diesem Fall ins Theater: Das 15. Kapitel ist wie ein Theaterstück geschrieben, mit seinen 150 Seiten ein abendfüllendes noch dazu. Wer aber glaubt, dieses Kapitel ließe sich so leicht auf die Bühne bringen, irrt gewaltig. Es spielt, muss man wissen, in Dublins nächtlicher Halbwelt, wo sowohl Bloom wie auch Stephen, vom Alkohol enthemmt, ihr Glück suchen, aber nicht finden. Joyce macht daraus eine wahre Walpurgisnacht, ein surrealistisches Stück, das bestenfalls mit den Mitteln moderner Filmtechnik zur „Aufführung“ gelangen könnte. Das zu lesen macht aber Spaß.
Da Bloom mit der Zeitung zu tun hat – er ist ein Annoncen-Aquisiteur – liegt es natürlich nahe, auch journalistische Schreibweisen einzubeziehen. Ein Kapitel besteht aus „Zeitungsartikeln“, sprich: Schlagzeilen mit darauf folgendem Artikeltext, nur dass diese Artikel dann eben doch wieder keine Zeitungsberichte sind. Ja, und am Ende, im 17. Kapitel, besinnt Joyce sich gar der Gestaltungsweise des Katechismus: Frage und Antwort, genau 100 Seiten lang, und mit deutlicher Tendenz, das Unwichtige (etwa, wie der Bart eines Schlüssels sich im Schloss dreht) mit der gleichen Akribie zu beschreiben wie das Wichtigere. Möge doch der Leser die unterschiedliche Wichtigkeit erkennen!
Bloomsday
So viel zum formalen Aspekt des Romans. Hat er auch einen Inhalt?
Nicht mehr der Autor ist der „Macher“ des Kunstwerks, sondern der Leser. Dieser muss aus all den Daten, die ihm dieser denkwürdige 16. Juni 1904, an dem der Roman spielt, liefert, „etwas machen“. Was dabei herauskommt, wird wohl äußerst unterschiedlich sein.
Genau genommen umfasst der Roman die Zeit vom 16. Juni 1904 morgens bis zum nächsten Tag in den frühen Morgenstunden, als es schon hell zu werden beginnt. Das ist der berühmte „Bloomsday“, wie er heute von Joyce-Fans jährlich gefeiert wird.
Wen interessiert das?
Ich habe mich über weite Strecken über die Zumutung, der ich hier als Leser ausgesetzt werde, geärgert. Weil ich schlicht nichts Interessantes entdeckt habe. Es geht eigentlich vor allem um zwei Handlungsweisen: entweder geht der Protagonist durch Dublin oder er sitzt im Wirtshaus und palavert über Unbedeutendes und trinkt bedeutende Mengen. Ausnahmen sind zum Beispiel ein Begräbnis-Kapitel, wo man nicht geht, sondern in der Kutsche im Trauerkondukt mitführt und palavert und anschließend am eigentlichen Begräbnis teilnimmt, oder der erwähnte Monolog der Molly Bloom, der sich im Bett „abspielt“. Was interessiert mich, wer wen auf Dublins Straßen im Jahre 1904 sieht oder übersieht, grüßt oder nicht grüßt? Hier wird viele Seiten lang Alltag pur aufgetischt.
Geld und Sex
Was beschäftigt einen vierzigjährigen Anzeigenkeiler denn so im Alltag? Der 16. Juni 1904 ist ja kein besonderer Tag, sondern ein ganz normaler Wochentag. Bloom beschäftigen zwei Dinge: Geld und Sex.
Ständig überlegt er, wieviel irgendetwas kostet, wieviel er noch in der Tasche hat, wieviel er womit verdienen könnte, usw. Auch mit Molly, die eine begabte Sängerin ist, möchte er Geld machen, weshalb er eine Konzerttournee organisiert hat. Geld ist also das eine.
Das andere ist das Liebesleben, mit dem es nicht so glatt gehen will. Molly betrügt ihn, scheint’s. Das macht Bloom aber gar nicht so viel, denn es gibt ihm den Freibrief, seinerseits ein Verhältnis anzufangen, das gerade bis zum Stadium geheimen Briefwechsels gediehen ist. Unter falschem Namen holt Bloom zum Beispiel einen Brief seiner Geliebten vom Postamt ab. Und den ganzen Tag geistern dieser Brief bzw. Blooms Reaktionen darauf im Roman herum. Als er – in der Mitte des Romans – grübelnd am Strand sitzt und dort ein Mädchen mit ihm flirtet, übermannt es ihn und er masturbiert heimlich, was aber keine wirkliche Befriedigung, sondern vor allem eine nasse Unterhose nach sich zieht. Dass er außerdem nachts im Rotlichtviertel ins Bordell geht, vervollständigt das Bild sexuellen Jammers, das Bloom abgibt. Ein Mann in der Midlife-Crisis, im Grunde ein Mensch, der von mehr träumt, als er hat, und dadurch nicht gerade glücklicher wird. Die Misere wird, wie sich’s in Dublin gehört, in Bier ersäuft.
Freunde und Philosophie
Stephen wiederum ist der prototypische junge Mann, der sich vor allem mit Freunden und mit Philosophie beschäftigt. Mit beiden ist’s nicht weit her. Freundschaften unter jungen Männern können leicht durch ein Konkurrenzdenken getrübt werden, und so ist es auch hier. Stephens Mitbewohner Buck Mulligan und Haines – zu dritt leben sie in einer Art WG in einem alten Leuchtturm am Strand – gehen ihre eigenen Wege, die den Stephens höchstens beiläufig kreuzen.
In der Nacht werden die beiden Hauptfiguren dann kurzzeitig vereint, weil Bloom den stockbetrunkenen Stephen vom Bordellviertel zuerst in ein Temperenzler-Lokal, wo sie Milch und Kaffee trinken, und schließlich sogar zu sich nach Hause bringt, mit dem Angebot, ihn bei sich auf der Couch übernachten zu lassen. Da das Couchsurfen noch nicht erfunden war, lehnt Stephen dieses Ansinnen allerdings ab und entschwindet torkelnd in die Morgendämmerung, und Bloom legt sich schweren Herzens verkehrt herum zu Molly ins Bett.
Die Homer-Connection
Ich habe kürzlich Homers „Odyssee“ gelesen, unter anderem auch mit dem Hintergedanken, damit das Rüstzeug für den „Ulysses“ zu haben. Joyce soll seinen Roman nach der Odyssee gestaltet haben. Wer aber glaubt, die Odyssee werde viel zur Erhellung des „Ulysses“ beitragen, sieht sich getäuscht. Joyce selbst scheint schon erkannt zu haben, dass es mit den Beziehungen zur Odyssee eine vertrackte Sache ist. Im Manuskript sollen die Kapitel noch mit Überschriften à la „Telemach“, „Calypso“ oder „Ithaka“ versehen sein, doch in der Buchausgabe ließ Joyce diese verschwinden. Mit Recht, wie mir scheint. Ich habe zwar brav die Einleitungen meiner kommentierten „Ulysses“-Ausgabe gelesen, wo immer genau vermerkt ist, welches Kapitel der Odyssee nun dran ist und was darin passiert, aber nicht einmal dieser Kommentar konnte zwischen der Odyssee und dem „Ulysses“ mehr als nur oberflächliche Beziehungen herstellen. Ich habe das Gefühl, Joyce habe mit dem ganzen Odyssee-Klimbim der literarischen Welt einen Streich gespielt: Die wollen doch immer irgendwelche literaturhistorischen Geheimnisse lüften! Geben wir ihnen eine Nuss zum Knacken, an der sie sich die Zähne ausbeißen werden!
Man kann jedenfalls den „Ulysses“ getrost ohne Homerkenntnisse lesen und wird keine nennenswerten Einbußen erleben. Vielleicht sogar das Gegenteil.
Auch der umfangreiche Kommentar der kommentierten Ausgabe erwies sich für mich keineswegs als hilfreich, denn das, was man weiß, wird oft erklärt, und was man wissen will, bleibt meist unkommentiert. Ich habe also bald die Lektüre in der armmuskelschonenderen Edition-Suhrkamp-Ausgabe fortgesetzt, und das hat ausgereicht. Übrigens hat mir auch der Wikipedia-Artikel über den „Ulysses“ einige Verstädnishilfen geboten.
James Joyce: Ulysses. Übersetzt von Hans Wollschläger. edition suhrkamp Neue Folge 100, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 1981. 1015 Seiten.
James Joyce: Ulysses. Übersetzt von Hans Wollschläger. Hg. u. kommentiert v. Dirk Vanderbeke u. a., Suhrkamp-Verlag, Frankfurt, 2004. 1122 Seiten.
P.S.:
Gerade habe ich in einen Bildband über Stefan Zweig hineingeblättert und dort Stefans Zweigs Rezension des Ulysses von 1928 entdeckt. Erstaunlich, wie treffend Zweig, der nun wahrlich nicht gerade ein Vertreter erzählkritischen Literatentums ist, die Leistung von Joyce darstellt:
„Gattung: ein Roman? Nein, durchaus nicht: ein Hexensabbat des Geistes, ein gigantisches Capriccio, eine phänomenale zerebrale Walpurgisnacht. Ein Film psychischer Situationen, sausend und flirrend im Expreßtempo, dabei ungeheure Seelenlandschaft voll genialer und genialistischer Details taumelig vorüberreißend, ein Doppeldenken, ein Tripledenken, ein Übereinander-, Durcheinander- und Quernebeneinanderfühlen aller Gefühle, eine Orgie der Psychologie, mit einer neutechnischen Zeitlupe begabt, die jede Bewegung und Regung in ihre Atome auflöst. Eine Tarantella des Unbewußten, rasende und rauschende Ideenflucht, die quirlend wahllos mit sich schwemmt, was ihr gerade in den Weg kommt, Subtilstes und Banalstes, Phantastisches und Freudisches, Theologie und Pornographie, Lyrismen und Kutschergrobschlächtigkeiten – ein Chaos also, aber nicht dumpf geträumt […], sondern von einem schneidend geistigen, ironisch zynischen Intellektuellen kühn und absichtsvoll instrumentiert.“ (Stefan Zweig: „Anmerkung zu Joyce’s ‚Ulysses‘“, in: Stefan Zweig. Bilder. Texte. Dokumente. Hg. v. Klemens Renoldner u. a., Residenz Verlag, Salzburg und Wien, 1993, S. 88. Der Text kann hier online gelesen werden.)
Bild: “The Coast”
Ich war erst einmal in Irland, und da nur an der Westküste. Von dort stammt mein Bild: “The Coast”, Irland 1981. Aquarellierte Federzeichnung.