Jamal Khashoggi, Wieland der Schmied und Tantalos

Jamal Khashoggi auf Platz 1 von Google News

Jamal Khashoggi auf Platz 1 von Google News

Laut Reporter ohne Grenzen sind seit Jahresbeginn weltweit 57 Journalisten getötet worden. Dass gerade die Ermordung von Jamal Khashoggi tagelang die Titelseiten der westlichen Zeitungen beherrscht, während die kaum weniger schrecklichen Mordfälle aus Mexiko oder Afghanistan kaum beachtet werden, ist kein Zufall.

Der Mord von Istanbul rührt an elementare, nachgerade mythische Motive. Das lässt ihn erschütternder und verworfener erscheinen als z.B. die Ermordung von Rubén Pat, einem mexikanischen Journalisten, der am 24. Juli in ​​Playa del Carmen, Yucatán auf offener Straße erschossen wurde, nachdem ihm Beamte zuvor gedroht hatten, „er wisse schon, was auf ihn zukäme“, wenn er weiterhin den lokalen Polizeichef kritisiere.

Jamal Khashoggi wurde nicht auf offener Straße erschossen. Er wurde auch nicht nach einem offiziellen (Schau-)Prozess hingerichtet. Der Mord geschah klammheimlich – und nicht irgendwo, sondern ausgerechnet in einem Konsulat. An einem Ort also, welcher der Sitte nach besonders geschützt, besonders unverletzlich ist. Genau das macht den Mord so perfide – und so mythologisch aufgeladen. Denn im Grunde erleben wir hier nichts anderes als eine Abwandlung des Motivs „Frevlerische Verletzung des Gastrechts“.

Gescheiterter Tantalos

Gescheiterter Tantalos

In den abendländischen Mythologien müssen wir sehr weit zurückgehen, bis wir auf ähnliche Geschichten stoßen. Die Sage von Wieland dem Schmied fällt mir ein: er lockt die Söhne des verhassten Königs unter falschen Versprechungen in seine Hütte, schlägt ihnen dort den Kopf ab und fertigt aus ihren Hirnschalen goldene Trinkbecher, die er dem König sodann zum täglichen Gebrauch überreicht.

In der griechischen Mythologie ist Tantalos zu nennen: er fordert die Götter heraus, indem er ihnen beim Gastmahl seinen eigenen Sohn als Speise vorsetzt – in der Erwartung, dass sie zu dumm sind, es zu merken. Anders als Wieland geht Tantalos‘ Plan nicht auf: die Götter lassen sich nicht täuschen – und ihr Fluch verfolgt seine Familie noch fünf Generationen lang.

Die Ermordung von Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul ist im Kern genau dasselbe: ein Frevel.

Der Mord widerspricht allem, was Sitte und Tradition gebieten. Er entweiht einen heiligen Ort – heilig nicht im wörtlichen Sinne, aber doch im übertragenen. Diplomatische und konsularische Vertretungen sind unverletzlich. Sie sind sakrosankt – ein Wort, das bezeichnenderweise beide lateinische Wörter für heilig (sacer und sanctus) enthält.

Auslandsvertretungen haben bis heute Schutzfunktion. Julian Assanges Flucht in die ecuadorianische Botschaft von London (2012) und Kardinal Mindszentys Flucht in die Budapester US-Botschaft (1956) sind wohl die bekanntesten Beispiele.

Dieser sakrosankte Schutzort wurde von Saudi-Arabien verletzt. Und dies nicht nur geringfügig, indem Khashoggi dort z.B. verhaftet oder entführt worden wäre. Nein, der Frevel ist der größtmögliche: Eine Bluttat im heiligen Bezirk. Genauso wie Tantalos den Göttern nicht etwa ein Stück Hundefleisch serviert hat, sondern, als größtmögliche Schandtat, seinen eigenen Sohn.

In beiden Fällen geht es um den maximalen Kontrast zwischen dem heiligen, unverletzlichen Ort und der barbarischen Handlung, die dort gezielt und bewusst verübt wird.

Die Frage drängt sich auf: Warum? – Warum frevelt Tantalos, warum Saudi-Arabien? Was versprechen sie sich davon – und wie rechtfertigen sie sich?

Es gibt zwei mögliche Antworten. Die eine ist: Mein Tun ist kein Frevel, denn es dient einem höheren, noch wichtigeren, heiligeren Ziel. Dies ist die Antwort des politischen Kämpfers. Die andere lautet: Jawohl, ich bin ein Frevler – und ich kann es mir leisten, denn ich bin stark genug! Dies ist die Antwort des archaischen Wüterichs.

Tantalos fällt klar in die zweite Kategorie. Er fordert die Götter dreist heraus, weil er glaubt, schlauer zu sein als sie. Doch Saudi-Arabien? Blicken wir dafür auf den Mastermind hinter dem Frevel: Kronprinz Mohammed bin Salman.

Mohammed bin Salman

Mohammed bin Salman

Der saudische De-Facto-Herrscher gilt als impulsiv und aufbrausend. Er ist ein krasser Gegenentwurf zur früheren saudischen Tradition der Stabilität und Berechenbarkeit. Unter seiner Herrschaft geschehen unerhörte Dinge: Mitglieder der königlichen Familie werden verhaftet, Kinos werden wiedereröffnet, Frauen dürfen autofahren, die diplomatischen Beziehungen zu Katar werden abgebrochen, der Jemen wird bombardiert, konservative wie liberale Kritiker werden reihenweise eingesperrt.

Unter Mohammed bin Salman scheint sich Saudi-Arabien von einer traditionellen absoluten Monarchie zu einer modernen Diktatur zu wandeln: Willkür, Unberechenbarkeit und Rechtsunsicherheit ersetzen den restriktiven, berechenbaren Konservatismus der Vergangenheit.

Mohammed bin Salman ist beileibe kein Liberaler, genausowenig aber ein Traditionalist oder religiöser Hardliner. Seine Denkmuster sind klar autoritär – doch die (für traditionelle Herrschaft typische) Balance zwischen dem eigenen Wirken als gestaltende Autorität und dem Gehorsam gegenüber vorgefundenen traditionellen und religiösen Autoritäten ist bei ihm deutlich zugunsten ersterem verschoben.

Der Kronprinz verändert und gestaltet, weil er es kann. Mögliche Konkurrenz in der Königsfamilie hat er frühzeitig ausgeschaltet. Er ist mächtig und erlebt sich als mächtig. Die Vermutung liegt nahe, dass er auch im Fall Khashoggi denkt: ich darf das, denn ich kann das!

Ob er damit rechnete, dass der frevlerische Mord ebenso im medialen Rauschen untergehen würde wie die Ermordung von Rubén Pat und seiner 56 Berufskollegen seit Jahresbeginn, oder ob er den Eklat bewusst in Kauf nahm, um der Welt zu zeigen: „Seht, so ruchlos bin ich! Fürchtet mich!“, sei dahingestellt. Das unsouveräne Rumgeeiere nach der Tat lässt eher auf ersteres schließen. Die zweite Variante wäre wohl selbst für Saudi-Arabien zu archaisch. Das war eher die Methode des Islamischen Staats: hemmungslose Tabubrüche – und offen dazu Stehen. Aber der IS hatte keine konsularischen Vertretungen. Er war ein Outlaw von Anfang an. Seine maximale Fallhöhe war viel kleiner.

Der Rest des Spiels dürfte vorhersehbar sein. Entweder gelingt es Mohammed bin Salman, durch weiteres Rumlavieren, halbherzige Tatsachenverdrehungen und Bauernopfer seine Machtposition zu bewahren. Das wäre kaum eine Pressemeldung wert, hören wir doch Tag für Tag ähnliches aus den Feld-Wald-und-Wiesen-Diktaturen unserer Zeit (die wenigsten beherrschen das Spiel mit der Realitätsverdrehung so virtuos wie – auf ganz unterschiedliche Art – Putin und Trump). Oder aber Mohammed bin Salman ergeht es wie Tantalos – er scheitert und landet im Orkus.

So oder so – bis ins fünfte Glied dürfte die Familie Saud in keinem Fall verflucht werden. Khalid bin Salman steht, wie man hört, schon bereit.


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