Jakob Augstein und der linke Antisemitismus

Jakob Augstein und der linke Antisemitismus
von Thomas Baader

Die ganze öffentliche Debatte um die umstrittenen Aussagen des Journalisten Jakob Augstein lässt sich in einem Satz auf den Punkt bringen: Die meisten seiner Verteidiger haben seine Texte nicht gelesen und halten linken Antisemitismus von vorneherein für ein Ding der Unmöglichkeit.

Man darf annehmen, dass Augstein derzeit in seiner Rolle voll und ganz aufgeht - und die Selbstinszenierung als Opfer gehört selbstverständlich dazu: "Augstein, du bist und bleibst eine antisemitische Dreckschleuder. PS: immer schön aufpassen, wenn du über die Straße gehst." Diese über Facebook erhaltene Nachricht setzt Augstein an den Anfang seines Verteidigungsartikels bei Spiegel Online. Seht her, ich bin hier das Opfer!

Was der Augstein-Fanclub derweil von sich gibt und mit welchen Beschimpfungen er die Gegenseite bedenkt, wird freilich unterschlagen. Faszinierend ist in diesem Zusammenhang auch, dass jene Zeitungen, in denen Journalisten die Position vertreten, im Grunde gäbe es hier gar keine echte Antisemititsmusdebatte, oft einen Rattenschwanz an antisemitischen Beiträgen in den zugehörigen Kommentarbereichen bewältigen müssen. Augstein ruft also in der Leserschaft Unterstützer auf den Plan, die die Gelegenheit nutzen um mitzuteilen, dass die Presse sowieso irgendwie jüdisch kontrolliert wird. Nun besagt zwar ein Grundsatz der Fairness, dass man anerkennen sollte, dass vor dem Beifall von der falschen Seite niemand gefeit ist (bloß im Fall Sarrazin galt dieser Grundsatz nicht); das ist auch zweifellos richtig, jedoch rückt es das Bild wieder ein wenig zurecht, wenn man sich klarmacht, dass all jene, die noch eine Rechnung mit den Juden offen hatten, auf Augsteins Startsignal offenbar geradezu gewartet haben.

Der Autor dieser Zeilen hatte als sehr junger Mensch selbst einen äußerst schiefen Blick auf Israel und den Nahostkonflikt - was heute wiederum den Vorteil hat, die innere Verfasstheit Augsteins mit entsprechender Distanz nachempfinden zu können: Der Antisemitismus kann in diesem Fall keiner sein, weil er sich anti-imperialistisch maskiert - so das Denkmuster, das der Selbstberuhigung dient. Indem man sich selbst von vorneherein zu einem der Guten erklärt, ist man per Definition unabhängig von den eigenen Worten und Taten auch niemals Bestandteil einer Tätergruppe. Man will ja nur den armen Palästinensern helfen. Der Schwache hat automatisch immer Recht, also setzt man sich für ihn ein. Der Starke (oder: der als stark Wahrgenommene) muss ganz einfach schlecht sein. Also: einfach einmal Robin Hood spielen wie in Kindheitstagen. Hier bekommt August Bebels Ausspruch, wonach der Antisemitismus der Sozialismus der dummen Kerls ist, eine ganz neue Bedeutung. Das Kennzeichen des linken Antisemismus ist, dass er sich nicht als Antisemitismus versteht, sondern dass das antijüdische Ressentiment verdeckt wird durch einen Zuckerguss des antikapitilastischen, antiimperialistischen und letztlich selbstgerechten Gehabes. In diesem Sinne handelt es sich um einen Antisemitismus, der sich seiner selbst nicht bewusst ist. Die momentanen Reaktionen zeigen aber, dass auch viele, die selbst nicht vom linken Antisemitismus infiziert sind, sich seiner Existenz nicht bewusst sind.
 
Augsteins Umgang mit Israel ist von Vorurteilen und Ressentiments geleitet - das wird niemand ernsthaft bestreiten können, der sich mit seinen diesbezüglichen Texten auseinandergesetzt hat. Und tatsächlich kommen ja auch jetzt jene wieder zum Vorschein, die bei solchen Gelegenheiten sagen: Ja, einseitig und platt ist er, aber kein Antisemit. Besonders putzig dabei die folgende Argumentation: Augstein sei kein Antisemit, sondern ein kritischer Journalist. Wir lernen also: Antisemitismus und kritischer Journalismus schließen einander kategorisch aus, wobei es im Hinblick auf den letzteren zur Beweisführung zudem noch ausreicht, wenn der Betroffene sich selbst als kritischen Journalisten  bezeichnet. Zieht man hingegen konkret Worte und Taten heran, dann sieht der kritische Journalismus eines Jakob Augstein so aus: "Würde Israel für seine machtpolitischen Interessen auf Zahnpastatuben setzen und nicht auf Atomraketen, die berufliche Zukunft von rund 13.000 Drogistinnen wäre sicher". Das ist er also, der kritische Journalismus unserer Zeit. "Differenzierte Argumentation"? Ernsthaft? Sind Augsteins Verteidiger allesamt Teil eines großen satirischen Projektes und wir haben es bisher bloß nicht gemerkt? Es scheint bitterer Ernst zu sein. Und was eigentlich nur in randständigen linksradikalen Blättchen (oder leicht variiert in rechtsradikalen Entsprechungen) vorkommen sollte, schafft es dank Augstein auf die Seiten von Spiegel Online: ein unausgegorenes, unappetitliches Gemisch aus Verwschwörungstheorien, das sich, was die Denkfiguren betrifft, an dem überreichlich ausgestatteten Fundus des traditionellen Antisemitismus bedient.

Werfen wir an dieser Stelle einen nüchternen Blick auf einige Äußerungen Augsteins. Sie sind alle den Artikeln der letzten Monate entnommen (Nummerierung von mir):

1) "Mit der ganzen Rückendeckung aus den USA, wo ein Präsident sich vor den Wahlen immer noch die Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen sichern muss, und aus Deutschland, wo Geschichtsbewältigung inzwischen eine militärische Komponente hat, führt die Regierung Netanjahu die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs."

2) "[W]enn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen."

3) "Diese Leute [ultraorthodoxe Juden] sind aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihre islamistischen Gegner. Sie folgen dem Gesetz der Rache."

4) "Gaza ist ein Gefängnis. Ein Lager."

Nun wird man schwerlich bestreiten können, dass der den Aussagen 1) und 2) innewohnende Grundgedanke ist, Deutschland und die USA bekämen ihre politischen Entscheidungen von Israel bzw. jüdischen Lobbygruppen diktiert. Wie die Augstein-Verteidiger hier zu der Ansicht gelangen können, wesentliche Elemente der klassischen antisemitischen Verschwörungstheorie seien nicht vorhanden, bleibt schleierhaft. Wahrscheinlich ist, dass die meisten, die sich derzeit für Augstein ins Zeug legen, diese Passage entweder gar nicht oder zumindest nicht aufmerksam und bewusst gelesen haben. "Juden haben zu viel Einfluss auf die öffentliche Meinung in diesem Land" ist übrigens ein Item, das die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrer 2012 erschienenen Rechtsextremismusstudie verwendete, um Zustimmung zu antisemitischen Aussagen zu erfassen. Augsteins Formulierung weicht (sinngemäß) allenfalls graduell davon ab.

Aussage 3) setzt ultraorthodoxe Juden, unter denen tatsächlich hochproblematische Einstellungen verbreitet sind, mit gewaltbereiten Islamisten gleich. Bloß: Die Ultraorthodoxen werfen keine Bomben, sind ja noch nicht einmal zum Militärdienst bereit. Bei aller berechtigten Kritik an ultrareligiösen Gruppierungen in Israel: Hier brennen Augstein die Sicherungen durch, und man darf sich fragen, was dahinter steckt.

Augsteins Aussage 4), wonach Gaza ein "Lager" sei, schafft eine begriffliche Parallele zur NS-Zeit, was entweder beabsichtigt ist oder günstigsten Falls eine unbewusste Entgleisung darstellt. Die Aussage hätte natürlich ihre Berechtigung, wenn Gaza wirklich ein Lager wäre. Aber in diesem "Lager" kann man frisches Obst und Gemüse auf dem Markt kaufen, die Kindersterblichkeit ist geringer als in der Türkei und und in Ägypten, die Bevölkerungsdichte keineswegs höher als die so mancher europäischer Großstadt. Wenn Augstein wirklich kein Antisemit ist - warum, so sollte man fragen, entscheidet er sich dann für eine Wortwahl, die den Antisemiten der Welt in die Hände spielt? Warum wälzt sich der Nicht-Antisemit geradezu in antisemitischen Klischees, stets mit der Entschuldigung versehen, sie seien ja nicht auf die Juden, sondern nur auf Israel bezogen (als ob sie dadurch weniger antisemitisch würden)?

All diese Sätze wollen Augsteins Fürsprecher also gelesen haben und zu dem Ergebnis gekommen sein, keinen Antisemitismus vorfinden zu können. Nun ja! Die Wahrheit dürfte wohl sein: Statt sich über Augsteins Aussagen ein Bild von Augstein selbst zu machen (wie es eigentlich sein sollte), existiert bei diesen Damen und Herren bereits ein vorgefertigtes Bild von Augstein als netter, linker, kritischer, moderner Mann, und nur vor dem Hintergrund dieses positiv gezeichneten Bildes werden seines Aussagen gelesen, um nicht zu sagen verzerrt. Kämen Augsteins Sätze nicht von ihm, sondern von jemand anderem - beispielsweise von einer jener Personen, die in den letzten Jahren aufgrund umstrittener Aussagen in der Presse viel Negativkritik erfahren hat - die Reaktion wäre sicherlich auch eine ganz andere. Aber die oftmals linken Akteure im Feuilleton wollen sich nicht mit linkem Antisemitismus beschäftigen - der Feind soll anderswo sein, aber bitte nicht in unserem Umfeld.

Abschließend würde ich gerne Jakob Augsteins Verteidigern eine kleine Hausaufgabe erteilen: Vergleichen Sie doch einmal die Aussagen, die Augstein über Israel macht, mit denen von Jürgen Möllemann - und sagen Sie uns dann, ob Unterschiede oder nicht vielleicht doch eher Gemeinsamkeiten überwiegen.

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