Jack London – Der Seewolf

Jack London – Der Seewolf

Jack London liebte das Leben. Er war Schriftsteller, Abenteurer, Weltenbummler, Journalist und Sozialist. Er wurde 1876 in San Francisco in ärmliche Verhältnisse geboren, machte nie einen Schulabschluss und musste bereits als Kind demütigende, schlecht bezahlte Jobs annehmen, um Geld zu verdienen. Als er sich mit Anfang 20 der Literatur zuwandte, geschah dies nicht nur, weil er darin seine Berufung vermutete, sondern auch, weil er die Schriftstellerei als Weg aus der Armut interpretierte. Er behielt Recht. Jack London war einer der ersten Autor_innen, die weltweiten Ruhm erlangten und sich selbst als Marke inszenierten. Zu Lebzeiten galt er als der höchstbezahlte Schriftsteller in den USA. Er war gleichermaßen Mann der Tat wie autodidaktischer Intellektueller, jemand, der ebenso viel Freude aus Boxkämpfen schöpfte wie aus politischen Diskussionen. Seine Interessen waren weitgefächert und als er 1916 viel zu früh im Alter von 40 Jahren verstarb, hatte er etwa 200 Kurzgeschichten, 400 Werke der Non-Fiction (darunter Essays, Kriegsreportagen und ein Augenzeugenbericht des großen Erdbebens in San Francisco in 1906) und 20 Romane verfasst. Er war ein literarischer Rockstar, lange bevor der Begriff „Bestsellerautor" geprägt wurde.

„Der Seewolf" ist einer der bekanntesten Romane von Jack London. Das Buch erschien 1904; die erste Auflage umfasste 40.000 Exemplare und war bereits vor der Veröffentlichung restlos ausverkauft. Die Geschichte geht auf Londons eigene Erfahrungen auf See zurück. 1893, mit gerade einmal 17 Jahren, heuerte er auf dem Robbenfänger Sophie Sutherland an, der eine siebenmonatige Reise über das Beringmeer bis nach Japan unternahm. Obwohl er eigentlich zwei Jahre zu jung für die Seefahrt war, fügte er sich dank eiserner Disziplin und beispiellosem Arbeitseifer gut in die Besatzung ein und wurde bald von seinen Kameraden akzeptiert. Viele Abenteuer erlebte er an Bord nicht; sein Kapitän war ein alter Mann, der seine Crew vermutlich milde und freundlich behandelte. In Londons autobiografischem Werk „König Alkohol" beschreibt er hauptsächlich Erinnerungen, die mit Alkoholexzessen während der Landgänge zu tun haben. Dennoch gab es eine Erfahrung, die ihn nachhaltig beeinflusste. In einem Taifun wurde ihm das Ruder überlassen. Fast eine Stunde lang steuerte er das Schiff allein durch die unbezwingbaren Naturgewalten der aufgepeitschten See. Das Schicksal der gesamten Besatzung lag in seinen Händen. Später sprach er darüber als „Moment höchsten Lebens" und beurteilte ihn als die „wahrscheinlich stolzeste Errungenschaft meines Lebens".

Soweit ich es verstanden habe, spielte Jack London lange mit dem Gedanken, seine Zeit auf der Sophie Sutherland eines Tages literarisch zu verarbeiten. Als er 1903 begann, „Der Seewolf" zu schreiben, war er allerdings bereits ein gefeierter Schriftsteller und fühlte sich zu Höherem berufen, als nur einen simplen Reisebericht zu verfassen. Er plante einen richtigen Seefahrtsroman „mit Abenteuern, Sturm, Kampf, Tragödie und Liebe" und beschloss, seine persönlichen Erlebnisse lediglich als Basis zu nutzen. Stattdessen wollte er sich primär mit einem Thema auseinandersetzen, das ihn faszinierte: Nietzsches Theorie des Übermenschen. Leider konnte er seine Erinnerungen an seinen eigenen Kapitän auf der Sophie Sutherland nicht verwenden, denn dieser entsprach wohl ganz und gar nicht Nietzsches Ideal. Daher bediente er sich einer anderen Person aus seiner Vergangenheit. Jahre zuvor hatte er in Oakland in einer Kneipe namens Heinold's First and Last Chance (heute trägt das Etablissement den inoffiziellen Beinamen Jack London's Rendezvous) den Kapitän Alexander MacLean (manchmal auch McLean) kennengelernt. MacLean segelte meist im Nordwestpazifik und galt auf See als äußerst grausam. Er wurde zum Vorbild für Londons Übermenschen, den er mit seinem personifizierten Gegenteil konfrontierte, einem sensiblen Schöngeist. Es galt, herauszufinden, wie diese gegensätzlichen Figuren aufeinander reagierten, welche Beziehung sich zwischen ihnen entwickeln würde - Fragen, denen Jack London mit Leidenschaft nachspürte. Das Ergebnis ist „Der Seewolf", ein Klassiker und einer der ersten kommerziellen Bestseller der Literaturgeschichte.

Mit lautem Krachen und Bersten versank die Fähre, die Humphrey van Weyden nach Hause bringen sollte, in der Bucht von San Francisco. Wie lange er in den eisigen Fluten trieb, weiß er nicht. Als sich ein Schiff aus dem Nebel schälte, wähnte er sich gerettet. Doch die Ghost ist nicht die Antwort auf seine Gebete. Der Kapitän Wolf Larsen, ein brutaler, unbeugsamer Mann, weigert sich, Humphrey an Land abzusetzen. Unter dem Vorwand, der verweichlichten Statur und Persönlichkeit des jungen Gentlemans einen Gefallen zu erweisen, presst er ihn in seine Dienste. Fortan muss Humphrey auf dem Robbenfänger schuften. Er lernt Larsen fürchten und hassen, aber er entdeckt auch, dass der Kapitän über den Geist eines Gelehrten verfügt. Sie beginnen einen Tanz über die Weltmeere, ein Duell des Willens im stetigen Remis. Erst, als Humphrey daran erinnert wird, wer er war, erkennt er, was ihm bisher verborgen blieb: nur ein Weg führt an Wolf Larsen vorbei und zurück in sein Leben.

Liest man einen Klassiker, sollte man niemals vergessen, in welcher Zeit er entstand. 1904 war „Der Seewolf" vermutlich der Inbegriff eines packenden Abenteuerromans. Nach heutigen Maßstäben ist das Actionlevel hingegen eher zahm, weil die Handlung nur wenige Momente enthält, die an den Nerven des modernen, abgestumpfteren Publikums zerren. Der Alltag des Robbenfängers Ghost spielt sich meist hintergründig ab, wodurch Szenen, die die Gefahren der Jagd thematisieren, wie sie zum Beispiel in „Moby-Dick" zu finden sind, vollständig fehlen. Ich bedauerte das nicht, denn ich musste die blutigen Details des Robbenschlachtens auf hoher See nicht unbedingt kennenlernen. Allerdings verzichtete Jack London dadurch auf den ungeheuren Wissenszuwachs, der „Moby-Dick" auszeichnet. Tatsächlich haben die Romane bis auf den Umstand, dass sie beide auf einem Schiff verortet sind, kaum etwas gemein, obwohl London Herman Melvilles bombastisches Epos las, als er auf der Sophie Sutherland segelte. „Der Seewolf" behandelt nicht den Kampf des Individuums mit den Abgründen der Seele, symbolisiert durch die obsessive Jagd auf ein dämonisiertes Tier, sondern den Konflikt unterschiedlicher Lebensauffassungen. Deshalb war es für Jack London von höherer Bedeutung, eine solide Verbindung zwischen seinen Leser_innen und seinen Figuren herzustellen. Er musste Nahbarkeit garantieren, ihnen ermöglichen, sich in die Charaktere hineinzuversetzen, um die Botschaft seiner Geschichte transportieren zu können. Daraus folgt, dass „Der Seewolf" meiner Ansicht nach wesentlich leichter zu lesen ist und ich applaudiere London dafür, wie es ihm gelang, von der ersten Seite an Empathie für seinen Ich-Erzähler Humphrey van Weyden zu wecken.

Bei der Vorstellung, nach einem traumatischen Erlebnis wie einem Schiffbruch nicht nach Hause zu dürfen und stattdessen zur Zwangsarbeit verpflichtet zu werden, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich konnte voll und ganz nachvollziehen, wie perplex Humphrey ist, als Wolf Larsen es ablehnt, ihn wieder gehen zu lassen. Das unerwartete, rüde und grobe Verhalten des Kapitäns widerspricht all den unausgesprochenen Regeln, die sich die sogenannte zivilisierte Gesellschaft aneignete, um ein friedliches Miteinander zu gewährleisten. Humphreys Sozialisierung in gehobenen Kreisen, die der heutigen gesellschaftlichen Konditionierung sehr ähnlich ist, hindert ihn daran, sich in dieser ersten Konfrontation zu behaupten. Ich denke, ich hätte mich an seiner Stelle genauso gefühlt. Er ist hilflos, weiß nicht, wie er reagieren soll und legt dadurch den Grundstein für seine spätere paradoxe und komplexe Beziehung zu Larsen, die den Mittelpunkt des Buches darstellt. Das heißt nicht, dass ich dem Kapitän in seiner Auffassung, dass Humphrey zum Zeitpunkt ihres Aufeinandertreffens allein kaum lebensfähig ist, nicht zustimme. Der Schöngeist ist zweifellos jemand, der von der Erfahrung harter Arbeit profitiert, weil er bis zu diesem Tag niemals auf eigenen Füßen stand und von Beruf Sohn war. Dennoch gruselte ich mich vor Larsens strikter Weigerung, Humphrey an Land abzusetzen, denn dieses Szenario erschien mir durchaus realistisch. Unwahrscheinlich, ja. Haarsträubend, ganz sicher. Aber absolut denkbar. Wer weiß schon, wie viele Schiffbrüchige in Erwartung ihrer Rettung in den Dienst gepresst wurden und vielleicht noch immer werden?

Innerhalb weniger Augenblicke steckte Jack London somit die Fronten zwischen seinen Protagonisten Humphrey van Weyden und Wolf Larsen ab, stellte der Zivilisation die Barbarei gegenüber und gewährte einen ersten Eindruck der Persönlichkeit des Kapitäns. Das Konfliktpotential zwischen ihnen ist von Beginn an ein Fakt der Geschichte, doch London begnügte sich nicht damit, ihre Gegensätzlichkeit zu untersuchen. Kompliziert wird ihr Verhältnis nicht durch ihre Unterschiede, sondern durch ihre Gemeinsamkeiten. Humphrey erkennt recht bald, dass die piratenhafte Attitüde seines Peinigers Ausdruck eines äußerst wachen, ideologisch gefestigten Verstandes ist, der sich Nietzsches Idee des Übermenschen verschrieb. Wolf Larsen ist kein ungebildeter Rüpel; er unterrichtete sich selbst in Literatur, Geschichte und Philosophie, ist eloquent, fähig, überzeugend zu debattieren und hat unverkennbar Freude an einem guten Streitgespräch. Seiner Weltanschauung zufolge ordnet der ideale Mensch dem puren Lebenswillen alles unter, auch Moral und Ethik. Es ist ein beunruhigender Gedanke, dass seine Grausamkeit, die Leser_innen immer wieder miterleben, demzufolge kein Akt der Willkür ist, kein Zeichen eines ungezügelten Temperaments. Die Brutalität, mit der er seine Besatzung behandelt, ist berechnet und wohl kalkuliert, um sich als dominante Spezies im Mikrokosmos der Ghost durchzusetzen. Larsen genießt es, systematisch seine Überlegenheit zu demonstrieren und sieht sich durch seine philosophischen Glaubensgrundsätze im Recht. Ich empfand seine Argumentation zweifellos als schlüssig, fragte mich allerdings, ob er diese Lebensphilosophie lediglich wählte, weil sie seine persönliche Lebensrealität widerspiegelt und er darin eine Legitimation seines Wesens fand. Statt ehrlich zu reflektieren, was er glaubt, verkörpert er eine Ansicht, die mir aus seiner Situation heraus allzu bequem anmutete.

Humphrey entdeckt in Larsen einen anregenden Gesprächspartner. Der Kapitän ringt ihm Respekt und Bewunderung ab, denn Humphrey kann dessen autodidaktische Bemühungen, Neugier und Lebenshunger nicht übergehen. Er fürchtet ihn, hasst ihn sogar und lässt keine Gelegenheit aus, ihm intellektuell Kontra zu bieten, aber er kann nicht leugnen, dass ihn Larsen einerseits beeindruckt und dessen ideologische Position andererseits an Bord der Ghost eine gewisse Gültigkeit aufweist, was er am eigenen Leib erfährt. Je länger sich Humphrey auf dem Robbenfänger aufhält, desto besser richtet er sich in seiner Beziehung zu Larsen und als Teil der Crew ein, sodass mich irgendwann die Ahnung beschlich, dass er ohne äußeren Katalysator einfach dortgeblieben wäre. Aus einem nutzlosen, arbeitsscheuen, weichen und erschreckend unselbstständigen Dandy wird ein echter Seemann, der in der Hierarchie der Mannschaft immer weiter aufsteigt, Fähigkeiten erlernt, die er sich niemals zugetraut hätte (ähnlich wie sein literarischer Vater steuert auch er das Schiff an einem Punkt der Handlung allein durch einen Sturm) und für sich selbst einstehen kann. Am Ende von „Der Seewolf" verdankt er Wolf Larsen sehr viel, obwohl es ihm nie gelingt, seine Angst vor ihm gänzlich abzulegen. Jack London ließ Humphrey und seine Auffassung von Liebe als treibende soziale Kraft über die animalische Weltsicht des Kapitäns triumphieren, aber es ist ein Sieg, der einen melancholischen Nachgeschmack hinterlässt und wenig Befriedigung bereithält. Humphrey überflügelt Larsen nicht als der Repräsentant der friedlichen Zivilisation, der er anfangs war. Er übertrifft ihn als Geschöpf, an dessen Entstehung Larsen maßgeblich beteiligt war. Ohne Larsen wäre er nicht in eine Lage geraten, in der er zu einem Mann werden musste, der fähig ist, Larsen zu überwinden. Doch diese Metamorphose kann ihm niemand mehr nehmen.

Es ist eine komplexe Wechselwirkung, die sich zwischen Humphrey und Larsen abspielt, die sicher eine Analyse im Umfang einer Doktorarbeit rechtfertigen würde. Ich bin weit davon entfernt, hier eine Dissertation verfassen zu wollen, möchte aber dennoch meine laienhafte Einschätzung von Jack Londons Intention zum Besten geben. Ich glaube, Jack London bildete symbolisch den ewigen Kampf zweier Triebfedern ab, die beinahe jeder Mensch in der Brust trägt: das Ringen zwischen dem animalischen Egoismus des Lebenswillens und den anerzogenen Verhaltensweisen der Zivilisation, ein Konflikt, der im Kleinen beginnt und sich im Großen fortsetzt. Wann immer wir den Impuls verspüren, unsere Dominanz zu demonstrieren, um das zu schützen, was wir als „unser" betrachten, hebt Wolf Larsen in unseren Herzen den Kopf. Wann immer wir uns daran erinnern, dass unsere gesellschaftliche Gemeinschaft nur funktionieren kann, wenn wir Liebe über Egoismus stellen, winkt uns der ursprüngliche Humphrey van Weyden zu. Letztendlich sind wir weder das eine noch das andere. Wir alle sind Humphrey van Weyden am Schluss von „Der Seewolf": Seelen, die täglich versuchen, beide Triebfedern auszubalancieren, um ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben zu führen.

„Der Seewolf" war anders, als ich erwartet hatte. Ich bin davon ausgegangen, eine gradlinige Seefahrtsgeschichte vorzufinden, die ohne großen Tiefgang spektakuläre Abenteuer auf den Weiten der Ozeane schildert. Ein bisschen wie Moby-Dick light" - aufregend, aber banal, reine Unterhaltungsliteratur des frühen 20. Jahrhunderts. Ich habe Jack London eindeutig gewaltig unterschätzt. „Der Seewolf" ist tatsächlich eine Mischung aus Seefahrts- und Abenteuerroman, doch ich irrte mich hinsichtlich der Natur des dargebotenen Abenteuers. Das Abenteuer besteht nicht in der Reise des Ich-Erzählers Humphrey von Weyden, die zwar durchaus von ihm verlangt, den Gefahren des Meeres zu trotzen und so manchen mitreißenden Augenblick initiiert. In Wahrheit besteht das Abenteuer jedoch in seiner Transformation, die er durch diese unfreiwillige Reise erfährt. Der Fokus ist demzufolge anders ausgerichtet, als ich angenommen hatte. Für mich war es eine interessante, stellenweise sogar faszinierende Lektüre, deren Spannungsmomente allerdings meist von der Dynamik zwischen Humphrey und seinem Kapitän Wolf Larsen ausgingen, seltener von den Herausforderungen der Schifffahrt. Inhaltlich ist es ein träges Buch, charakterlich ist es exzellent. Londons Porträt zweier gegensätzlicher Lebensauffassungen, die unter außergewöhnlichen Umständen aufeinanderprallen und fortan eine andauernde Konfrontation ausfechten, beeindruckte mich sehr. Wie eingangs erwähnt war Jack London vieles. Ein seichter Schriftsteller war er hingegen nicht.


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