“Perhaps all the dragons. Horror Vacui (#3)” ist eine performative Installation, die mehr verunsichert als unterhält. Die Wiener Festwochen luden die Gruppe BERLIN nach Wien, um das Publikum hier mit Geschichten zu versorgen, die stimmen können, oder auch nicht.
Im Plastikersaal der Künstlerhauses ist eine Art Round-Table aufgebaut. Elliptisch, nicht rund und die Sessel sind so angebracht, dass die Sitzenden voneinander wegsehen, nicht zueinander wie sonst üblich. Sie sitzen gegenüber großen, schlanken, hochkant gestellten Bildschirmen und warten auf das, was kommt.
„Perhaps all the dragons. Horror Vacui (#3) nennt sich eine performative Installation der Gruppe BERLIN von Bart Baele und Yves Degryse. Anlässlich der Wiener Festwochen 2015 wird das Publikum eingeladen, 5 von insgesamt 30 Geschichten zu verfolgen. Geschichten, die von je einer Person erzählt werden. Alle Geschichten sind gleich lang und folgen einer bestimmten Dramaturgie. Das bemerkt man aber erst nach einer kleinen Weile.
Meine erste Geschichte handelt von einer gehörlosen Frau. Eigentlich sind es zwei Geschichten, denn sie hört einem Mann zu. Einem Mathematiker, der die perfekte Formel für die perfekte Liebe errechnet hat. Während er erzählt, kann ich sie im Halbprofil sehen. Ihre Reaktionen auf seine Stimme spiegelt sich in ihrem Gesicht wieder. Nach wenigen Minuten fällt mir auf, dass der Mann, der mit ihr spricht, am Nebenschirm, also bei meinem Sitznachbar zu sehen ist. So bekomme ich zwei zum Preis von einem geliefert, denke ich mir. Nach Beendigung der Erzählung folge ich der Anweisung vom Bildschirm und fingere mir einen kleinen Briefumschlag unter dem Pult hervor. In ihm finden sich Hinweise, zu welchen Platznummern ich weitergehen soll. Auch alle weiteren vier sind hier angeführt, also heißt es gut darauf achtgeben, nicht verlieren. Der Wanderzirkus beginnt.
Eine kleine Melodie begleitet die 30 Personen, die sich nun kreuz und quer auf die Suche nach ihrem neuen Platz machen. Und als alle sitzen, mache ich Bekanntschaft mit einem Holländer, der von der Vorbereitung zur Bergung eines russischen U-Bootes erzählt. Und vor allem von den vorangegangenen absurden Verhandlungen. Plötzlich wird sein Redeschwall unterbrochen. Eine Opernsängerin, die auf dem Bildschirm hinter mir zu sehen ist, beginnt ganz laut eine Arie aus Carmen zu singen. Alle drehen sich dorthin um, inklusive jener, die nur virtuell am Bildschirm vorhanden sind. Abermals erklingt die Musik, Zeit zum Weiterwandern.
So lerne ich an diesem Abend noch die Geschichte einer Japanerin kennen, die seit 10 Jahren ihr Zimmer nicht mehr verlassen hat. Ein russischer Sozialpsychologe erzählt mir von der Theorie, dass jeder beliebige Mensch auf dieser Erde und sei er auch noch so weit entfernt, über sechs Schritte von mir aus zu kontaktieren sei. Aber nicht nur er tut dies. Während er diese Theorie erzählt, bemerke ich, wie auch alle anderen Gefilmten dieselbe Geschichte mit kleinen Abwandlungen zum Besten geben. Ein Junge, der laut zu schreien beginnt, lenkt abermals die Aufmerksamkeit aller auf sich. Die letzte Geschichte erzählt mir ein Neurologe. Er berichtet von einem Mann, dem nach einer Operation nur mehr das Kurzzeitgedächtnis blieb.
Als Journalistin bin ich gewohnt, ein Auge für das Rundherum zu haben. Nicht nur für das, was gerade in meinem engeren Fokus ist. Uns so fällt mir auf, dass die Menschen vor den Schirmen regelrecht fasziniert sind. Sie sehen weder rechts noch links, manche bemerken auch nicht, dass zwei nebeneinanderliegende Geschichten miteinander korrespondieren. Ich registriere, dass an einem gewissen Punkt den Protagonisten, die mit uns sprechen, Tee oder Kaffee serviert wird. Und mir schwant so manches. Es schleicht sich das Gefühl ein, hier ginge etwas nicht mit rechten Dingen zu. Was ist hier Fake, was stimmt? Wo befinden sich die Interviewten, warum sind alle Interviews exakt gleich lang? Welche Regie wurde geführt, um alle zur selben Zeit in die selbe Richtung blicken zu lassen?
Ok. Langsam dämmert mir die Ausgangssituation. Noch weiß ich aber nicht, dass ich am Ende ein Kärtchen in die Hand gedrückt bekomme, auf dem erklärt wird, dass von den 30 Geschichten 29 wahr sind. Das bedeutet, eine ist falsch. Aber welche? Und: Nachdem es sich um ein Kunstprojekt handelt, wer sagt, dass nicht alle 30 erfunden sind? Gut recherchiert, zusammengewürfelt, geschrieben? Die anfängliche Faszination mit der ich den ersten beiden Geschichten lauschte, ist verschwunden. Eine große Portion Skepsis hat eingesetzt. So ist das also mit der medialen Manipulation. Jetzt erlebe ich diese ganz bewusst, spüre, wie sie sich anfühlt. Und tatsächlich, am Ende der letzten Geschichte zoomt die Kamera weiter weg, vergrößert den Bildausschnitt. Ich kann erkennen, auch wenn ich mich umschaue, dass alle Geschichten in einem Studio gedreht wurden. Der rote Teppich am Boden macht dies besonders deutlich. Die unterschiedlichen Requisiten erweckten nur den Anschein unterschiedlicher locations.
Also alles erlogen? Ein Spiel, das vorgibt real zu sein? Mit Menschen spielt, die glauben, Geschichten zu hören von Menschen, die diese vermeintlich erlebt haben? Oder alles eine einzige, intelligente Inszenierung, der man je nach persönlicher Disposition mehr oder weniger auf den Leim geht? Am Ende singen alle gefilmten Personen ein Abschiedslied, stehen von ihren Stühlen auf und verbeugen sich. Ganz so, wie man es aus dem Theater kennt. Und ganz so wird auch applaudiert. Ich schaue verwundert um mich. Tatsächlich, die Menschen im Saal applaudieren jenen, die gerade vor ihnen auf den Bildschirmen noch zu sehen sind. Und sie verlassen den Saal nicht diskutierend. Eher in sich gekehrt, den Geschichten, die sie gerade gehört haben, in ihrem Inneren nachlauschend.
BERLIN produziert seit 10 Jahren – so steht es zumindest im Programmheft – unterschiedliche Projekte. „Perhaps all the dragons. Horror Vacui (#3)“ wurde klugerweise, wenn ich richtig gezählt habe, von 10 Kulturinstitutionen koproduziert und erlebte 2014 in Hamburg seine Uraufführung. Es könnte ein Projekt werden, mit dem man vor allem jungen Menschen, die ihre Informationen ohne Hinterfragen aus dem Netz ziehen, darauf aufmerksam machen kann, wie manipulativ diese Informationen gestaltet werden können.
Es gibt ein Sprichwort, das man Kindern, wenn sie ins Alter kommen in dem sie entdecken, dass man sich die Welt durch Unwahrheiten gut zurechtbiegen kann, aufsagt: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht. Der schale Beigeschmack, jemandem auf den Leim gegangen zu sein, bleibt nach dieser Session. Aber er führt schließlich auch dazu, dass ich mir vornehmen, meine eigenen Sinne noch stärker im Hinblick auf Medienkritik zu schärfen. So gesehen ist das Experiment gelungen. Auch wenn ich nicht geklatscht habe.