Italo's Rückkehr

Von Momstagebuch

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Bianca, Marco und ich wohnten immer noch in der 3-Zimmer-Dachgeschosswohnung, die der Versicherungsgesellschaft gehörte, bei der ich einmal gearbeitet hatte. Nach meiner Kündigung ließ man mich - obwohl ich keine Betriebsangehörige mehr war - mit meinen Kindern dort weiterhin wohnen, das spricht für das soziale Gewissen dieser Firma und ich bin heute noch dankbar dafür.
Wir hatten ganze 55m², verteilt auf 3 Zimmer, Küche und Bad zur Verfügung. Nicht viel für 3 Personen, aber uns reichte es. Jedes der Kinder hatte sein eigenes Zimmer, das war mir immer wichtig, daher schlief ich auf der Couch. Das mache ich heute noch. Mein Jüngster und ich leben in einer 2-Zimmer-Wohnung, da geht es auch gar nicht anders.
So eine kleine und günstige Wohnung schwebte auch Italo vor, in Stuttgart wenn möglich. Damals gabs noch kein Internet, von dem er auch von Italien aus selbst hätte recherchieren können. Daher brauchte er jemanden vor Ort, und das war ich. Ich studierte die Vermietungsseiten der Zeitungen, aber es gestaltete sich als äußerst schwierig, eine Wohnung für einen alleinstehenden Mann zu bekommen, der aus Italien zureisen wollte. Die meisten Vermieter waren skeptisch und lehnten von vorneherein ab.
Italo hatte bereits seine Arbeit in Cremona gekündigt, der Countdown lief, noch 8 Wochen, noch 6 Wochen, noch 4 Wochen, bis er hier wäre... so langsam wurde ich nervös. Wie sollte das funktionieren? Ich fand keine Wohnung für ihn. Wo sollte er unterkommen, wenn  nicht doch noch ein Wunder geschehen und er doch noch kurzfristig eine Wohnung bekommen würde? Ich sprach mit ihm darüber. Ich schlug ihm vor, erst mal bei seinen Eltern in der Nähe von Bietigheim-Bissingen unterzukommen. Das lehnte er aus zwei Gründen kategorisch ab: erstens wollte er nie wieder mit seinem Vater Stellio unter einem Dach wohnen (was ich verstehen konnte nach dem was er in seiner Kindheit erleben musste, siehe HIER) und zweitens war ihm Bietigheim-Bissingen zu weit von Stuttgart weg. In Stuttgart gab es mehr Arbeitsplätze, er rechnete sich weitaus mehr Chancen aus, in Stuttgart eine Arbeit zu finden als in Bietigheim-Bissingen. Und in Stuttgart gab es nur eine einzige Person, bei der er vorübergehend unterkommen könnte... diese Person war ich. "Nein! Niemals!" dachte ich. "Das wird nie gut gehen! Das möchte ich nicht!" Ich liebte Italo schon seit langer Zeit nicht mehr, er trank wieder Alkohol, wenngleich auch in Maßen im Vergleich zu früher, ich wollte ihn einfach nicht so nahe bei mir haben, auch nicht vorübergehend.
Doch da waren noch die Kinder. Für sie wäre es sicher eine schöne Sache, wenn sie zumindest zeitweise mit ihrem Vater unter einem Dach wohnen könnten. Ich erinnerte mich an Biancas Aussage an ihrer Erstkommunion vor der ganzen Festgemeinde, als sie sagte, ihr größter Wunsch wäre es, wenn ihr Vater wieder bei uns sein würde und sie wieder eine richtige Familie hätte. Jetzt wäre die Chance da, ihr zumindest temporär diesen Wunsch zu erfüllen. Klar, wir würden zusammen rücken müssen. Eines der Kinder würde sein Zimmer hergeben müssen, in dem Italo vorübergehend einziehen würde, die beiden müssten sich für die Dauer von Italo's Aufenthalt ein Zimmer teilen, denn ich würde auf gar keinen Fall in ein und demselben Zimmer schlafen wie er.
Oft sprach ich mit Italo darüber, versuchte mit Engelszungen, ihn zu überreden, bei seinen Eltern oder einem seiner Geschwister unter zu kommen, doch es kam immer mehr heraus, dass er zu uns wollte und keinen Gedanken daran verschwendete, bei seiner Familie vorübergehend sein Domizil aufzuschlagen.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr war ich davon überzeugt, dass es vielleicht für die Kinder wichtig und schön sein könnte, diese Erfahrung zu machen. Sie kannten ihren Vater ja eigentlich nur als den gutgelaunten "Ferienpapa", sie sahen ihn ja nur in den Ferien, wenn ich mit ihnen nach Italien fuhr.
Also sprach ich mit Italo darüber und vereinbarte mit ihm, dass er vorübergehend (für max. 3 Monate) bei uns einziehen könne, wenn er sich an folgende Regeln hielt:

- kein übermäßiger Alkoholgenuss in meiner Wohnung
- keine Gewalt
- keine Streitereien vor den Kindern
- er müsse sich bemühen, so schnell wie möglich eine Arbeit und eine Wohnung für sich zu finden
- er müsse sich an den Kosten (Miete, Nebenkosten, Lebensmittel) anteilig beteiligen
Erst als er sich damit einverstanden erklärte, sprach ich mit den Kindern darüber.
Bianca war selig. Sie fiel mir um den Hals und weinte vor lauter Freude. Auch Marco freute sich, wenngleich er keine so enge Beziehung zu seinem Vater hatte wie seine Schwester.
Ich machte den Kindern unmissverständlich klar, dass ihr Vater nur vorübergehend bei uns einziehen würde, er aber künftig immer in ihrer Nähe sein werde, da er sich in Stuttgart eine Arbeit und eine Wohnung suchen würde.
Heute weiss ich, dass die Kinder das zwar gehört hatten, aber ganz andere Hoffnungen und Wünsche damit verknüpften. Zu diesem Zeitpunkt hofften sie noch, dass ihr Vater und ich uns wieder näher kommen würden und wir dann wieder eine Familie sein würden.
Der Tag X kam, der Tag von Italo's Ankunft in Stuttgart. Gegen Abend klingelte er an unserer Wohnungstüre und zog mit Sack und Pack in Marco's Zimmer ein.
Was für eine Freude für die Kinder! Ihren Vater nun für immer in der Nähe zu haben war eine wunderschöne Aussicht für sie. Ich stand da und freute mich für sie, doch das war auch alles. In mir sträubte sich immer noch einiges gegen meine Entscheidung, Italo bei uns einziehen zu lassen. Nach der Vergangenheit, die ich mit ihm hatte, ist das auch sicher verständlich.
Ich hatte für uns alle ein leckeres Abendessen gekocht und so aßen wir gemeinsam gemütlich zu Abend, danach belagerten die Kinder Italo und ich zog mich in die Küche zurück.
"Lieber Gott, lass alles gut gehen!" betete ich, "lass mich keinen Fehler gemacht haben!"
Die nächsten Tage verliefen ruhig und in Harmonie. Ich war arbeiten und Italo war zuhause, das war auch eine neue Erfahrung für mich. Ich konnte in Ruhe zur Arbeit gehen, konnte Feierabend machen, wann immer ich wollte, die Kinder waren währenddessen in der Obhut ihres Vaters. Anfangs kümmerte er sich ganz gut um sie, sorgte dafür, dass sie Essen hatten und war anwesend.
Aber auf die Idee, dass er mal was mit den Kindern unternehmen könnte, kam Italo nicht. Er verzog sich meist in sein Zimmer und schaute fern, den ganzen Tag. Ich sah ihn zum Essen oder wenn er das Zimmer verließ, ansonsten begegneten wir uns kaum in der kleinen Wohnung.
Nach einer Woche erinnerte ich ihn dran, dass er jetzt mal anfangen müsse, sich eine Arbeit und eine Wohnung zu suchen. "Nur mit der Ruhe!" meinte er. "Nächste Woche fange ich damit an!"
Aus der nächsten Woche wurde die übernächste Woche, dann der nächste Monat. Ich kann nicht behaupten, dass Italo gar nichts gemacht hätte. Er holte sich samstags die Zeitung und studierte die Stellenanzeigen und die Vermietungsangebote, doch an allem gab es etwas auszusetzen. Diese Arbeit war zu weit weg, entsprach vom Aufgabengebiet nicht seinen Vorstellungen, die Firma war ihm zu klein oder zu groß oder er hatte schon mal Schlechtes gehört...und bei der Wohnungssuche waren die Wohnungen entweder zu teuer, zu groß oder zu klein, befanden sich im nicht akzeptablen Erdgeschoss oder im 5. Stock, waren in einem Stadtteil, in den er auf gar keinen Fall ziehen würde...kurz: er fand an allem etwas auszusetzen, nichts war ihm gut genug.
So ging das wochen-, nein, monatelang. Italo hielt sich an die Regeln, trank nicht übermäßig Alkohol, stritt nicht mit mir, war nicht gewalttätig und beteiligte sich an den Unkosten.. Doch ich musste ihn immer wieder daran erinnern, dass wir 3 Monate vereinbart hatten, die er bei uns maximal verbringen sollte. "Und was willst Du tun, wenn ich bis zum Ende der 3 Monate keinen Job und keine Wohnung gefunden habe? Wirst Du mich dann auf die Straße setzen? Denk an die Kinder!" sagte er mir immer wieder, wenn ich ihn frustriert darauf ansprach, dass er noch nicht mal ein Bewerbungsgespräch geführt hätte. So ein Mist! Da hatte er meinen wunden Punkt getroffen! Wenn ich ihn nach 3 Monaten rauswerfen würde, dann wäre ich die Buhfrau für meine Kinder, soviel war klar. Ich wäre die Böse, die ihren Vater rauswarf und damit die Familie zerstörte.
So gab ich zähneknirschend nach. Aus den vereinbarten 3 Monaten wurden 4 Monate, 5 Monate, 6 Monate...
In der Zwischenzeit veränderte sich aber auch die Einstellung der Kinder zu ihrem Vater. Sie hatten sich das alles auch anders vorgestellt. Ja, er war nun da, lebte sogar mit ihnen in einer Wohnung, aber er kümmerte sich kaum um sie. Wie gesagt, er verzog sich den ganzen Tag in sein Zimmer und schaute fern. Er war sogar genervt, wenn eines der Kinder ihn mal störte und fragte, ob er mit ihnen etwas spielen wolle.
So schlichen sie immer an seinem Zimmer vorbei und waren - trotz dass ihr Vater nun da war - alleine und auf sich gestellt. Das tat mir in der Seele weh und eines Tages sprach ich mit den Kindern darüber. Ich sagte ihnen, dass ich nach einem halben Jahr nicht mehr willens war, ihrem Vater weiter Unterschlupf zu gewähren und dass ich ihm nun ein Ultimatum stellen würde: er habe nochmals 3 Monate Zeit, sich nach einer Arbeit und einer Wohnung zu suchen. Sollte er bis zum Ablauf des Ultimatums nicht ausgezogen sein, würde ich seine Taschen vor die Türe stellen und ihn regelrecht rauswerfen. Ich erklärte ihnen aber auch gleich, dass ihr Vater dadurch nicht gleich obdachlos werden würde, er könne dann ja bei seinen Eltern oder einem seiner Geschwister unterkommen. Die Kinder verstanden meine Argumentation. Marco war sogar absolut dafür, er wollte endlich sein Zimmer wieder zurück haben, Bianca war eher noch etwas hin- und hergerissen.
Am nächsten Tag setzte ich Italo von meinem Ultimatum in Kenntnis. Zuerst lächelte er nur, doch als ich ihm sagte, dass die Kinder das ebenso wollten wie ich, da wurde ihm klar, dass es mir bitterernst damit war.
Tiefbeleidigt zog er sich in sein Zimmer zurück. Es schien so, als ob er wieder zu uns zurück kehren wollte und eigentlich nie vorhatte, wieder auszuziehen und sich eine Arbeit und eine eigene Wohnung zu suchen. Vielleicht hatte er vor, sein Leben bei uns als Hausmann zu fristen. Und nun ging diese Rechnung nicht auf.
Fakt ist, dass er sich von diesem Moment intensiver um eine Arbeit bemühte... und siehe da... innerhalb von 8 Wochen hatte er eine Stelle bei einem Holzgroßhändler gefunden. Ich konnte ein bisschen durchatmen. Nun musste es in den folgenden 4 Wochen noch mit der Wohnung klappen, das war deutlich schwieriger, er hatte schon viele Absagen bekommen, das würde knapp werden.
Irgendwann sprach ich beiläufig mit einer Kollegin darüber, dass mein Ex-Mann eine Wohnung suchte. Sie schaute mich an und sagte, dass sie im Moment eine große 3-Zimmer-Wohnung zu vermieten hätte, gerade eben erst sei ihr Mieter ausgezogen. Italo könne sich gerne die Wohnung anschauen. Was für ein Zufall und was für eine Fügung, dachte ich. Sehr erfreut erzählte ich Italo davon. Dessen Freude hielt sich in Grenzen, bedeutete es doch für ihn, dass er nun tatsächlich ausziehen musste. Außerdem war die Wohnung mit ihren knapp 100 m² sehr groß und auch zu teuer für ihn, wenn er auch noch Unterhalt für die Kinder zahlen würde, dann würde kaum noch was für ihn selbst zum Leben übrig bleiben. Ich sah meine Felle schon davon schwimmen und sagte ihm, dass ich für die Dauer, in der er in dieser Wohnung wohnen würde, auf den Unterhalt der Kinder verzichten würde. Ich hätte alles getan, nur damit er endlich wieder auszieht. Da war der Verzicht auf den Unterhalt ein vergleichsweise kleines Opfer.
Die Kollegin und Italo wurden sich einig. Er konnte sogar sofort einziehen! Was für ein Glück. So freudig habe ich noch nie bei einem Umzug mitgeholfen. Endlich würden die Kinder und ich unsere kleine Wohnung wieder für uns haben. Endlich würde jedes Kind wieder ein eigenes Zimmer haben. Endlich würden wir uns wieder frei und ungezwungen in unseren eigenen 4 Wänden bewegen können. Die Erleichterung war unendlich groß... auch bei den Kindern.
Italo war nicht glücklich darüber, das konnte man deutlich sehen und spüren. Aber das war mir egal. Er war selbst für sein Leben verantwortlich. Ich hatte ihm genug geholfen, in Deutschland wieder Fuß zu fassen. Ich verzichtete sogar auf Unterhalt, damit er alleine auf 100 m² wohnen konnte, während die Kinder und ich uns 55m² zu dritt teilten. Mehr konnte und wollte ich nicht tun, er musste selbst tätig werden.
Bei uns trat wieder Ruhe ein. Der Alltag unserer Ein-Eltern-Familie hatte uns wieder. Nie hätte ich davor gedacht, dass ich einmal so froh sein würde, alleine mit meinen Kindern durchs Leben zu gehen. Doch ich war es und genoss meine wiedergewonnene Freiheit.
Nun war Italo in der Nähe und eigentlich hätten wir die obligatorischen 2-wöchigen Papa-Wochenenden einführen können. Doch es war kein Interesse seinerseits da und das spürten die Kinder. So kam es, dass auch sie nicht danach fragten. Sie sahen ihren Vater nun öfters bei den vielen Familienfesten in ihrer großen italienischen Familie. Doch eine Regelmäßigkeit beim Kontakt zu ihrem Vater kam nie zustande. Ich fand es schade, dass sich Italo nun auch nicht weiter um seine Kinder kümmerte, obwohl er sie jetzt in seiner Nähe hatte.
So lebten wir weiter wie wenn Italo immer noch in Italien leben würde. Ich bekam keinerlei Unterstützung durch ihn. Er lebte seinen Film, wir unseren.
Alles ging seinen gewohnten Gang.
Einige Monate nach Italo's Auszug dann erneut ein tiefer Einschnitt in unserem Leben: der überraschende Tod meines Vaters im Alter von nur 55 Jahren erschütterte mein Leben das meiner Kinder.