It's not the money, stupid! - Wie politische Beeinflussung wirklich funktioniert

Von Oeffingerfreidenker
Von Stefan Sasse


Spenden von Unternehmen an Politiker gehören verboten, Großspenden sowieso. Es kann ja schließlich nicht sein, dass das Land einfach an den meistbietenden verkauft wird. Und wer sieht die Zusammenhänge nicht? Die Unternehmen spenden Geld an die politischen Kampagnen, und die Gesetzgebung ist in ihrem Sinne. So oder ähnlich denkt eine gewaltige Mehrheit der Bevölkerung. Oder ist irgendwem der Zusammenhang zwischen der Parteispende Mövenpicks und der Mehrwertsteuersenkung entgangen? Also! Eine aktuelle gemeinsame Studie der Washington University und Georgetown University hat sich aber mit dem Emailverkehr von Enron zwischen 1999 und 2001 beschäftigt und kommt zu einigen überraschenden Schlüssen. Wer bis hierher gelesen hat dürfte wenig überrascht sein, dass Enron nicht durch Parteispenden seinen Einfluss in Washington bekommen hat. 
Zuerst einmal die blanken Fakten: untersucht wurden 250.000 Emails, die grob in die Kategorie "Lobbyismus" eingeordnet werden können. Davon bestanden - rund 15% inhaltlich aus so genanntem "legislative contacting", das heißt dem direkten Kontakt mit Abgeordneten und Beamten mit der Bitte um konkrete Gesetzänderungen,  - rund 66% aus dem Erwerb von Informationen, sowohl sachlicher als legislativer Art,  - 9% in einer formellen Teilnahme am legislativen Prozess, das heißt also dem Nutzen "offizieller" Kanäle, wie sie theoretisch jedem Bürger offenstehen, in diesem Fall vor allem in offiziellen Stellungnahmen zu Dokumenten oder Anhörungen,  - rund 8% mit dem Versuch, die öffentliche Meinung zu dominieren und - 1,1% aus Emails, die sich in irgendeiner Form mit Parteispenden, Wahlen und Wahlkämpfen befassten. 

Graphik von der Washington Post


Der geringe Aufwand, den Enron für Wahlkampfaufwendungen betrieb, überrascht. Da die Politiker in diesen Phasen am verwundbarsten und auf Spenden angewiesen sind, müsste man hier besonders viel Aktivität erwarten, um den Hebel anzusetzen. Das ist aber nicht der Fall; wie die Autoren der Studie beschreiben ist ein guter Teil dieser Kommunikation zudem nur reaktiv, das heißt auf Anfragen von Politikern um Spenden, entstanden. Zwar weisen die Autoren zu Recht daraufhin, dass diese Zahlen alle der Zeit vor der umstrittenen Citizen-United-Entscheidung des Supreme Court entstammen und die inzwischen wesentlich laxere Gesetzeslage heute mehr Möglichkeiten der finanziellen Beeinflussung eröffnen würde; der ungeheur geringe Anteil der Wahlspendenkommunikation überrascht aber trotzdem. 
Für viele Verschwörungstheoretiker ist das natürlich schade, wobei sie ohnehin die Sorte sind, die sich nicht sonderlich von Fakten beeindrucken lässt. Wenn aber nicht das Geld die Mittel der Beeinflussung für Großunternehmen wie Enron schafft, die ohne Zweifel gewaltigen Einfluss auf politische Entscheidungen haben, was ist es dann? Ein Blick auf die Auswertungen zeigt das eigentlich ziemlich deutlich. 
Extrem viel Aufwand geht in das Sammeln von Informationen. Das heißt, Enron war wahrscheinlich wesentlich besser über aktuelle legislative Prozesse informiert als die Abgeordneten selbst. Dieses Informationsgefälle wird häufig beklagt; in der EU etwa, wo auf einen Beamten zwanzig Lobbyisten kommen, ist es noch wesentlich krasser als im "Beltway" von Washington, D.C. Es sorgt für die ungesunde Situation, dass die beste Informationsquelle zu einem Gesetz derjenige ist, der davon betroffen ist. Es ist, als ob die Regierung Hartz-IV-Empfänger als Hauptinformationsquellen zur Sozialgesetzgebung heranziehen müsste. Dieser Informationsvorsprung kann in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden und stellt die Basis für die gesamte andere politische Arbeit dar. Es überrascht daher nicht, dass der Umfang mit rund 66% mit Abstand am höchsten ist.
Der nächstgrößere Batzen an Kommunikation wendet das so gewonnene Wissen direkt an: es sind die 15% "legislative contacting". Die Enron-Mitarbeiter haben die Informationen direkt ins politische System eingespeist, entweder an die Abgeordneten selbst oder an deren Mitarbeiter (jeweils rund 50% der Kommunikation). Hier dürfte Exponenten der üblichen Korruptionstheorien besonders der hohe Anteil an Kommunikation mit der Verwaltung überraschen. Enron hat sich gar nicht erst damit aufgehalten, die abstimmenden Abgeordneten selbst zu bearbeiten, sondern sich an die entsprechenden Referenten und Berater gewandt. Das ist natürlich clever, denn die Abgeordneten sind auch sachverständige Beratung dringend angewiesen. Das politische System aber hat nicht die Ressourcen, um diese Beratung selbst in dem Umfang zu leisten, wie die Industrie das kann, weswegen der Einfluss der Enron-Informationen geradezu natürlich wirkt. Sie haben die Expertise und stellen sie kostenlos zur Verfügung, häufig genug in Form fertiger Gesetzesentwürfe. 
Die knapp 9% der "offiziellen" Kommunikation sind teils als Schaufenster-Politik zu werten; sie sind notwendige administrative Prozesse, die den Regeln des Washingtoner Politikbetriebs gehorchen. Anfragen müssen beantwortet, Studien bestärkt oder angezweifelt und Anhörungen beeinflusst werden. Gleichzeitig stellen diese Statements natürlich den Grundstock dar, der einem recherchierenden Journalisten in die Hände fällt - zitierfähiges Material, sozusagen, aber wahrscheinlich dröge wie ein Kropf. 
Bleiben die 8% Meinungsführerschaft. Hierunter fallen weniger offizielle Stellungnahmen als das Einwirken auf Journalisten und wiederum die Abgeordneten selbst, dieses Mal aber mit dem Ziel, eine positive öffentliche Meinung zu erzeugen. Man will schließlich nicht als "böses" Unternehmen gelten, denn ein solches hat es beim Lobbying schwerer und ist leichter zu bekämpfen.
Offensichtlich spielt das direkte Kaufen von Abgeordneten eine weniger starke Rolle, als man sich das gemeinhin vorstellt. Stattdessen erfolgt die Beeinflussung neben dem zweifellos vorhandenen Geld und seinem Machthebel über Framing und das Bereitstellen von Informationen. Gesetze, die ausschließlich die Spendenregeln betreffen, müssen dagegen fast zwangsläufig ins Leere laufen und die in sie gesetzten  Erwartungen enttäuschen, denn den Unternehmen steht ein ganzer Beeinflussungs-Werkzeugkasten zur Verfügung.
Diese Nachricht ist zum einen gut, weil sie gegen eine allgemeine Verschwörung des Kapitals gegen den Rest der Welt spricht und zeigt, dass es weniger auf das Geld als auf die Vernetzung ankommt, was auch weniger finanzstarken Interessengruppen wie Gewerkschaften den Weg öffnet. Sie ist zum anderen schlecht, weil natürlich die Qualität des Netzes von der eigenen Bedeutung abhängt und vom materiellen Aufwand für seine Erhaltung, und weil es wesentlich schwieriger demokratisch zu kontrollieren ist. Wie immer ist die Sache wesentlich komplexer, als es an der Oberfläche zuerst scheinen mag, und das Zurückziehen auf schlichte Korruptions-Verschwörungstheorien hilft dem Verständnis und damit adäquaten Gegenmaßnahmen kaum weiter.