İstanbul ist die Stadt, in der man erst mal zwei Stunden im Stau steht, bevor man richtig angekommen ist.
İstanbul ist die Stadt, in der man andauernd zufaellig irgendjemandem begegnet. Als ich am Taksim aus dem Bus steige, laeuft mir ein alter Bekannter über den Weg, einen neuen Bekannten treffe ich zweimal in Kadıköy, und als ich eine Strasse in Nişantaşı entlanglaufe, kommt Melanie aus einer Apotheke. Sie hat mit mir vor zwei Jahren hier an der Marmara-Universitaet studiert, genauso wie Bettina, mit der sie zufaellig zum Mittagessen verabredet ist. Beide leben jetzt seit einem Jahr hier, Melanie ist verheiratet, Bettina hat einen türkischen Freund.
"Hier Arbeit zu finden ist eigentlich nicht schwer," sagt Bettina, "das ist halt alles sehr dynamisch, innerhalb von ein paar Tagen kann man einen Job haben, oder ihn auch gleich wieder verlieren." Ich werde ein bisschen neidisch, weil ich seit einer Woche mit meinem gepimpten Lebenslauf von Sprachschule zu Sprachschule renne und bisher nur vage und miserabel bezahlte Angebote bekommen habe. "Die Löhne hier sind nicht gut, das ist eben Türkei," meint Bettina. "Aber Deinen Starbuck's-Kaffee hin und wieder wirst Du Dir schon noch leisten können."
İstanbul ist Starbuck's-Land: Die Kette hat alle Konkurrenten eindeutig geschlagen. Auf eine Filiale von "Gloria Jean's" kommen drei bis vier Starbuck's. Selbst das türkische Pendant "Kahve Dünyası" kann nicht mithalten, obwohl die Türken sonst eher einer buy local- Mentalitaet anhaengen. Überall auf der Welt werden Starbuck's-Filialen geschlossen, sehe ich in den Nachrichten, aber in İstanbul werden kontinuierlich neue eröffnet. Ich finde das gut, denn in der Türkei bin ich Starbuck's-Fan. Nirgends sonst bekommt man hier einen so guten Cappuccino, nirgends sonst hört man hier so schöne Weihnachtsmusik.
İstanbul ist die Stadt, in der ich mir meinen Weg im Slalom bahnen muss. Die Menschen gehen langsam, beanspruchen dabei den ganzen Gehsteig und bleiben auch gerne einfach mal stehen. Ich hasse es, langsam zu gehen.
Die Stadt hat sich in den letzten zwei Jahren ziemlich stark veraendert. Ich finde, sie hat sich kommerzialisiert, und Ekrem stimmt mir zu. Die Laeden sind schicker und moderner geworden, es werden immer neue und immer grössere Einkaufszentren gebaut, und Geld und Konsum werden immer wichtiger. "Vielleicht kommt ja auch was Positives dabei rum", meint Ekrem, "für kulturelle Einrichtungen und grassroot-Organisationen."
İstanbul ist die Stadt, in der ich alle 30 Minuten von Europa nach Asien und wieder zurück fahren kann. Die Menschen stehen dicht an dicht im Wartehaeuschen und starren ungeduldig die Fahrgaeste an, die eben von der anderen Seite herüber gekommen sind und das Schiff verlassen. Zusammengepfercht wie Vieh trampeln sie unruhig auf der Stelle, schnauben missbilligend und drehen die Köpfe hin und her. Dann öffnen sich die Glastüren der Faehrstation und alle draengen nach draussen, rammen sich die Ellbogen in die Rippen und schieben sich an Bord. Die alten Leute und die Kinder gehen über nasse Holzrampen auf das Schiff, alle anderen springen einfach vom Kai hinüber. Es gibt Legenden von spektakulaeren Unfaellen, bei denen einer ins Wasser gefallen und von der Faehre zerquetscht worden sein soll. Mindestens einer pro Jahr, wenn nicht drei.
"In İstanbul ist das Leben ein dauernder Kampf," sagt Oliver, der an einer deutschen Schule unterrichtet. "Die Leute nehmen viel weniger Rücksicht aufeinander." Ich gebe ihm nur bedingt recht. Zwar wurschtelt sich jeder so für sich selbst irgendwie so durch und versucht, das Beste für sich rauszuschlagen, aber wenn man ernsthaft in Schwierigkeiten ist, findet man immer eine Menge Leute, die einem irgendwie weiterhelfen wollen, und manchmal sogar können. Ich habe bereits Hilfe angeboten bekommen, ohne überhaupt ein Problem zu haben. Von Volkan zum Beispiel, den ich über eine gemeinsame Freundin kenne. Er bietet mir an, dass ich jederzeit bei ihnen in der WG unterkommen und mich an ihn wenden kann, wenn was ist: "Leben in İstanbul ist schwierig", sagt er.
İstanbul ist die Stadt der Staedte, schreibt Janina in einer E-Mail. Vor zwei Jahren haette ich ihr vorbehaltlos zugestimmt. Die Stadt ist schön und aufregend, aber auch anstrengend und laut. Ich denke mir jeden Tag mehrmals, dass es aetzend ist, in einer Grossstadt zu leben. Der Verkehr nervt, die Leute draengeln und wenn man am Abend heim kommt, stinkt man. Vielleicht fahre ich lieber in eine kleinere Stadt, denke ich, zum Beispiel nach Diyarbakır im Südosten, da hat's mir ziemlich gut gefallen. Hier ist es eine einzige Rattenrennerei, allen geht's nur um's Geld, alles bleibt im Vagen. Letztlich ist das aber auch nur ein naiver Glaube, dass mit dem Grad der Armut auch die Authentizitaet zunimmt.
İstanbul ist die Stadt, in der ich vorerst mal bleibe. Unverhofft habe ich auf einmal drei Jobangebote und kann eine ordentliche Bezahlung aushandeln: Mein Stundenlohn liegt knapp 30% über dem, was mir zu Anfang angeboten wurde. Reisekosten nach Deutschland werden mir anteilig erstattet und zum Vertragsende erhalte ich einen Bonus. Allerdings habe ich keinen offiziellen Status in der Türkei und muss alle drei Monate ausreisen, um mein Touristenvisum zu verlaengern. Wenn also etwas schief laeuft, ist der Arbeitsvertrag auch nicht mehr als ein Stück Papier. "Arbeitsverhaeltnisse laufen hier eigentlich immer auf Vertrauensbasis," sagt Nick's Freundin Simin. "Aber solange Du Deinen Job ordentlich machst, wirst Du keine Probleme haben." - "Und, unterschreibst Du den Vertrag?", fragt Nick. - "Ich denke schon," sage ich, "ist schon ein gutes Angebot." - Nick grinst: "Letztendlich arbeitest Du halt auch nur für Geld, hm?"