Istanbul

An dieser Stelle sollte eigentlich ein Reisebericht stehen. Es ist kaum zwei Wochen her, dass wir mit einem Tee in der Hand bei sommerlichen Temperaturen in einer Stadt gesessen sind, die lebendiger ist als alle anderen, die ich bislang erlebt habe. Aber angesichts der aktuellen Entwicklungen scheint es nicht nur unangemessen, sondern völlig irreal, über die Erlebnisse dort zu schreiben. Über eine Stadt, in der mir erst in der dritten Nacht aufgefallen ist, dass es keine Straßenbeleuchtung gibt und auch nicht geben muss, da auch spät am Abend noch überall Geschäfte, Restaurants und Teestuben geöffnet sind, die Straßen voller Menschen. Überall Straßenmusiker, Händler, Menschen die Wasserpfeife rauchen und Backgammon spielen. Stände vollbeladen mit Gemüse, Obst, Fisch, Süßwaren, Gewürzen. Schwimmende Fischbratereien im Hafen. Das Rufen des Imam von einer der über 3000 Moscheen der Stadt. Das Leben eben. Alltag.

Wie passen dazu die Bilder von Schlachten in genau diesen Straßen? Ich kenne die Häuser auf den Bildern, finde Cafés, in denen wir gesessen sind. Jetzt sind die Rollläden heruntergelassen, Barrikaden sind aufgebaut, Schwaden von Tränengas vernebeln die Sicht, die Straßen sind übersäht mit den Kartuschen der Gasgewehre. Auf den besonders bedrückenden Bildern bekommen Menschen Tränengas direkt ins Gesicht gesprüht, werden von Wasserwerfern von der Straße gefegt, von schwer gerüsteten Polizisten verprügelt oder blutüberströmt davongetragen.

Inzwischen sind es über 900 Verhaftungen, die Zahlen über Verletzte und sogar Tote schwanken. Und das alles, weil Menschen friedlich für den Erhalt einer Grünfläche protestiert haben, die am zentralen Taksim-Platz einem Einkaufszentrum weichen soll?

Man kann nur hoffen, dass das Aufbegehren der Zivilgesellschaft, das Ministerpräsident Erdoğan losgetreten hat, Erfolge zeigt und solche „Politik“ in Zukunft unmöglich macht. Damit es sich wenigstens gelohnt hat. Ich wünsche den Menschen dort viel Kraft und Erfolg. Und nicht zuletzt die Rückkehr eines normalen Lebens, so wie wir es in wunderbaren Tagen dort erleben durften.

PS: Wer der Ansicht ist, dass die Türkei eben ein rückständiges Land ist, und man sich über solche Geschehnisse bei einer religiösen Partei wie der AKP nicht wundern braucht, der sei nicht nur an Stuttgart 21, Dresden oder die sich in letzter Zeit häufenden Übergriffe bayerischer Beamter erinnert, sondern sollte sich auch mal die aktuellen Vorgänge im Bundesinnenministerium anschauen.


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