Frieder Otto Wolf und Michael Schmidt-Salomon
von Frieder-Otto Wolf
Im katholischen Frankreich lässt sich – nicht zuletzt auch angesichts der gegenwärtigen Mobilisierung homophober Ressentiments einer katholischen Minderheit – das einfacher zeigen, als in den bi-konfessionell organisierten deutschen Ländern seit dem Augsburger Konfessionsfrieden: Der seit Beginn des 20. Jahrhunderts durchgesetzte Zustand der Institutionalisierung von Weltanschauungen und ihrer Förderung konnte treffend als ein Zustand der “Katho-Laizität” beschrieben werden. Das ist ein Zustand, in dem die offiziell vollzogene Laizität der Republik faktisch zusammenfiel mit einer Anerkennung und auch relevanten Förderung der gewichtigen Rolle der katholischen Kirche im gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Hierfür standen exemplarisch die großzügig geförderten katholischen Privatschulen, die in der Reproduktion der gesellschaftlichen Eliten eine Schlüsselrolle gespielt haben. Damit beherrschte etwa die katholische Kirche unangefochten die in Frankreich herrschende Sexualmoral – in der Heuchelei und Libertinage durchaus auch einen ganz anderen Stellenwert hatten, als dies in den protestantisch geprägten Ländern der Fall war. Dies hat sich seit den 1970er Jahren verschoben: Unter dem Druck der weltweiten kulturrevolutionären Jugendbewegung der 1960er Jahre einerseits und der muslimischen Immigration andererseits ist diese “nicht öffentliche” Hegemonie der katholischen Kirche im französischen Alltagsleben heute faktisch verschwunden – so sehr es auch noch Reste davon gibt.
In Deutschland hat sich – verstärkt durch die Herstellung des ersten saturierten deutschen Staates, durch welchen die Stellung der ohnehin schwächer christianisierten norddeutschen Länder durch den Beitritt von weiteren Ländern gestärkt worden ist, in denen die Staatsmacht versucht hatte, den Einfluss der christlichen Konfessionen zurückzudrängen – eine in ihren Kernpunkten vergleichbare Entwicklung vollzogen: Deutlich sichtbar wurde die muslimische Immigration, die es auch hier erzwungen hat, eine nicht christliche und nicht kirchlich verfasste Religion ernsthaft rechtlich und politisch zur Kenntnis zu nehmen. Weniger zur Kenntnis genommen wurde, dass die Zahl der Konfessionsfreien stetig zunahm – und zwar keineswegs nur durch das Gewicht der ostdeutschen Bundesländer. Die staatlichen und öffentlichen Reaktionen auf diese Entwicklungen sind zwar erst noch dabei, sich von anfänglichen Illusionen zu verabschieden, wie etwa der Illusion, dass die Entchristianisierung der Alltagskultur in den ostdeutschen Bundesländern und in Berlin mit dem sowjetisch inspirierten Regime einfach verfliegt oder zumindest einer erneuten Missionierung weichen würde, oder auch der, dass sich “die Muslime” in kirchenanalogen Strukturen erfassen und damit in das System des Staatskirchenrechts einfügen lassen würden. Sie haben aber doch damit begonnen, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die weltanschauungspolitische Lage in Deutschland mit vergleichbarer Radikalität verändert hat, wie dies in Frankreich der Fall ist: Nur, dass das abzulösende System nicht von offizieller Laizität plus kultureller Hegemonie der katholischen Kirche im Alltagsleben bestimmt ist, sondern von jener berühmten “hinkenden Trennung von Staat und Kirche”, die es den deutschen Staaten möglich gemacht hatte, mit beiden Konfessionen institutionell eng zu kooperieren, ohne die jeweilige Minderheitskonfession zu diskriminieren – mit ein paar mühsam erstrittenen Nebeneffekten der Gewährung von analogen Möglichkeiten auch für Freidenkergruppen und für jüdische Gemeinden.
Dieses System des “Staatskirchenrechts” – in dem seit der Weimarer Verfassung auch die als nicht religiös unterstellten “Weltanschauungsgemeinschaften” auf einer sehr grundsätzlichen Ebene das Recht auf Gleichbehandlung zugesprochen bekamen – ist durch die Umbrüche seit den 1970er Jahren in seinen Grundlagen so weit erschüttert, dass es unvermeidlich erscheint, es als ein System des “Weltanschauungsgemeinschaftsrechts” zu erneuern. Erst vor diesem Hintergrund wäre es dann möglich, sinnvoll über die Bestimmung grundlegender Begriffe zu diskutieren, also über die Begriffe von Religion und Weltanschauung, über die Freiheit beider – und auch darüber, auf welchen besonderen Schutz vor Beleidigungen und Angriffen die Anhängerinnen und Anhänger einer Religion oder einer Weltanschauung ein Recht haben.
Ich denke, der neuen weltanschaulichen Lage würde es gut entsprechen, wenn wir “Religion” als eine besondere Art von “Weltanschauung” fassen würden. “Weltanschauung” wiederum sollte als etwas verstanden werden, das immer auch auf einer “Auffassung” beruht, die nicht konklusiv aus dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis (und seiner Zusammenfassung in einem “Weltbild”) abgeleitet werden kann, sondern unvermeidlich ein Moment der Entscheidung enthält – auch darüber, welchen Stellenwert diesem Stand der Wissenschaft für die eigene Orientierung und Lebensweise gegeben werden soll. Damit ist noch kein inhaltlicher Begriff von Religion gewonnen, denn auf einen religionswissenschaftlich konsensualen und gesicherten Begriff der Religion können wir nicht zurückgreifen. Aber vielleicht können wir doch alle diejenigen Weltanschauungen als “religiös” begreifen, die eine vorgängige, vorgegebene “Anbindung” dieser Orientierung und Lebensweise akzeptieren, sei es nun eine Tradition, ein Guru, eine sonstige vergleichbare Autorität, eine Offenbarung oder auch eine heilige Schrift. Und alle diejenigen Weltanschauungen wiederum als “nicht religiös”, welche die eigene Orientierung und Lebensweise ihrer Anhängerinnen und Anhänger ohne eine derartige Anbindung zu gewinnen suchen und auch gewinnen, auch wenn sie sich im Sinne Ralf Dahrendorfs dessen bewusst sind, dass sie nicht völlig “bindungslos” zu leben vermögen.
Wenn wir diese elementaren und sicherlich noch nicht zureichenden Begriffsbestimmungen akzeptieren, so folgt daraus immerhin schon zweierlei: Erstens, dass die Religionsfreiheit ein Sonderfall der Weltanschauungsfreiheit ist, und zweitens, dass jede wirkliche Religionsfreiheit die differentia specifica der Religion adäquat berücksichtigen muss, nämlich die Tatsache der religiösen Bindung. Aus Ersteren ergibt sich, dass sich keine generelle Privilegierung von Religionen aus dem Prinzip der Religionsfreiheit begründen lässt – einfach weil jede derartige Privilegierung besonderer Religionen die Freiheit anderer Religionen und Weltanschauungen verletzen würde; aus Letzteren ergibt sich, dass die für eine Religion konstitutive Bindung als solche respektiert werden muss – auch von denen, die sie selber nicht akzeptieren.
Diese Respektierung ohne eigene Akzeptanz hat allerdings eine wichtige Voraussetzung: Dass die entsprechende Religion vollständig darauf verzichtet, nicht freiwillige Formen ihrer Ausbreitung auf andere Menschen als Subjekte der Weltanschauungsfreiheit einzusetzen. Eine Religion, die es unternimmt, Andersgläubige auch durch Druck oder Bestechung zu ihren Anhängern zu machen, verdient darin keinen Respekt; allenfalls kann sie, wenn es denn nicht möglich oder nicht sinnvoll ist, sie darin zu bekämpfen, vorläufig als ein nicht zu veränderndes Übel “toleriert” werden. Zusammenfassend bedeutet das, dass Religion oder auch Weltanschauung nicht als solche unantastbar sein kann. Unantastbar ist die Menschenwürde: Artikel 2 des Grundgesetzes führt nicht ohne guten Grund direkt im Anschluss an Artikel 1 das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, in der das Selbstbestimmungsrecht des Individuums enthalten ist, sowie die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person auf. Auch “Religionen” (oder auch “Weltanschauungen”), das heißt im Klartext die sie vertretenden Individuen oder Organisationen, müssen geradezu spätestens dann angetastet werden, wenn sie der Menschenwürde des Individuums zuwiderhandeln.
Dies geschieht überall dort, wo Vertreter einer Religion Gewalt anwenden oder Menschen durch sozialen Druck die Möglichkeit vorzuenthalten versuchen, sich in ihrem Leben und Denken “anders” und selbstbestimmt zu orientieren. Auch entsprechende Arrangements und Institutionalisierungen sind in dieser Hinsicht zu kritisieren und müssen in einem modernen Rechtsstaat überwunden werden: Hierher gehört auch der in vielen Teilen Deutschlands noch alternativlose Religionsunterricht oder etwa Bestimmungen des kirchlichen Arbeitsrechts, durch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in persönlicher Moral und religiösen Entscheidungen auch dort, wo sie nicht als weltanschauliche Repräsentanten tätig sind, an die Weltanschauung ihrer Träger gebunden werden. Generell ist jede Lebenssituation zu kritisieren – und ihre rechtlichen und institutionellen Grundlagen entsprechend zu verändern – in der ein Zwang besteht, seine sexuelle Identität zu verheimlichen, oder in der es keine freiwillige Option ist, bestimmte religiöse Zeichen zu tragen, oder wenn beispielsweise ein “normales”, selbstbestimmtes Leben nur für diejenigen möglich ist, die sich zu einer bestimmten Interpretation einer bestimmten Religion oder Weltanschauungsgemeinschaft bekennen. Dabei ist durchaus zwischen dem zu unterscheiden, was die Anhänger einer Religion voneinander abverlangen, und dem, was sie von Menschen einfordern, die ihrer Religion nicht anhängen – ganz gleich ob noch nicht oder nicht mehr. Interne Praktiken von religiösen Gemeinschaften – vom Zölibat über das Tragen eines Kopftuchs bis hin zu Demutsgesten im Gebet – können zwar auch mit guten Gründen kritisiert werden, sie sind deswegen aber nicht durch einen modernen Rechtsstaat als Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden.
Dem liegt zugrunde, dass in einem modernen Staat, der die Menschenrechte schützt, Religionen und Weltanschauungen – so sehr sie sich intern auch als wichtige Wahrheiten begreifen mögen – sich nach außen, das heißt gegenüber anderen, immer nur als frei anzunehmende Angebote verhalten dürfen, die sich zu anderen Angeboten von Orientierung und gegebenenfalls von Ritualen immer nur in einem fairen Wettbewerb verstehen dürfen. Mit anderen Worten: Wer einer Religion oder einer Weltanschauungsgemeinschaft angehört, muss zwar immer – in lebensweltlich realistischen Formen – die Möglichkeit haben, seine Mitgliedschaft aufzukündigen; solange er oder sie dies allerdings nicht tut, ist es keine Verletzung seiner Selbstbestimmung, wenn die Gemeinschaft, zu der er gehört, von ihm die Erfüllung bestimmter Pflichten verlangt. Dabei können derartige Pflichten allerdings nur soweit reichen, wie sie auch in anderen Bereichen des kollektiven Lebens legitimerweise übernommen werden könnten. Religionsfreiheit bleibt durch die Menschenrechte begrenzt, und Religionskritik muss bei aller Schärfe den inneren Kern der religiösen Bindung als solchen akzeptieren. Das ist auf diesem Feld von Religionen und Weltanschauungen offenbar das Einfache, das so schwer zu machen ist.
Frieder Otto Wolf
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/de/
Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-nd/3.0/de/ Autor: Frieder Otto Wolf für bpb.de