... ist nach dem Spiel

Ich bekenne mich zum Fußball. Was ich schließlich am sichersten über Moral und Verantwortung weiß, verdanke ich dem Fußball, meinte Camus mal. So weit würde ich nicht gehen wollen - aber dass sich jemand wie Camus offenbar mit dem Fußball befasst hat, ihn philosophiert, durchdacht und Zeit seines Lebens verfolgt hat, unterstreicht doch, dass es sich mitnichten um einen Sport dumpfer Gemüter handelt. Aber wie ich mich zum Fußball bekenne, so sehr bekenne ich mich auch dazu, mit dem allgemeinen Unverstand, der sich kürzlich wieder über dieses Land unter dem Label "Fußballbegeisterung" ausbreitete, nichts zu tun haben zu wollen. Nenne man es elitär, wenn man mag - nur ist dieses Populärgefußballere, das Geschrei und Geschminke, sich in Trikots zwängen und Ahnungslosigkeiten als patriotische Leidenschaft verkaufen zu wollen, nichts was mit meinem Verständnis von Fußball auch nur peripher zu tun haben könnte.
Die Geschichte aller großen Turniere ist eine Geschichte der DFB-Auswahl. Dieser Eindruck drängt sich mir hierzulande immer wieder auf. Für mich sind diese Turniere allerdings viel mehr. Sie sind die Geschichte von Mentalitäten, Stilen, Spielsystemen und deren Revolution oder Scheitern, von goldenen oder silbrigen Jahrgängen und deren blechernen Nachfolgegenerationen. Und sie sind immer auch die Geschichte von nostalgischen Rückschauen, von zukünftigen Entwicklungen des Fußballs, von dessen Gegenwartszustand - sie beinhalten alle Zeitformen synchron. Und es ist die Wiederholung einer Geschichte, die mehr als hundert Jahre alt ist: das Lavieren zwischen Schönheit und Effektivität, zwischen Ästhetik und Resultat, zwischen Ballzauber und Ergebnisorientierung.

Weiteres Bekenntnis wäre hiermit, dass ich dem Ästhetizismus zugewandt bin. Gewinnen ist sekundär - der Torabschluss ist nicht das Ziel, er ist die Krönung einer Stafette. Ich erinnere mich, wie ich als Junge auf dem Bolzplatz stand, Schnörkelchen spielte, Querpässe, eine Hacke zum Nebenmann, ein Lupfer über den Gegner - das Tor meist zugänglich, aber ich schoss nicht, es war mir zu unschön, so schroff abzuschließen, zu plump und geistlos. Gut, ich war kein begnadeter Techniker, meine Lupfer blieben zu oft am Gegner hängen, aber das Bisschen, das ich konnte, wollte ich einsetzen. Ein Mitspieler rüffelte mich einst dafür, zog ein Dribbling an, setzte sich gegen zwei Mann durch, schoss hart - Tor! Unhaltbar für den Tormann, für den Jungen, der zu klein und zu mollig war, um das Geschoss abzuwehren. So macht man das, sagte er zu mir. Ja, sagte ich, aber so bereitet es mir keine Freude.
Das Tiqui-taca der spanischen Auswahl sprach mich von Anbeginn an, weil es war und ist, wie ich Fußball fühlte und fühle. Die Loslösung vom letzten verbliebenen Stürmer, um de iure ein 4-6-0 zu spielen, bestätigt den mir immanenten Schnörkel, das formvollendete Spiel, das nur zum Torerfolg führen soll, wenn der Spielzug originell und attraktiv war. Der "falsche Neuner" schwebte mir ungedacht schon im Kopf umher, als ich noch Jugendlicher war - für was einen Stürmer vergeuden, wenn das Herausspielen von Torraumszenen aus dem Mittelfeld heraus geschieht; für was einen Stürmer statisch in ein Konzept pressen, wenn beim Erspielen von Chancen dieses Mittelfeld nachrücken kann und damit die Aufgaben des Stürmers übernimmt? Als sich die Zeitungen kürzlich über den fehlenden Stürmer der spanischen Mannschaft ausließen, offenbarten sie damit die Inflexibilität ihrer Auffassung von Taktik, ihr starres Denken und Positionieren - sie hängen einem Fußball nach, wie er nicht mehr gespielt werden sollte.
Schüsse aus zweiter Reihe sind manchmal probat, ich gebe das ja zu. Aber sie sind ungeschlachter Fußball, der mich nicht anspricht. Dass die spanische Selección nun seit Jahren mehr oder minder attraktiven und erfolgreichen Fußball spielt, das ist die eigentliche Sensation. Nicht die Titel - sondern dass es zu solchen reicht, obwohl das Schönspiel existiert. Das war ja durchaus nicht immer so der Fall. Ungarn war nie Weltmeister, spielte aber vor langer Zeit unter Puskás den geschmackvollsten Fußball - die Holländer mit Cruyff waren eine der besten Auswahlen, die bei einem großen Turnier je aufliefen; gewonnen haben sie 1974 nicht, gespielt haben sie aber äußerst ansehnlich.
Die Prollkultur, die der Fußball in den letzten Jahren am Spielfeldrand entwickelte, weiß davon nichts. Es handelt sich um Schreihälse, die Biertrinken mit dem Spiel verwechseln und Fanatismus mit Fachverstand. Und es sind Wiedergänger des Erfolges - lieber vier Tore mit seichtem Spiel als ein Tor und kunstvoller Umgang mit der Kugel, ist deren Devise. Je höher der Sieg, desto besser wird wohl das Spiel gewesen sein, schlussfolgern sie. Und nur der Sieg ist deren Ziel. Jonathan Wilson schreibt, dass schon vor gut hundert Jahren Stimmen laut wurden, die beklagten, der Ergebnisfußball würde den ästhetischen Sport vertreiben. Man sprach sich gar für eine Wertung aus, die das Schönspiel bewerten sollte und nicht nur den Erfolg lediglich durch Erzielung von Toren sícherstellte - aus dem Bauch heraus würde ich dem beipflichten wollen, wenn da nicht die Problematik der Umsetzung wäre. Punktrichter mit Täfelchen am Spielfeldrand? Das wäre ja auch nicht gerade fesselnd.
Hier ist Fußball für mich, was das Leben ist. Man liest ja oft, Fußball sei ein Abbild des Lebens, wer beispielsweise hart kämpfe, erziele irgendwann Erfolg - das ist großer Unsinn; ein Sportplatz ist kein Alltagsleben, die Kategorien Einsatzbereitschaft und Kampf sind keine, die man im Alltag umsetzt, wie man das zuweilen auf dem Rasen tut. Im Alltag ist man von Faktoren abhängig, auf die man wenig, manchmal gar keinen Einfluss hat. Doch diese Diskrepanz zwischen Schönheit und Erfolg, die mich der Ästhethik verpflichtet, obwohl ich weiß, dass hieraus Niederlagen resultieren können, weil Schönheit nicht immer effektiv ist, parodiert das Leben. Denn Beharrlichkeit ist eben nicht immer der Weg des Erfolges, sondern oftmals auch ein Trampelpfad ins Verlieren - aber wenn man meint, der sei richtig, dann muss man ihn gehen.
Und noch eine Parabel auf das reale Leben scheint der moderne Fußball herzugeben. Jedenfalls der moderne Fußball, wie man ihn besonders hier in Deutschland begreift: Effektivität und Ergebnisorientiertheit sind die absoluten Kriterien - man kann schlecht spielen und gewinnen und wird gelobt; man kann gut spielen und verlieren und wird der Kritik ausgesetzt. Wie der Neoliberalismus lehrt man schnodderige Effektivität und schielt auf Zahlen, lediglich auf Zahlen - das ist kein schöner Sport, das ist ökonomischer. Und der Fußball ist die Speerspitze dieses Denkens - obzwar man dieses spanische Tiqui-taca zwar nett findet, wenn es nicht so kompliziert, so verwinkelt und Umwege in Kauf nehmend wäre. Effektiver sollte er sein, glaubt man - drei Pässe und Torabschluss; schnelles Führungstor und dann Sicherheit nach Hinten; Fußball nach Risikoberechnung und Kosten- und Wirksamkeitsanalyse. Ich denke hierbei immer ans Zubereiten von Frigadellen. Man brät Zwiebeln an, vermengt sie mit Petersilie, gibt getunktes Brot hinzu, Gewürze, Ei, Senf, vermengt es mit der Hand... kurz, man tut viele Schritte, die so unglaublich kompliziert sind im Angesicht von TK-Burgern. Wenn sie ihr effektives Spiel, den schnellen Abschluss und dann die Sicherung des Resultates als die Krone der fußballerischen Schöpfung feiern, dann klingt das für mich wie: Kauft doch TK-Burger! Das geht schneller! Ist effektiver! Dass die nicht schmecken, ist egal, Hauptsache die Backen sind voll - Hauptsache man hat gewonnen...
Fußball ist nicht, sich Fähnchen an das Auto zu zwicken. Nicht Trikotierung. Nicht kollektiver Rausch auf Plätzen. Das ist emotionaler Schnickschnack einer Gesellschaft, die sich anstelle der Ratio der Emotion verschrieben hat, wie sie sich andererseits an die Effektivität anstelle der Ästhetik kuschelt. Fußball ist philosophisch, ist Mentalitätsfrage, ist in großen Momenten Kunst. Jetzt, da ich diese Zeilen zu formulieren trachte, ist gewiss, dass die spanische Auswahl die Europameisterschaft abermals gewonnen hat. "Spaniens Fußball ist auf einer Ebene angekommen, der man nicht mehr allein mit den Maßstäben des Sports gerecht werden kann. Die kollektive und individuelle Perfektion des Spiels ist gelungen", schreibt Christian Eichler hierzu. Die Schönheit des Spiels hat in dieser Ära des Fußballs die Dominanz über Ergebnisspielerei eingenommen. Ich neige nicht dazu, mich darüber zu freuen - aber es ist eine Genugtuung. Nicht weil es die Mannschaft Spaniens ist, sondern weil es die Mannschaft der Ästhetik ist. Das Finale spielte man nicht im Namen jener westeuropäischen Nation - man spielte es übernational, gewann es für die Eleganz, die Grazie, für die Demut vor dem Augenblick, da sich die Lücke in der Abwehr öffnet, ein Spieler einen Hauch von Möglichkeit wittert. Ich freute mich für die Auswahl der RFEF (Real Federación Española de Fútbol) - nicht für den einen Teil meiner Herkunft; nicht für meines Vaters Heimat. Ich freute mich, weil es die Ästhetik ihres Spiels war, die mich emotional machte. Während sich der öffentlich befeuerte gesellschaftliche Fußballgeist an der Ästhetik der Emotion labt, erzeugt sich bei mir ästhetische Emotionalität. Fußball ist nicht, nicht für mich, auch nicht in einem transzendenten Verständnis, was sich hier so massenhaft aufschaukelt, so medial inszeniert. Es ist nicht, den Torjubel zu bewundern, die Tränen zu erhaschen, den Rausch zu genießen, trikotierte Legionen abzulichten, Fahnen zu wedeln, Farben hochzuhalten - es ist die Liebe zur schnörkeligen Perfektion, zur verspielten Pirouette und dem anerkennenden Applaus für die Kunstfertigkeit eines Virtuosen in kurzen Hosen. Es ist Formgefühl - nicht das Gefühl, in eine rauschhafte Form gepresst zu werden, wie das vor Leinwänden zu oft, vielleicht so gut wie immer geschieht.
Wie hätte ich mich damals, als Griechenland mit seinem Anti-Fußball Europameister wurde, freuen sollen? Über was hätte ich mich freuen sollen? Über Ergebnisse, die sich jene Mannschaft ermauert hat? Anerkennung natürlich - jeder nach seinen Mitteln, jeder wie er kann. Aber honorieren muß ich das nicht. Wie sie damals alle Griechenland-Freude wurden, für eine Woche genauso leidenschaftlich, wie sie heute Griechenland-Feinde sind. Ich schüttelte darüber den Kopf, wie ich ihn über die Spielweise schüttelte. 2004 gewann nicht der Fußball - es gewann das Ergebnis, die sture Kick auf Ergebnisfixiertheit.

Fußball ist nicht, sich Produkte aus Prospekten auszuwählen, die mit Bällen verziert sind, um am Hype teilhaben zu können. Ich bilde mir ein, und vielleicht ist es nur Schönfärberei, vielleicht nur romantischer Blick zurück, dass in jener Zeit, da das Publikum mit der Alltagskleidung ins Stadion pilgerte, der Fachverstand noch ausgewiesener war. Ich bilde mir ein, dass es förderlich für den Sachverstand wäre, wenn weniger Trikots, weniger Devotionalia im weiten Rund zu erblicken wären - weniger durch Wappen und Farben getrübte Blicke, weniger Konditionierung auf Zusammengehörigkeit, die in Rausch versetzen, in Versumpfen in der Glut der Massenekstase stoßen. Fußball ist nicht das Sujet eines kollektiven Zusammenseins - wer das so versteht, versteht das Spiel nicht. Mich haben Stadionbesuche stets fasziniert; die Stimmung ist nicht über das Fernsehen transportierbar. Gleichwohl hat es mich nur in Jugendjahren kollektiviert - später war ich im Stadion, war vereinzelt in der Masse; das plumpe Gekeife, der schreiende Unverstand, der Spiele nicht lesen kann, Taktiken nicht begreift, der aber um so lauter wiehert, hat mich abgestoßen. Ich ging als Anhänger meiner Jugendliebe ins Stadion, zu den Münchner Löwen - ich freute mich darüber, als sie Ende der Neunzigerjahre relativ schönen Fußball spielten. Für mein Fußballverständnis damals war es ein schöner Kick - auch Geschmäcker wandeln sich beim Fußball; was einer Gesellschaft heute als guter Fußball vorkommt, kann morgen total altbacken und langweilig sein. Der Zeitgeist spielt auch Fußball. Als die Löwen verloren, da war nicht Trauer, nicht Wut, nicht Sündenbocksuche angesagt. Ich verstand die Niederlage taktisch. Ich war insofern nicht Fan, der ja begrifflich von Fanatismus kommt - ich war auch als Besucher der Münchner Löwen, die mir Herzensangelegenheit waren und auf deren Ergebnisse ich auch heute noch aus der Ferne luge, stets distanziert genug, nicht um jeden Preis für die Löwen sein zu können. Da rannten sie gut sichtbar ins Abseits - und die Masse schimpfte. Da foulte ein Löwe seinen Gegner, der Schiedrichter pfiff - und die Masse schrie und drohte mit der Faust. Mit diesem Fanatismus wollte ich nichts gemein haben.
Fußball ist stets Momentaufnahme - der Betrachter glorreicher Teams sollte das beachten und vom Augenblick entrücken. In Stunden des Ruhmes neigen Mannschaften dazu, sich für unschlagbar zu halten. Beckenbauer meinte 1990, dass die DFB-Elf über Jahre nicht zu bezwingen sei - heute fragen die Medien, ob Spanien unbesiegbar geworden sei. Fußball gleicht hier der Jagd nach dem Jungbrunnen, einer Suche nach dem ewigen Leben. Aber niemand lebt ewig - und niemand ist unschlagbar. Es gibt die Suche nach Perfektion - aber es gibt keine Perfektion. Das ist der Reiz des Spieles. Sich von diesen Allmachtsemotionen nach dem Erfolg nicht einlullen zu lassen, wäre die Verpflichtung derjenigen, die sich dem Fußball, nicht aber dem Fanatismus verschrieben haben. Fußballfans witterten die Medien kürzlich wieder allerorten - sie schalteten zu den Fans auf Marktplätzen, sie baten Fußballfans um Meinungen. Aber Fußballfans gibt es nur wenige - das Gros ist Fan einer Nation; ist Fan im Sieg seiner Nation; möchte diesen Sieg um jeden Preis, ohne ästhetisches Gefühl, ohne das Empfinden, einem Kunststil beigewohnt zu sein. Für sie ist Fußball keine Philosophie, keine Liebe zur Erkenntnis, sondern eher etwas wie das Gegenteil.
Ich kann meine Jugend in Fußballspiele unterteilen, in Ligenzugehörigkeit und Tabellenplätze der Löwen; was Nick Hornby in Fever Pitch tut, nämlich das Leben eines Mannes in Spiele seines FC Arsenal zu unterteilen, ist gar nicht besonders originell. Ich tat das ja auch - andere sicherlich ebenso. Ich hörte aber damit auf, als mir auffiel, dass Fußball trotz allem, obgleich ich dieses Spiel als philosophische Möglichkeit betrachte, nichts mit dem Leben durchschnittlicher Leute zu tun hat. Es ist eben nur eine Nebensache - und würde die Menge diese Nebensache mit etwas mehr Würde, weniger Fanatismus und gesteigertem Sachverstand angehen, dann könnte es schon eine verdammt schöne Nebensache sein. Ob es jedoch für die schönste Nebensache reicht, wage ich dann doch zu bezweifeln...
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