Ist es der Tod, der dem menschlichen Leben seinen Sinn gibt?

WEIMAR. (fgw) „Der Tod ist gewiss, unge­wiss seine Stunde“, weiß der Volksmund zu berich­ten. Der Tod ist es, der dem Leben Sinn gibt. Weil aber kei­ner von uns weiß, wann es soweit ist, hängt er wie ein Damoklesschwert über unse­ren Köpfen. Wie wäre es nun, wenn wir wüß­ten, WANN wir ster­ben? Würde das dem Tod sei­nen Schrecken neh­men?

Ist es der Tod, der dem menschlichen Leben seinen Sinn gibt?von Ilka Lohmann

Ja, meint Ivo W. Greiter in sei­nem Buch – er nennt es ein Szenario – „Endtag”. Es beginnt ein wenig wie Science Fiction. Die Wissenschaft hat her­aus­ge­fun­den, wie man – mit­tels eines ein­fa­chen Bluttests – die Lebensspanne bestim­men kann, die einem Menschen zuge­mes­sen ist. Was zunächst eine Option ist, wird zunächst in Öster­reich – der Autor ist Öster­rei­cher – und spä­ter in der gan­zen Europäischen Union Gesetz. Obligatorisch wird nun bei jedem Neugeborenen nach der Geburt – intra-uterin ist dies nicht mög­lich – des­sen Lebenskapazität bestimmt. Mit weit­rei­chen­den Folgen für die Gesellschaft.

Nun beginnt Greiter zu mut­ma­ßen. In vie­len Episoden berich­tet er von Menschen, die aus dem Leben das Beste machte, die ihre Angelegen recht­zei­tig regeln oder noch mal kurz vor Schluß ein Verbrechen bege­hen. Lange und kurze Lebensspannen pral­len auf ein­an­der. Menschen, die nur 30 wer­den, fin­den keine Partner mehr. Alle Fragen wer­den gestellt: Wie sieht es aus mit der Altersversorgung? Was ist mit der beruf­li­chen Beförderung von Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben? Wie sieht es aus mit Kandidaten für poli­ti­sche Ämter? …

Der Autor ver­mit­telt den Eindruck, als würde erst die Gewißheit der Todesstunde das Leben wirk­lich bedeut­sam machen. Er will uns sagen, wir – die wir nicht wis­sen, wann wir ster­ben wer­den – leb­ten in den Tag hin­ein, wür­den unsere Zeit nicht nut­zen, wür­den unser Leben ver­geu­den, weil wir nur daran den­ken wür­den, daß wir noch unend­lich viel Zeit hät­ten und viel­leicht unsterb­lich wären.

Die fik­ti­ven Menschen in sei­nem Buch aber sind ganz anders. Sie sind abge­klärt, zufrie­den. Sie fin­den sich auch mit einem kur­zen Leben ab und ster­ben fried­lich und beglückt im Kreis ihrer Freunde und ihrer Familie.

Die Idee hin­ter die­sem Buch mag sehr inter­es­sant sein, aber das, was Herr Greiter dar­aus gemacht hat, ist sehr frag­wür­dig.

Nicht die Gewißheit der Todesstunde macht das Leben wert­voll, son­dern ihre Ungewißheit. Es ist das Gefühl, daß wir im Augenblick unsterb­lich sind, daß unse­rem Leben immer wie­der diese Tiefe gibt, die es haben sollte. Die Tiefe ist es, auf des ankommt.

Greiter ist wohl­mei­nend. Doch da endet es lei­der auch bereits. Nicht die Ungewißheit ist es, die den Tod schreck­lich macht, son­dern seine Unvermeidlichkeit. Natürlich kann es das Denken ver­än­dern, wenn man genau um seine Todesstunde weiß. Aber kann man das?

Greiter legt die Tode durch Unfälle, Mord und Suizide auf drei Prozent aller Todesfälle, und ich glaube, da liegt ein Grunddenkfehler sei­nes Ansatzes. Man muß nur an die Zahl der Verkehrstoten den­ken. Man muß daran den­ken, daß Suizid die Todesursache Nummer 1 bei Adoleszenten ist. Und was ist mit den Menschen, die bei­spiels­weise durch Anorexia Nervosa umkom­men und ver­hun­gern? Ohne Energiezufuhr kann kein Körper leben.

Außerdem sind alle Menschen in sei­nen Szenarien intel­li­gent, gebil­det und gehö­ren der geho­be­nen Mittelschicht an, die es sich leis­ten kann, ihre letz­ten Lebensmonate an der Riviera zu ver­brin­gen oder auf einer Kreuzfahrt durch die Südsee zu ver­schei­den.

Manche Beispiele offen­ba­ren auch eine frag­wür­dige Moral. Da ist zum Beispiel ein Ehepaar, das 135.000 Euro braucht, um seine Pension auf­zu­bes­sern. 120.000 Euro haben sie durch eine Erbschaft erwor­ben, und als sie den Rest zusam­men haben, legen sie die Summe auf die hohe Kante und ver­pras­sen den Rest, denn sie sind der Meinung, ihre Kinder soll­ten sich nicht auf eine Erbschaft ver­las­sen und statt des­sen ihren Wohlstand selbst erar­bei­ten. Ich glaube, man nennt so etwas Bigotterie.

Ansonsten hat man den Eindruck, als würde in Greiters Welt nur noch gestor­ben. Alle sind der­art auf ihren Tod fixiert, daß sie kaum mehr dazu kom­men, zu leben.

Greiters Ansatz ist durch­aus inter­es­sant. Und seine Botschaft ist durch­aus wich­tig: Fürchtet den Tod nicht! Besser wäre aber: Lebt!

Der Sinn des Lebens liegt im Augenblick. Im Jetzt. Ich bin da. Das ist der Sinn des Lebens. Ich bin nicht mehr da. Das ist der Sinn des Todes.

Ivo W. Greiter: ENDTAG. Wenn jeder weiss, wann er stirbt – Ein Szenario. 208 S. geb. TYROLIA-VERLAG. Innsbruck & Wien 2012. 17,95 Euro. ISBN 978-3-7022-3204-7

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar] Ist es der Tod, der dem menschlichen Leben seinen Sinn gibt?

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