Artikel erschien ursprünglich auf Deliberation Daily.
Je mehr man über die Hintergründe der Tötungen von Michael Brown und nun auch Kajieme Powell, eines 25jährigen vermutlich geisteskranken Afroamerikaners, in Ferguson und St. Louis erfährt, desto mehr drängt sich der Eindruck auf, dass das Problem in der Tat systemisch ist - wie ich bereits in meinem Artikel zu Ferguson thematisierte. Darin hatte ich den Fokus auf die militärische Bewaffnung der Polizei und ihr damit verbundenes Auftreten, den inhärenten Rassismus der amerikanischen Gesellschaft und die desolate wirtschaftliche Lage der (schwarzen) amerikanischen Unterschicht gelegt. Doch es kommen noch mehr Faktoren zu diesem toxischen Cocktail hinzu. Es geht auch um den Rassismus, vor allem aber um die Polizei und ihre Abläufe selbst, die geradezu perversen Anreizen unterliegen.
Zuerst noch einmal zum Thema Rassismus. Das Problem ist wesentlich ausgeprägter als ursprünglich angenommen und zeigt, wie ein desillusionierter Post zeigt, der optimistischen Vorstellung eines "post-rassistischen" Amerika den Mittelfinger. Es bekommt offensichtlich, dass diese Vorstellung eines Amerika, in dem Rasse keine Rolle mehr spielt in etwa so haltbar ist wie die Annahme, dass die Gleichstellung der Frauen mit ihrer rechtlichen Gleichberechtigung erreicht wäre. Lang eingeübte Verhaltens- und Denkmuster lassen sich so leicht nicht beseitigen, und die schmeichelnde Vorstellung, man habe das jetzt überwunden, war nur eine Fantasie der Weißen, eine Selbst-Segregation, die damit keine Notwendigkeit eines schlechten Gewissens mehr haben mussten. Entsprechend aggressiv reagieren sie auch auf die Zerstörung dieses Traumbildes, wie aktuelle Meinungsumfragen zeigen:
- Auf die Frage, ob die Polizei Schwarze generell anders behandle als Weiße, antworten 76% der Schwarzen und nur 40% der Weißen mit Ja
- Auf die Frage, ob die Frage der Rasse bei der Bewertung der Ereignisse zu viel gewichtet wird, antworten 80% der Schwarzen mit Nein, aber nur 37% der Weißen
- Nach den Problemen ihrer Gemeinde gefragt, gaben die Schwarzen zu jeweils rund 20% mehr an, die entsprechenden Probleme zu haben als Weiße (Gefragt wurde: Mangel an guten Jobs, Mangel an Möglichkeiten für junge Leute, Mangel an Geldmitteln für die öffentlichen Schulen, Verbrechen, Rassenspannungen)
Weiße sehen die Ereignisse offensichtlich völlig anders als Schwarze. Sie sind wesentlich empfänglicher für die Idee, dass Michael Brown ein Einzelfall sei und zudem mitschuldig sei, sie wollen die Unruhen beendet sehen, und sie erkennen in der Frage der Hautfarbe kein Problem, dessen man sich stellen müsse. Bei den Schwarzen ist es genau umgekehrt. Es ist so, als ob beide Bevölkerungsgruppen in völlig unterschiedlichen Ländern lebten. Angesichts dieser Zahlen verwundert es auch nicht, dass eine praktisch komplett weiße Polizeitruppe vollkommen unangemessen gegen die Proteste der Schwarzen vorgeht.
Doch die Polizeigewalt beruht noch auf ganz anderen, institutionellen Faktoren. Der Tod Kajieme Powells etwa wirft entsprechend viele Fragen auf. So ist die Version, die die Polizei erzählt - von einem aggressiv auftretenden Mann, der mit erhobenem Messer auf sie losgeht und auf eine Entfernung von nur einem Meter erschossen wird - durch das mittlerweile veröffentlichte Video überhaupt nicht gedeckt. Powell war mehr als drei Meter entfernt, und seine Hände waren an der Seite seines Körpers. Die beiden Polizisten feuern neun Schüsse in ihn, auch, als er bereits am Boden ist.
Das Verstörende an diesem Vorfall aber ist, dass sich die St. Louis Polizei keiner Schuld bewusst ist. Sie gab das Video auch für die Veröffentlichung frei. Der sofortige Einsatz von tödlicher Gewalt, wo ein Taserschuss es auch getan hätte, stellt nach ihren Richtlinien überhaupt kein Problem dar; allein 2012 wurden 426 Menschen von der Polizei erschossen. Dazu passt, dass es erschreckend wenig Informationen über die Tötungen durch Polizisten in den USA generell gibt. Das statistische Material ist voller Lücken, und zentrale Informationen werden gar nicht erst erhoben.
Doch das verstörendste Detail überhaupt dürfte folgende Statistik für Ferguson sein: im Durchschnitt ergingen 2012 drei Haftbefehle und 321$ in Geldbußen an jeden Haushalt. Noch einmal: im Durchschnitt drei Haftbefehle und 321$ PRO HAUSHALT UND JAHR. Da wir bereits gehört haben, dass Schwarze in einem Verhältnis von 9:1 gegenüber Weißen verhaftet werden, dürften die realen Erfahrungen für die schwarze Bevölkerung noch wesentlich höher liegen.
Die Geldbußen und Strafbefehle hängen fast alle mit Geschwindigkeitsübertretungen, Straßenüberquerungen an der falschen Stelle und ähnlichen vernachlässigbaren Vergehen zusammen. Wenn man, sagen wir, ein weißes Mitglied der Mittelschicht ist, ist das auch alles kein echtes Problem. Für 50-100$ erhält man einen Anwalt, und für eine Zahlung von 150-200$ wird das ganze außergerichtlich geregelt. Hat man aber, sagen wir, als schwarzes Mitglied der Unterschicht, dieses Geld nicht, so wird man verhaftet, vor Gericht gestellt, kann die Strafe aller Wahrscheinlichkeit nach nicht bezahlen, wird ins Gefängnis gesteckt und/oder der Führerschein entzogen, was zum Verlust des Jobs führt, etc. - Marginal Revolution bezeichnet dieses System als die Rückkehr des Schuldturms, und darauf läuft es auch hinaus. Die Stadt vergibt ungeheuer viele Strafzettel und sperrt Bürger für die geringsten Vergehen ein. Warum? Weil es sich lohnt.
Und hier kommen wir zum perversesten Anreiz überhaupt. Strafzahlungen dieser Art stellen die zweithöchste Einkommensquelle für Ferguson dar. Die Polizei ist umso besser finanziert, je mehr Strafzettel sie ausstellt. Das heißt, dass die Stadtverwaltung und die Polizei ein Interesse daran haben, möglichst viele Strafbefehle auszustellen und dafür zu sorgen, dass möglichst viele Bürger davon betroffen sind. Kein Wunder begreift sich die Polizei als Gegner der Bürger - sie ist es. Und ebenso kein Wunder, dass eine rein weiße Polizei hauptsächlich schwarze Bürger anhält und dieser modernen Straßenräuberei unterwirft. Man scheißt nicht, wo man isst, das ist vollkommen normal. Und, wie es die Amerikaner sagen, "to add insult to injury", wenn die Menschen dann vor Gericht gezerrt werden, schließen die Gerichte gerne verfassungswidrig ihre Türen für alle nicht direkt Beteiligten, etwa die Kinder eines Angeklagten. Die muss man dann in einem Park, auf dem Parkplatz oder bei Freunden lassen - wofür man dann wegen Kindesgefährdung angezeigt wird. Aber da man ja bereits weiß, dass die Beschuldigten sich keinen Anwalt leisten können, besteht für die völlig außer Kontrolle geratene Exekutive hier auch keine Gefahr, sich im Zusammenspiel mit der Judikative zu bereichern. Das ist reine Klassenjustiz.
Wenn man diese Geschichten hört, wenn man diese Zahlen liest, dann verwundert es nicht, dass die Menschen in Ferguson auf die Straße gehen. Es verwundert eher, wie ruhig sie bisher geblieben sind.
Je mehr man über die Hintergründe der Tötungen von Michael Brown und nun auch Kajieme Powell, eines 25jährigen vermutlich geisteskranken Afroamerikaners, in Ferguson und St. Louis erfährt, desto mehr drängt sich der Eindruck auf, dass das Problem in der Tat systemisch ist - wie ich bereits in meinem Artikel zu Ferguson thematisierte. Darin hatte ich den Fokus auf die militärische Bewaffnung der Polizei und ihr damit verbundenes Auftreten, den inhärenten Rassismus der amerikanischen Gesellschaft und die desolate wirtschaftliche Lage der (schwarzen) amerikanischen Unterschicht gelegt. Doch es kommen noch mehr Faktoren zu diesem toxischen Cocktail hinzu. Es geht auch um den Rassismus, vor allem aber um die Polizei und ihre Abläufe selbst, die geradezu perversen Anreizen unterliegen.
Zuerst noch einmal zum Thema Rassismus. Das Problem ist wesentlich ausgeprägter als ursprünglich angenommen und zeigt, wie ein desillusionierter Post zeigt, der optimistischen Vorstellung eines "post-rassistischen" Amerika den Mittelfinger. Es bekommt offensichtlich, dass diese Vorstellung eines Amerika, in dem Rasse keine Rolle mehr spielt in etwa so haltbar ist wie die Annahme, dass die Gleichstellung der Frauen mit ihrer rechtlichen Gleichberechtigung erreicht wäre. Lang eingeübte Verhaltens- und Denkmuster lassen sich so leicht nicht beseitigen, und die schmeichelnde Vorstellung, man habe das jetzt überwunden, war nur eine Fantasie der Weißen, eine Selbst-Segregation, die damit keine Notwendigkeit eines schlechten Gewissens mehr haben mussten. Entsprechend aggressiv reagieren sie auch auf die Zerstörung dieses Traumbildes, wie aktuelle Meinungsumfragen zeigen:
- Auf die Frage, ob die Polizei Schwarze generell anders behandle als Weiße, antworten 76% der Schwarzen und nur 40% der Weißen mit Ja
- Auf die Frage, ob die Frage der Rasse bei der Bewertung der Ereignisse zu viel gewichtet wird, antworten 80% der Schwarzen mit Nein, aber nur 37% der Weißen
- Nach den Problemen ihrer Gemeinde gefragt, gaben die Schwarzen zu jeweils rund 20% mehr an, die entsprechenden Probleme zu haben als Weiße (Gefragt wurde: Mangel an guten Jobs, Mangel an Möglichkeiten für junge Leute, Mangel an Geldmitteln für die öffentlichen Schulen, Verbrechen, Rassenspannungen)
Weiße sehen die Ereignisse offensichtlich völlig anders als Schwarze. Sie sind wesentlich empfänglicher für die Idee, dass Michael Brown ein Einzelfall sei und zudem mitschuldig sei, sie wollen die Unruhen beendet sehen, und sie erkennen in der Frage der Hautfarbe kein Problem, dessen man sich stellen müsse. Bei den Schwarzen ist es genau umgekehrt. Es ist so, als ob beide Bevölkerungsgruppen in völlig unterschiedlichen Ländern lebten. Angesichts dieser Zahlen verwundert es auch nicht, dass eine praktisch komplett weiße Polizeitruppe vollkommen unangemessen gegen die Proteste der Schwarzen vorgeht.
Doch die Polizeigewalt beruht noch auf ganz anderen, institutionellen Faktoren. Der Tod Kajieme Powells etwa wirft entsprechend viele Fragen auf. So ist die Version, die die Polizei erzählt - von einem aggressiv auftretenden Mann, der mit erhobenem Messer auf sie losgeht und auf eine Entfernung von nur einem Meter erschossen wird - durch das mittlerweile veröffentlichte Video überhaupt nicht gedeckt. Powell war mehr als drei Meter entfernt, und seine Hände waren an der Seite seines Körpers. Die beiden Polizisten feuern neun Schüsse in ihn, auch, als er bereits am Boden ist.
Das Verstörende an diesem Vorfall aber ist, dass sich die St. Louis Polizei keiner Schuld bewusst ist. Sie gab das Video auch für die Veröffentlichung frei. Der sofortige Einsatz von tödlicher Gewalt, wo ein Taserschuss es auch getan hätte, stellt nach ihren Richtlinien überhaupt kein Problem dar; allein 2012 wurden 426 Menschen von der Polizei erschossen. Dazu passt, dass es erschreckend wenig Informationen über die Tötungen durch Polizisten in den USA generell gibt. Das statistische Material ist voller Lücken, und zentrale Informationen werden gar nicht erst erhoben.
Doch das verstörendste Detail überhaupt dürfte folgende Statistik für Ferguson sein: im Durchschnitt ergingen 2012 drei Haftbefehle und 321$ in Geldbußen an jeden Haushalt. Noch einmal: im Durchschnitt drei Haftbefehle und 321$ PRO HAUSHALT UND JAHR. Da wir bereits gehört haben, dass Schwarze in einem Verhältnis von 9:1 gegenüber Weißen verhaftet werden, dürften die realen Erfahrungen für die schwarze Bevölkerung noch wesentlich höher liegen.
Die Geldbußen und Strafbefehle hängen fast alle mit Geschwindigkeitsübertretungen, Straßenüberquerungen an der falschen Stelle und ähnlichen vernachlässigbaren Vergehen zusammen. Wenn man, sagen wir, ein weißes Mitglied der Mittelschicht ist, ist das auch alles kein echtes Problem. Für 50-100$ erhält man einen Anwalt, und für eine Zahlung von 150-200$ wird das ganze außergerichtlich geregelt. Hat man aber, sagen wir, als schwarzes Mitglied der Unterschicht, dieses Geld nicht, so wird man verhaftet, vor Gericht gestellt, kann die Strafe aller Wahrscheinlichkeit nach nicht bezahlen, wird ins Gefängnis gesteckt und/oder der Führerschein entzogen, was zum Verlust des Jobs führt, etc. - Marginal Revolution bezeichnet dieses System als die Rückkehr des Schuldturms, und darauf läuft es auch hinaus. Die Stadt vergibt ungeheuer viele Strafzettel und sperrt Bürger für die geringsten Vergehen ein. Warum? Weil es sich lohnt.
Und hier kommen wir zum perversesten Anreiz überhaupt. Strafzahlungen dieser Art stellen die zweithöchste Einkommensquelle für Ferguson dar. Die Polizei ist umso besser finanziert, je mehr Strafzettel sie ausstellt. Das heißt, dass die Stadtverwaltung und die Polizei ein Interesse daran haben, möglichst viele Strafbefehle auszustellen und dafür zu sorgen, dass möglichst viele Bürger davon betroffen sind. Kein Wunder begreift sich die Polizei als Gegner der Bürger - sie ist es. Und ebenso kein Wunder, dass eine rein weiße Polizei hauptsächlich schwarze Bürger anhält und dieser modernen Straßenräuberei unterwirft. Man scheißt nicht, wo man isst, das ist vollkommen normal. Und, wie es die Amerikaner sagen, "to add insult to injury", wenn die Menschen dann vor Gericht gezerrt werden, schließen die Gerichte gerne verfassungswidrig ihre Türen für alle nicht direkt Beteiligten, etwa die Kinder eines Angeklagten. Die muss man dann in einem Park, auf dem Parkplatz oder bei Freunden lassen - wofür man dann wegen Kindesgefährdung angezeigt wird. Aber da man ja bereits weiß, dass die Beschuldigten sich keinen Anwalt leisten können, besteht für die völlig außer Kontrolle geratene Exekutive hier auch keine Gefahr, sich im Zusammenspiel mit der Judikative zu bereichern. Das ist reine Klassenjustiz.
Wenn man diese Geschichten hört, wenn man diese Zahlen liest, dann verwundert es nicht, dass die Menschen in Ferguson auf die Straße gehen. Es verwundert eher, wie ruhig sie bisher geblieben sind.