Ist Deutschland wirklich eine Demokratie? - Teil 2: Die Maschinisten

Im letzten Teil unserer Serie haben wir einen Blick darauf geworfen, wie sich Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit in Deutschland häufig unterscheiden. Nirgendwo wird das so deutlich wie bei der Rolle der Parteien. Das Grundgesetz weist ihnen nur eine Rolle bei der politischen Willensbildung des Volkes zu und verweist ansonsten auf Bundesgesetze. Wir werden uns exemplarisch anschauen, wie das konkret funktioniert, indem wir den Blick darauf legen, wer das eigentlich warum macht und machen darf. Denn das fragliche Bundesgesetz bestimmt die politische Realität in diesem Land entscheiden. Es handelt sich um das Parteiengesetz.

Grundkurs Parteiengesetz

Der Blick in dieses Werk lohnt sich, denn es nimmt seine Aufgabe als "Lückenfüller" für das Grundgesetz mehr als Ernst. Anders als viele andere Bundesgesetze schafft es nicht nur weitere, detaillierte Ausführungen zum grundgesetzlichen Rahmen; es schafft diesen eigentlich vielmehr erst. Das Grundgesetz ließ bewusst eine Lücke. Wo immer aber in der Politik Lücken entstehen, werden diese gefüllt. Und Deutschland, das historisch immer eine Parteiendemokratie war, füllte diese Lücke durch die Parteien. Aber genug der Vorrede. Sehen wir in das Parteiengesetz, Artikel 1:
(1) Die Parteien sind ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie erfüllen mit ihrer freien, dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe. (2) Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden, sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen, die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen. (3) Die Parteien legen ihre Ziele in politischen Programmen nieder. (4) Die Parteien verwenden ihre Mittel ausschließlich für die ihnen nach dem Grundgesetz und diesem Gesetz obliegenden Aufgaben.
Beginnen wir von hinten. Absatz 4 zeigt erneut die (vernünftigerweise) große Stellung, die der Parteifinanzierung zugesprochen wird: Finanzieren dürfen die Parteien nur die ihnen obliegenden Aufgaben; eine paramilitärische Einheit nebenbei zu unterhalten wäre etwa, anders als in der Weimarer Republik, nicht grundgesetzkonform.
Auch wenn man es für irrelevant halten mag; Absatz 3 schreibt den Parteien vor, ein Parteiprogramm aufzuschreiben. Das ist deswegen relevant, weil die NSDAP etwa effektiv keines hatte. Die Partei unterhielt eine Strichliste aus den frühen 1920er Jahren, die sie nie änderte - nicht ohne Grund, denn so gab es für die kritische Öffentlichkeit keine Möglichkeit, sie je wirkungsvoll auf Basis ihrer eigenen Worte bei den Hörnern zu packen. In der BRD ist das nicht möglich.
Absatz 1 schreibt den Parteien offiziell jene zentrale Rolle zu, die das Grundgesetz nicht festzuschreiben bereit war und benennt Ross und Reiter. Dass sie "notwendiger Bestandteil" der verfassungsmäßigen Ordnung sind ist eine deutliche Aufwertung gegenüber der parteienfeindlichen Weimarer Verfassung; dass ihre Tätigkeiten als "öffentliche Aufgabe" definiert werden, hebt sie über alle anderen Körperschaften wie etwa Lobbyvereine oder Ähnliches hinweg. Greenpeace erfüllt keine öffentliche Aufgabe im Sinne des Grundgesetzes. Die FDP tut das sehr wohl. Deswegen gelten für Parteien auch wesentlich strengere Regeln. Diese Ideen gehen zentral auf den Weimarer Politiker und Juristen Gustav Radbruch zurück, der für die theoretischen Grundlagen der Verankerung der Parteien entscheidend war. Die Lektüre seiner Texte sei interessierten Lesern wärmstens anempfohlen.
Und bevor jemand auf die Idee kommt, das für ein nachgeordnetes Gesetzeswerk zu halten: Zumindest meinem (laienhaften) juristischen Verständnis nach definiert das Parteiengesetz sehr wohl den grundgesetzlichen Rahmen, den die Verfassung rekurriert ja explizit auf "das Nähere" regelnde Bundesgesetz. Das liegt hier vor. Ich betone das deswegen, weil die Besseren Demokraten (tm) gerne glauben, der Blick ins Grundgesetz genüge, und aus einer engen Lesart des dort Niedergeschriebenen ihre eigenen Ansichten zu legitimieren suchen. Dem geneigten Leser sollte mittlerweile klar geworden sein, dass dem mitnichten so ist.
Nachdem wir das geklärt haben, schauen wir darauf, welche Aufgabe die Parteien denn in der Verfassungsrealität der Bundesrepublik nun eigentlich einnehmen. Die wirklich relevanten Punkte hierfür stehen in Absatz 2.

Eine zentrale Stellung

Die Bedeutung der Parteien wird sofort ersichtlich, wenn man Absatz 2 durchliest. Es ist ein echter Bandwurmsatz, weswegen wir ihn Stück für Stück auseinander nehmen müssen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob aus der Reihenfolge der hier genannten Aufgaben eine Priorisierung abzulesen ist. Ich werde im Folgenden so tun, als ob nicht.
indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen,
Erster Teilsatz. Die Parteien haben explizit zu versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Sprich: Werbung machen, ihren Spin vertreiben, was man früher als Propaganda bezeichnete. Das ist eine grundgesetzliche Aufgabe. Betont sei es, weil die Besseren Demokraten (tm) gerne irgendwie versuchen, das als anrüchig darzustellen. Warum müssen sie das tun?
Zugegebenermaßen stammt der Absatz noch aus einer Zeit, in der die Medien weniger vielfältig und die Parteien meinungsstärker waren; viel von ihrer Deutungsmacht ist mittlerweile verloren (wer betrachtet schon den Vorwärts noch als relevantes Medium?). Aber die Parteien legitimieren den demokratischen Wettstreit dadurch, dass sie sich ihm stellen. Sie müssen um die Bürger werben. Das gehört zur Demokratie. Entsprechend ist es gut, dass das explizit festgeschrieben ist und nicht wie im Kaiserreich oder Weimar als "Parteienstreit" abqualifiziert wird. Es ist ihre Aufgabe als öffentliche Einrichtungen.
die politische Bildung anregen und vertiefen,
Das mag so manchen Beobachter überraschen, aber die Parteien haben auch eine klare Aufgabenzuweisung für die politische Bildung. Diese wird hauptsächlich über die jeweiligen Jugendorganisationen durchgeführt. An den Bildungseinrichtungen findest sie kaum statt; der Beutelsbacher Konsens verhindert hier allzu starke Einflussnahme, und die Parteien üben hier seit jeher weise Selbstbeschränkung. Es ist eine der vielen Normen, die jederzeit platzen könnten.
die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern,
Hiermit ist eine Vielzahl von Teilnahmemöglichkeiten gemeint. So können Parteien zu Demonstrationen aufrufen, sie können Petitionen initiieren, sie können Bürgerinitiativen unterstützen und, vor allem, die Bürger zum Wahlakt motivieren. Tatsächlich ist der eigentliche Wahlkampf, der die Bürger zur Stimmabgabe (natürlich in ihrem Sinne) bewegen soll, eine Kernaufgabe von Parteien und essenziell für eine gesunde Demokratie, nicht etwa ein widerliches, lärmendes Schauspiel, wie Demokratieverächter und Bessere Demokraten (tm) gleichermaßen meinen.
zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden,
Eine weitere Kernaufgabe der Parteien ist es, politisches Personal zu beschaffen. Hierbei handelt es sich um DAS zentrale Gebiet, auf dem die Besseren Demokraten (tm) irren. Oft hört man die Idee, dass man parteilose Außenseiter in Verantwortungspositionen hieven sollte, die dann (so die Idee) von Parteiloyalitäten entbunden nach Sachlage entscheiden könnten. Expertenregierungen, Technokraten und Ähnliche sind Ausprägungen dieser Idee. Um es klipp und klar zu sagen: Diese Idee ist undemokratisch und demokratiefeindlich.
Es ist ein beständiges Problem der Demokratie, dass es keine Qualifikationen für politische Ämter jenseits des Gewinnens von Wahlen gibt. Das Parteiengesetz (und in extensio das Grundgesetz) weist den Parteien daher die Aufgabe zu, dieses Personal zu qualifizieren und heranzubilden. Diese Aufgabe ist von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. In den Maschinenräumen der Parteien entstehen erst jene Leute, die in der Lage sind, politische Verantwortung zu übernehmen und zu tragen.
Dazu dient etwa die berühmt-berüchtigte und von Besseren Demokraten (tm) viel geschmähte "Ochsentour", bei der sich Politiker vom Ortsverband bis zur Bundesparteispitze vorarbeiten. Diese Ochsentour hat natürlich den Nachteil, dass Sitzfleisch mehr belohnt wird als alles andere. Aber sie führt, wie wir später noch sehen werden, auch zu einer Professionalisierung der Politik, von der die Bundesrepublik im Großen Ganzen stark profitiert hat. Diese Aufgabe der Parteien ist daher für mich so etwas wie der "stille Champion" des Parteiengesetzes.
sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen,
Dieser Satz ist letztlich nur die logische Folge des Vorangegangenen: Wenn man befähigte Bürger heranzieht, muss man diese auch aufstellen. Parteien, die nicht an Wahlen teilnehmen, sind nutzlose Parteien und fungieren nicht als solche im Sinne des Parteiengesetzes. Das wäre im Übrigen für mich auch die juristische Begründung dafür, Spaßparteien wie DIE PARTEI abzulehnen. Ich finde nur wenig so demokratiezersetzend wie diese "Komiker", die einen demokratie-sakralen Prozess für ihre Albernheiten missbrauchen. Auch, wenn sie das natürlich formaljuristisch dürfen. Im Sinne der hier aufgestellten Normen ist es jedenfalls nicht.
auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen,
Dass die Parteien auf die politische Entwicklung im Parlament Einfluss nehmen ist eine wenig spektakuläre Erkenntnis; das haben sie schon immer. Gleichwohl schreibt das Gesetz hier nicht eine Selbstverständlichkeit fest. Einer der Kernkritikpunkte der Besseren Demokraten (tm) ist es, dass die Abgeordneten sich der Partei- bzw. Fraktionsdisziplin beugen und nicht als unabhängige Repräsentanten abstimmen, wie auch immer sie es gerade in Vertretung ihres Wahlkreises oder für "das Volk" für richtig halten. Hier wird explizit vorgeschrieben, dass sie das nicht tun. Stattdessen nehmen die Parteien Einfluss auf sie. Das ist der erste von zahlreichen Stolpersteinen für das "freie" Mandat, dem wir im Rahmen dieser Untersuchung begegnen werden.
Im Kontext der bundesdeutschen Geschichte wesentlich relevanter ist, dass die Parteien auch auf die Regierung Einfluss nehmen. Im Kaiserreich war das unvorstellbar; ein Kanzler Bismarck regierte von Gnaden Seiner Kaiserlichen Majestät, nicht auf Basis von Majoritätsbeschlüssen. In Weimar war die Idee hochumstritten und, wie die Wahl Hindenburgs und das Degenerieren der Republik in die Präsidialkabinette zeigt, ultimativ zulasten von Parteien und Demokratie entschieden. Da besteht ein kausaler Zusammenhang, nicht nur eine Korrelation. Ohne Einfluss der Parteien auch und gerade auf die Regierung haben wir keine Demokratie.
die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen
Auch hier wird explizit im Gesetz legitimiert, was schon immer Alltagshandeln aller politischen Akteure war: zu versuchen, ihre Ziele umzusetzen. Es gibt immer wieder Bessere Demokraten (tm), die der Überzeugung sind, dass der Versuch, das eigene Programm umzusetzen, irgendwie anrüchig sei. Häufig genug sind das genau die Leute, die nach "unabhängigen" Expertenregierungen oder technokratischen Regierungen schreien; nur um dann verwundert festzustellen, dass die ungefähr so viel Legitimation wie Fußpilz besitzen.
für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen.
Diese letzte Bestimmung ist gleichzeitig die ungenaueste. Sie verpflichtet die Parteien letztlich dazu, einen Obrigkeitsstaat zu verhindern. Das wohl formalste Gremium dieses Auftrags ist die Bürgersprechstunde der Abgeordneten, die sie regelmäßig in ihren Wahlkreisen abhalten. Aber auch die rege Teilnahme an Projekten wie Abgeordnetenwatch.de, an den Sozialen Medien, das Abhalten von Pressekonferenzen, das Beantworten von Bürgerbriefen und vieles Mehr gehören dazu. Abgeordnete, die sich dieser Aufgabe entziehen - meist, um zahlreichen gut bezahlten Nebentätigkeiten nachzugehen - erleben durch unsere funktionierenden demokratischen Normen meist einen großen Druck, ihr Mandat aufzugeben. Sigmar Gabriel durfte das etwa jüngst erfahren.

Wahlrecht im Nachgang

Anders als das Parteiengesetz ist das Wahlrecht den meisten Menschen ein Begriff, daher hier nur kurz die Basics, quasi zur Wiederholung. Die Wahlrechte der einzelnen Kommunen, Kreise und Bundesländer unterscheidet sich, weswegen hier nur sehr grob erklärt sein soll, dass üblicherweise Mischsysteme zwischen direktem und Verhältniswahlrecht bestehen.
Für den Bundestag gilt ein zweigeteiltes Wahlrecht.
Für die 299 Wahlkreise wird nach dem Mehrheitswahlrecht jeweils ein Direktkandidat gewählt, der in praktisch allen Fällen einer der Parteien angehört. Die Verfassungstheorie ist hier, dass die WählerInnen in freier Wahl den/die bestgeeigneten KandidatIn wählen, unabhängig von Parteizugehörigkeit, und dass die örtliche Verankerung und die Positionen zu lokalen Themen den Ausschlag geben. In der Verfassungsrealität, das hat die Forschung einhellig bestätigt, weichen die WählerInnen nur in Ausnahmefällen von ihrer Parteipräferenz ab. Am Häufigsten ist Stimmensplitting innerhalb des Lagers: Ein FDP-Wähler wird eher eine CDU-Kandidatin wählen, weil die FDP ohnehin keine Direktmandate gewinnt. Je nach Wahlkreis geraten hier aber Gewissheiten ins Wanken; außer der FDP hat jede Partei Wahlkreise, in denen sie Direktmandate gewinnt.
Weitere 299 Sitze werden über das so genannte Listenwahlrecht (die Zweitstimme) gewählt. Vor den Wahlen stellen die Parteien Listen auf, die Bewerber jeweils bundeslandweit aufreihen. Diese Sitze werden proportional verteilt, weswegen die Zweitstimme eine Verhältniswahl ist. Um Gewinne der Direktmandate auszugleichen, werden die Zweitstimmen mit diesen verrechnet. Da es dadurch zu der absurden Situation kommen kann, dass eine Partei wegen hoher Gewinne bei den Erststimmen bei der Gegenrechnung schlechter gestellt wird, gibt es Ausgleichsmandate, die wiederum die Größe des Bundestags umso mehr aufblähen, je komplexer das System wird. Dafür ist es fair - wie ich finde, sind die zusätzlichen Abgeordneten ein fairer Preis für ein gerechtes Wahlsystem.
Das alles war jetzt viel Theorie. Aber der Blick in das Gesetz lohnt sich, denn darin ist das formative, normative Fundament der BRD festgelegt. "Die Parteien" sind kein Fremdkörper, der sich illegitim der Bundesrepublik bemächtigt hat. Sie sind ein elementarer Bestandteil dieser Republik seit ihrer Gründung. Das Label "Parteiendemokratie" wird zwar nur pejorativ gebraucht. Es ist aber eigentlich eine reine Beschreibung der Realität, ja mehr noch: des intendierten Zustands. Die Bundesrepublik wurde 1949 als Parteiendemokratie konstruiert. Sie funktioniert nicht ohne sie.
In der nächsten Folge schauen wir uns an, wie denn die politische Arbeit aussieht, wenn die Parteimitglieder dann, endlich gewählt, im Parlament sitzen. Wir werfen einen Blick in den Maschinenraum der Politik.

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